Montag, 28. September 2015

Verabredungen auf russische Art

Heute Vormittag standen plötzlich zwei junge Damen mit einer leckeren, fast nur aus Zucker, Sahne und Schokolade bestehenden Torte in der Hand in meinem Büro. Die eine davon kam mir irgendwie bekannt vor. Ich überlegte kurz, und dann fiel es mir ein: es war die Zugbegleiterin Tujana aus dem Nachbarwaggon meiner Reise von Moskau nach Ulan-Ude. Ich hatte bei ihr Pantoffeln gekauft und ihr erzählt, wo ich arbeiten werde, und sie meinte damals: dann komme ich Dich mal besuchen.
Wir unterhielten uns eine Weile und überlegten dann, uns nochmal am Nachmittag in der Stadt zu treffen. Wie wäre es um 16 Uhr am Theater, schlug ich vor. Ja, wahrscheinlich 16 Uhr, meinte Tujana. Lass uns in ein paar Stunden telefonieren, dann schauen wir.
Sich verabreden in Russland - das findet entweder nicht statt und ist ersetzt durch erfrischendes Spontan-Erscheinen, oder es funktioniert anders als in Deutschland. Man einigt sich nicht einfach auf eine Zeit und einen Ort und geht dann dorthin. Stunde und Treffpunkt sind zunächst eher als Idee im Raum schwebend, verdichten sich immer mehr in einer Reihe von kurzen Telefonaten, je näher der anvisierte Moment rückt, und erst kurz vorher legt man sich genau fest.
Zum Beispiel so:

(Montag:)
- Lass uns mal wieder treffen! Jetzt in der Woche habe ich keine Zeit, wie wäre es am Wochenende? Vielleicht am Samstag?
- Ja, gute Idee! Wir telefonieren dann nochmal!
- Super! Dann bis bald!

(Freitag:)
- Wie geht’s dir? Sehen wir uns morgen?
- Ja klar! Vielleicht so am Nachmittag?
- Ja, Nachmittag klingt gut. Dann ruf ich morgen nochmal an! Bei Dir an der Haltestelle, und dann gehen wir irgendwo was trinken?
- Schön! Wahrscheinlich dann bis morgen! Genau, an meiner Haltestelle! Wir telefonieren!

(Samstag 11 Uhr)
- Hallo! Sehen wir uns heute? Also, 14 Uhr würde mir passen!
- Ja, ich hätte eigentlich jetzt gleich Zeit. Wahrscheinlich so in einer halben Stunde, dann gehen wir vorher noch was essen?
- Gut, bis gleich! Wir telefonieren nochmal!

(Samstag 11:30 Uhr)
- Ich stehe jetzt an der Haltestelle, und du?
- Ich bin noch am anderen Ende der Stadt im Marktzentrum, kannst Du nicht hierher kommen? Lass Dir Zeit, ich brauche noch zwei Stunden zum Einkaufen!
- Gut, wohin genau im Marktzentrum soll ich kommen?
- Wahrscheinlich am Haupteingang! Komm erstmal her, dann telefonieren wir nochmal!
(usw.)

Ich lief mit den beiden Damen durch die Stadt und ließ mir etwas zu ihrer Arbeit als Zugbegleiter erzählen. Tujana ist Studentin am Ökonomischen Institut, geht aber nicht zu den Lehrveranstaltungen, sondern arbeitet bei der Russischen Eisenbahn: 4 Tage Hinfahrt nach Moskau, 8 Stunden Standzeit, 4 Tage Rückfahrt nach Ulan-Ude, 10 Tage Pause. Im Plazkartnyj-Wagen, der günstigsten Wagenklasse, arbeitet sie am liebsten, da sind die Passagiere nicht so nörgelig. Zwei Zugbegleiter sind immer zusammen in einem Wagen und wechseln sich in 12-Stunden-Schichten ab.
Der berühmte russische Schriftsteller Anton Tschechov war einmal auf der Durchreise in Ulan-Ude und hat ein paar nette Worte über die Stadt geschrieben. In der Fußgängerzone wurde ihm ein Denkmal gesetzt, neben dem ich mich von Tujana fotografieren ließ, bevor wir uns verabschiedeten. Dann ging ich nachhause, um ihre Torte zu essen. Morgen fährt sie nach Moskau, und ich – mit einem anderen Zug – auf eine kleine Dienstreise nach Novosibirsk: abends einsteigen, morgens aufwachen, Tee trinken, lesen, über die Landschaft und das Leben sinnieren, noch einmal schlafen, aufwachen, Tee trinken, und hopps – schon am Ziel.