Donnerstag, 31. Oktober 2019

Jakutsk


Eines Abends besteige ich in Ulan-Ude ein kleines Propellerflugzeug des kanadischen Herstellers Bombardier. Mein Platz ist etwa in der Mitte der nur zwölf Sitzreihen am Fenster unter dem Flügel. Neben mir sind die Räder und, etwas weiter vorn, ein vom Scheinwerfer angestrahltes Propellerblatt, das sich nach dem Anspringen der Motoren in einen Lichtkreis verwandelt und nach dem Aufstieg in die sibirische Nacht gänzlich unsichtbar wird. Drei Stunden später und anderthalb tausend Kilometer weiter nordöstlich landen wir in Jakutsk. Zwei kleine jakutische Deutsch-Studentinnen holen mich vom Flughafen ab und bringen mich ins Wohnheim.
Jakutsk unterscheidet sich von anderen mir bekannten russischen Großstädten in drei Punkten. Aufgrund des Dauerfrostbodens verlaufen alle Fernwärme-Heizungsrohre überirdisch. Wie ein immer präsentes Skelett verlaufen sie entlang der Plattenbauten, Fußwege und Straßen, mal direkt auf der Erde, mal hoch oben auf Betonpfeilern, hier ohne Isolierung, dort eingepackt in von weißem Tuch umhüllten Schaumstoff. Außerdem stehen alle Häuser auf Stelzen, sichtbaren oder unter einer Verkleidung verborgenen. Eingänge sind deshalb nie zu ebener Erde, sondern ein, zwei Meter oberhalb durch eine Außentreppe zu erreichen. Und, ein dritter wichtiger Unterschied: Jakutsk hat keinen Bahnhof. Es ist die größte russische Stadt, die nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossen ist.
Durch Sibirien verlaufen drei große Bahnlinien: die populäre Transsibirische Eisenbahn, die den Baikalsee südlich umrundet, unweit der chinesischen Grenze weitergeht und in Wladiwostok endet. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich davon die BAM, die Baikal-Amur-Magistrale, errichtet durch unwegsames Niemandsland in der Hoffnung auf eine nachfolgende Erschließung des Rohstoffreichtums und als Alternative zur Transsib im Falle einer Zuspitzung des früheren Konfliktes mit China, sollte die Grenzregion plötzlich zum Frontgebiet werden. Erlebte die Transsibirische Eisenbahn ihre Eröffnung bereits vor über hundert Jahren, so wurde die BAM erst in den Achtzigern mithilfe von enthusiastischen Arbeitskräften aus dem sozialistischen Ausland fertiggestellt. Das dritte und jüngste Bahnprojekt ist die AJAM, die Amur-Jakutische Magistrale, die nicht von West nach Ost, sondern von Süd nach Nord verläuft, vom Amurgebiet nach Jakutien. In diesem Sommer erst wurde der Bahnhof Nizhnij Bestjách am Fluss Lena für den Personenverkehr freigegeben und der Streckenbau damit abgeschlossen, welcher ähnlich der BAM unter schwierigsten klimatischen Bedingungen auf unwirtlichem Dauerfrostboden erfolgte. Vom kleinen Ort Nizhnij Bestjach bis in die Gebietshauptstadt Jakutsk sind es nur ein paar Kilometer. Zwischen ihnen liegt der Fluss Lena, drei Kilometer breit, und bisher hat sich noch niemand getraut, die hier erforderliche gigantische Eisenbahnbrücke zu errichten, in einer Gegend, wo der Winter fast neun Monate dauert und die Temperaturen im Januar minus fünfzig unterschreiten.
Jakutsk begrüßt mich mit einer geschlossenen Schneedecke und minus zehn Grad. Obwohl der globale Klimawandel in den russischen Medien fast keine Rolle spielt und es als unseriös gilt, ihn als menschengemacht darzustellen, sind seine Auswirkungen auch hier zu spüren. So warm war es Ende Oktober noch nie, sagen die Einheimischen, es sollte mindestens doppelt so kalt sein. Ich bin eingeladen worden, um an den „Deutschen Tagen“ mitzuwirken, die an verschiedenen Orten stattfinden: im Kino zeigt man „Toni Erdmann“ im Original (wo allerdings mehr Englisch als Deutsch gesprochen wird), im Konzertsaal spielt man Beethoven und Brahms (Jakutsk hat tatsächlich ein großes Sinfonieorchester), in der Nationalbibliothek gibt es eine Ausstellung mit wertvollen alten Büchern, ein Geschenk der inzwischen über neunzigjährigen deutschen Ethnologin Ulla Johannsen, die durch ihre Erforschung der jakutischen Volkskultur in akademischen Kreisen fast eine Art Heldenstatus erlangt hat. In einem Seminar an der Universität bringe ich Studenten bei, Fraktur zu lesen und Kurrentschrift zu schreiben:  deutsche Sprachgeschichte lebendig machen könnte doch interessant sein – und tatsächlich habe ich die Aufmerksamkeit der meisten auf meiner Seite. Damit es ein wenig authentischer wird, teile ich Füllfederhalter aus – um es nicht zu kompliziert zu machen, keine zum Eintunken mit Tintenfass, sondern moderne mit Patronen. Die jungen Leute halten zum ersten Mal einen Füller in der Hand, manche umklammern ihn auf ganz eigentümliche Weise mit den handflächennahen Fingergliedern und stellen ihn senkrecht aufs Papier, so, wie sie auch den Kuli halten. Ich vermute, in der nächsten oder übernächsten Generation wird die Kulturtechnik des Mit-der-Hand-Schreibens vollends ausgestorben sein, zumindest in den fortschrittlichen, digitalisierten Ländern.
Die Jakuten sind neben den Burjaten das größte indigene Volk Sibiriens, von beiden gibt es etwa eine halbe Million Menschen. In Jakutsk höre ich sehr viel mehr Jakutisch auf der Straße als Burjatisch in Ulan-Ude, es scheint, dass die Jakuten weniger russifiziert sind und ihre Nationalsprache besser bewahren konnten – vielleicht hängt es mit ihrer abgeschiedenen geografischen Lage zusammen. Die zierliche, hübsche Jakutin, die mich durch das Museum der Maultrommeln der Völker der Welt führt, klagt trotzdem darüber, dass Jakutisch an den Schulen keine Pflichtsprache mehr und somit in den privaten Bereich abgedrängt ist. Meiner Frau erfülle ich einen Wunsch und kaufe ihr im Museum eine jakutische Maultrommel, ein hier sehr verbreitetes Volksinstrument. Abends besuche ich zum ersten Mal ein Maultrommelkonzert und höre ein Maultrommelorchester.
Jakutien ist so groß wie Indien, hat aber tausendmal weniger Einwohner. Wie gern würde ich noch nach Werchojansk oder Oimjakon reisen, die sich um den Titel Kältepol aller bewohnten Gebiete der Erde streiten, oder nach Mirnyj, wo der Diamantenabbau einen gigantischen künstlichen Krater zurückgelassen hat, oder an den Arktischen Ozean, wo über der Tundra jetzt schon die Sonne kaum noch aufgeht, die ewige Polarnacht bevorsteht und wo – wie ich im Mammut-Museum erfahren konnte – prähistorische Tierknochen praktisch an der Oberfläche herumliegen. Aber das Leben ist zu kurz, um ganz Russland zu umarmen. Es wartet der Rückflug an den Baikalsee.

Häuser auf Stelzen und überirdische Fernwärme-Rohre


Maultrommelmuseum (oben) und Maultrommelkonzert (unten)



"Wer steht hinter Greta Thunberg?  [...] Westliche Politiker interessieren sich nicht für die wissenschaftliche Wahrheit" In Russland wird die These vom menschengemachten Klimawandel angezweifelt. Sie diene nur dazu, den Einfluss des Westens in der Welt zu verstärken und das vom Export fossiler Rohstoffe lebende Russland zu ruinieren

Samstag, 26. Oktober 2019

Service


„Heute habe ich neue Winterreifen gekauft“, erzähle ich eines schönen Tages erfreut meiner Frau, „allerdings sind sie viel schmaler als die Ganzjahresreifen, die ich bisher hatte, aber das habe ich erst nach dem Kauf gemerkt.“
„Mit wem zusammen hast du die Reifen denn gekauft?“, will Niso wissen.
„Mit niemandem. Ich habe mich auf die Beratung im Fachgeschäft verlassen. Dort haben sie gesagt, für den Lada Niva gäbe es nur eine einzige Winterreifensorte. In der Werkstatt, wo ich sie habe wechseln lassen, hat man sich sehr gewundert und gesagt, das sei Quatsch...“
„Du kannst doch nicht einfach dem glauben, was dir der Verkäufer erzählt!“
„…und dort haben sie mir dann die neuen Reifen ohne die mitgelieferten Schläuche aufgezogen. Ohne Schläuche wären die Laufeigenschaften viel besser.“
„Manchmal staune ich über deine Naivität“, sagt Niso. „Wir sind hier nicht in Deutschland. Du kannst nicht einfach glauben, was dir irgendein Verkäufer erzählt, und dann auch noch in die erstbeste Bude zum Reifenwechseln fahren…“
„Wenn dransteht ‚Reifenwechsel‘, dann werden da doch wohl ausgebildete Fachkräfte tätig sein!“
„…wo jeder Alkoholiker arbeiten kann, nachdem er drei Tage angelernt wurde. Ausbildung! So etwas gibt es in der Welt, wo du herkommst, aber nicht hier. Du musst jemanden mitnehmen, der dir eine verlässliche Werkstatt empfiehlt. Und der sich bei Kauf nicht übers Ohr hauen lässt wie ein ahnungsloser Ausländer.“
Ich mache ein beleidigtes Gesicht.
„Als ich beim Ersatzteilehandel im Lager gearbeitet hatte, haben wir zwei Gruppen von Kunden unterschieden. Die, denen man ansah, dass sie Ahnung haben, haben das bekommen, was sie wollten. Und den anderen wurden die billigen chinesischen Ersatzteile gegeben. Auch wenn sie teurere aus russischer Produktion bestellt hatten. Verpackung ausgetauscht, fertig.“
„Und diesen Betrug hast du mitgemacht?“, frage ich fassungslos.
„Ich war nicht an der Warenausgabe, aber habe das bei den Kollegen mitbekommen und natürlich geschwiegen. Alle haben geschwiegen. Sonst wären wir am nächsten Tag den Job losgewesen.“

Eines anderen schönen Tages ruft mich Niso auf Arbeit an. „Komm mal schnell nach Hause, der Klavierstimmer ist gerade bei uns!“ An den Oktavklängen im Hintergrund höre ich, dass er schon vor einer Weile begonnen zu haben scheint.
Kopfschüttelnd verlasse ich das Büro und renne nach Hause.
Tatsächlich macht sich an unserem Klavier gerade Stanislav Fedschenko zu schaffen, von dem ich vor zwei Jahren das Instrument gekauft hatte. Der dicke Mann mit Glatze, rundem Bauch und kleinen, flink wuselnden Wurstfingern ist das genaue Gegenteil zu dem hageren, durchgeistigten, bedächtigen und nun leider toten Sergej Okladnikov.
„Guten Tag“, versuche ich meinen Ärger zu unterdrücken, „ich hatte Sie gar nicht bestellt, sondern mich bei Ihnen lediglich telefonisch nach dem Preis erkundigt!“
„Ich habe nur jetzt und heute Zeit, dir zu helfen“, sagt Stanislav, „ich bin sehr beschäftigt.“
In nur anderthalb Stunden leimt er Hämmerchen neu an, biegt Federchen gerade, putzt die Klaviatur und  stimmt das Klavier komplett durch. Okladnikov hatte nur für das Stimmen mindestens die doppelte Zeit gebraucht.
„Ich danke Ihnen“, sage ich, obwohl das Klavier genauso unsauber klingt wie vorher, nur anders. Zum Glück haben nicht alle so überempfindliche Ohren wie ich.
„Wenn du mich wieder brauchst, melde dich“, sagt er und reicht mir seine Wursthand.


Dienstag, 22. Oktober 2019

Mogsochon



Aus dem weiß gekalkten Ofen tönt geheimnisvolles Prasseln und Rauschen. Die aufgehende rote Sonne wirft ihre Strahlen durch die Fenster in das aus dicken Balken konstruierte Holzhaus, dessen blau gestrichene Bretterdecke so hoch ist, dass auch ein groß gewachsener Mensch im Stehen sie nicht berühren kann, wenn er die Hand nach oben ausstreckt. Draußen herrscht Stille, das Schweigen fernab der Großstadt, unterbrochen nur von ein paar Viehlauten. Das sandige Grau des Bodens ist von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. In den morgendlichen Minusgraden vor dem Haus dreht und streckt sich eine drahtige kleine Frau bei ihrem täglichen Yoga-Ritual. Ich lehne mich an die Ofenwand und schreibe Tagebuch.
Wir sind zu Gast bei Natalja in Mogsochón. Erst war die Fahrt über guten Asphalt gegangen, vorbei an lichten Nadelwäldern mit von früheren Unterholzbränden verkohlten Stämmen, dann über schlechten Asphalt durch eine Dunstglocke vorbei an gerade brennenden Wäldern und schließlich auf sandiger Piste durch die Steppe. Nach vier Stunden Kurs Richtung Osten dann das Dorf. Natalja ist Russin, alleinstehend, siebenundvierzig Jahre alt und vor zwei Jahren aus der Stadt in das Siebenhundert-Seelen-Dorf gezogen. Hier arbeitet sie als Englischlehrerin an der kleinen Schule, die ihren Lehrkräften neben dem knapp über dem Existenzminimum liegenden Gehalt noch Brennholz und Kartoffeln zur Verfügung stellt und Natalja auch mit Fleisch versorgen würde, wenn sie nicht Vegetarierin wäre. Gestern hatte es in der Schule ein besonderes Ereignis gegeben: English Club verkündet das handgemalte Plakat an der Klassenzimmertür, Special Guest: Thomas Ranft. Ich hatte meinen geschenkegefüllten Rucksack mit deutschen Schreibblöcken, Kulis und Ansteckern geschultert und war zusammen mit meiner Frau unserer Gastgeberin gefolgt, im kalten Herbstwind über die sandigen Dorfstraßen zu ihrem Arbeitsplatz.
Natalja ist nach Mogsochon gezogen, um etwas zu tun, womit sich freiwillig die allerwenigsten Russen beschäftigen: die Sprache eines der Minderheitenvölker zu lernen, die in großer Vielfalt das Territorium der Russischen Föderation besiedeln. In Mogsochon ist das Burjatische im Alltag sehr lebendig und noch nicht durch das Russische verdrängt wie in Ulan-Ude, wo die meisten Burjaten die Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr sprechen. Trotzdem könne man zusehen, sagt Natalja, wie Burjatisch auch auf den Dörfern zurückgeht und die Kinder es von Jahrgang zu Jahrgang schlechter beherrschen. Die Lehrerin hat eine Mission, sie möchte ein modernes Lehrbuch der burjatischen Alltagssprache erstellen und so einen Beitrag zum Erhalt dieser der mongolischen verwandten Kultur leisten.
Die Kinder an der Schule hatten mir auf Englisch erzählt, wie sie heißen und wie alt sie sind, dann hatten wir „Are you sleeping, Brother John“ gesungen. Sprachen unterrichten sei hier eine mühevolle Angelegenheit, sagt Natalja, geistige Arbeit stünde generell nicht hoch im Kurs, die meisten Schüler treiben in der Freizeit Sport und helfen ihren Eltern in der Landwirtschaft oder sitzen zuhause mit ihren Gadgets. Die meisten waren noch nie in einem Museum oder einem Konzert. Als ich die Gitarre herausgeholt und ein Lied von Reinhard Mey vorgetragen hatte, filmten mich ein halbes Dutzend Smartphones.
Seit einer Woche hält unsere Gastgeberin auch Deutschstunden. Wie in vielen anderen burjatischen Schulen wurde in der neunten Klasse eine zweite Fremdsprache eingeführt, da in Kürze eine Anweisung des Bildungsministeriums erwartet wird, die lauten könnte, dass die Neuntklassen-Zwischenzeugnisse ohne Note in einer zweiten Fremdsprache ungültig sind. Ausgebildete Lehrer dafür gibt es keine, es werden die herangezogen, die eben da sind. Also unterrichtet Natalja nun Deutsch, obwohl sie es selbst nicht besonders gut kann. Nach der Begegnung mit einem echten Deutschen könnte wenigstens die Lernmotivation der Schüler sprunghaft ansteigen, hofft sie.
Im Haus hängt ein Stofftuch aus Nepal mit einer Zeichnung des Avalokiteshvara, der Bodhisattva des universellen Mitgefühls. Es wirkt aufgeräumt, sauber und ein wenig spartanisch. Gestern hatte unsere kleine Maja mit Vergnügen auf der hohen, schmalen, ins Wohnzimmer hinein ragenden weißen Wand gesessen, in welcher der gemauerte Ofen durch die Küchenwand hindurch ausläuft, bis ihr das Hinterteil vor Hitze wehzutun begann. Natalja wohnt hier kostenlos. Es sei überhaupt kein Problem, in einem Dorf ein leerstehendes Haus zum Wohnen aufzutreiben, sagt sie, die Besitzer sind froh, wenn jemand durch seine Anwesenheit und regelmäßiges Heizen den Verfall verlangsamt.
Das Prasseln der Holzscheite weicht dem Blubbern des nun zum Kochen gebrachten Wassers aus dem riesigen Topf auf der Herdplatte. Ich lege das Tagebuch zur Seite und setze Maja auf ihren Wunsch hin noch einmal auf die schmale hohe Ofenwand. Nach dem Frühstück brechen wir zu einem Spaziergang auf. Vorbei an dem im Hof zwischen Garage und Banja-Gebäude vor sich hinrostenden alten Moskwitsch mit noch sowjetischem Kennzeichen gehen wir zum Fluss, auf dem schon die Schugá genannten ersten Eisstücke treiben. Wind pfeift über die kahlen Hügel, die gleißende Sonne schmilzt Löcher in den dünnen Schnee. Weil die Trinkwasserversorgung aus Brunnen wegen des tiefen Grundwassers nicht so einfach sei, würden die Leute im Winter Eisblöcke aus dem Fluss schneiden und auf ihr Grundstück karren, erfahren wir. Wovon die Menschen so leben? Private Viehhaltung, sonst gibt es eigentlich nichts, meint Natalja, höchstens Jagd und Holzeinschlag, ziemlich wild, um irgendwelche Gesetze und Genehmigungen kümmere sich niemand.
Mittags brechen wir auf, um vor der Dunkelheit in Ulan-Ude zu sein und noch Zeit für einen Zwischenstopp an einigen weiß glänzenden, quadratischen buddhistischen Stupas und einem riesigen, im Freien unter einer Überdachung sitzenden Buddha-Statue im Ort Kishinga zu haben. Die Gegend hier gilt als eine der buddhistischsten Regionen in Burjatien, überall leuchten auf Hügeln die heiligen Bauten. Ich folge Nataljas Rat und tanke nicht in der in schlechtem Ruf stehenden Dorftankstelle. Erst hier in Russland habe ich gelernt, dass es auch schlechtes Benzin gibt und die angegebene Oktanzahl keineswegs stimmen muss.
Mir gefällt die Vorstellung, in einer kulturfernen, abgelegenen Weltgegend als Lehrer auf dem Dorf zu arbeiten. Der Lehrkräftemangel hier ist enorm. Ich würde Cello und Klavier mitbringen und nebenbei eine kleine Musikschule gründen. Die Einheimischen könnten mir Landwirtschaft beibringen und wie man bei minus fünfundvierzig Grad ein Haus instand hält. Ab nächstes Jahr tritt in Russlands Fernem Osten das Programm Sémskij Utschítel in Kraft: wer sich für fünf Jahre an einer Dorfschule verpflichtet, bekommt zusätzlich zum regulären Gehalt zwei Millionen Rubel. Leider nicht ich: die Förderung erhalten nur Staatsbürger Russlands.









Donnerstag, 10. Oktober 2019

Trost




Vor zwanzig Jahren habe ich meine erste längere Auslandserfahrung gemacht. Damals arbeitete ich ein halbes Jahr lang als Freiwilliger in einem kleinen Dorf an der norwegischen Westküste. In Hogganvik Landsby, einer Camphill-Einrichtung, hatte ich Verantwortung für einen behinderten jungen Mann und half im Kuhstall und in der Schreinerwerkstatt. Meine Begeisterung für die zauberhafte Fjordlandschaft war grenzenlos, das Orientieren in einem Leben weit weg von den Eltern aufregend. Zurzeit muss ich oft daran denken. Vielleicht deshalb, weil ich Maja jeden Abend Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ vorlese, das erste Buch, das ich damals in norwegischer Sprache gelesen hatte. Vielleicht gilt für mich ein inneres Gesetz, wonach mit Zwanzig-Jahres-Abstand Erinnerungen aktualisiert werden. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir mein Schwiegervater neulich das Schlachten eines Huhns vorführte.
  Wie man ein Huhn schlachtet, erfuhr ich zum ersten Mal in Hogganvik: den Kopf mit der Axt ab, wonach das Tier noch eine Weile kopflos herumfliegt – dann mit der gummihandschuhgeschützen Hand in das Hinterteil greifen und die Innereien herausholen. Dann wird gerupft.  Nicht so mein Schwiegervater. Nikolai, der heute sechzig Jahre alt wird,  schlachtet halal, wie es sich für Moslems gehört: ein schneller, gezielter Messerschnitt durch den Hals lässt das Tier ausbluten. Die Haut wird mitsamt der Federn abgezogen und den Hunden zum Fraß angeboten.
  Vielleicht war es für das Huhn ja ein Trost, halal geschlachtet zu werden. Ob die diese Art der Tötung  den Tieren mehr oder weniger Schmerzen zufügt als andere Verfahren, gilt als umstritten.
  Durch Mitarbeiter aus Armenien und Russland machte ich in Hogganvik Landsby erste nähere Bekanntschaft mit der russischen Sprache, die mir völlig unerlernbar erschien, und wurde neugierig auf die Weiten, Kulturen und Naturgewalten des Ostens, in denen ich jetzt das fünfte Jahr in Folge wohne.
  Gestern Abend fiel in Ulan-Ude der erste Schnee. Das dünne weiße Deckchen liegt jetzt am Nachmittag immer noch.


Maja im Kartoffelkeller


Samstag, 5. Oktober 2019

Trostlosigkeit


Gestern habe ich mit meinen Studenten einen Sprachtest gemacht. Vierzig Minuten lang mussten sie im Internet Lückentexte mit passenden Wörtern ausfüllen. Sofort nach dem Test wurde das Ergebnis angezeigt. Nur Sorik hat die Punktezahl erreicht, die nötig ist, um sich für ein Stipendium nach Deutschland bewerben zu können. Ausgerechnet der ungelenke, leicht neben der Spur wirkende Sorik mit den strubbligen schwarzen Haaren, der immer mal den Unterricht verschläft, nachdem er wieder die ganze Nacht durch Computer gespielt hat – wobei er mit seinen deutschen Gegnern chattet, deshalb sicher das gute Ergebnis: weil er sich so in seiner Freizeit mit Deutsch beschäftigt. Einige aus der Gruppe sind gar nicht zum Test erschienen. Bei anderen habe ich den Eindruck, dass sie zwar physisch erschienen sind, es ihnen aber im Grunde egal ist.
Mein Institut ist eine trostlose Einrichtung. Über die dunklen Korridore und Treppen des altehrwürdigen Gebäudes aus dem vorvorigen Jahrhundert schleichen schüchterne Gestalten, den Blick nach unten aufs Smartphone gerichtet. Manchmal schalte ich das Licht an, um den gespenstische Charakter etwas zu mindern, bis es der Security-Mann auf seinen Rundgängen wieder löscht, da die Anweisung „Strom sparen“ lautet. Selten sieht man jemand mit einem Buch in der Hand. Fast zwanzig Jahre alte ausgeblichene Plakate an den Wänden erzählen vom einstmals aktiven Austausch mit einer deutschen Partneruni, daneben der Hinweis „Beim Auffinden verdächtiger Gegenstände sofort den Wächter informieren“. Viele Studenten kommen zum Unterricht gar nicht, verspätet oder ohne Hausaufgaben. Damit die kleinen Gruppen nicht noch kleiner werden, kommt jeder durch jede Prüfung. Die im ersten Studienjahr teilweise noch minderjährigen jungen Leute wissen eigentlich überhaupt nicht, was sie wollen. Da sie sich wie Kinder benehmen, werden sie auch wie solche behandelt. Vielleicht ist es auch umgekehrt: weil die Dozenten ihnen nachlaufen wie Kindern, verhalten sie sich wie solche.
Da die Lehrkräfte miserabel bezahlt werden, sind viele auf Zuverdienste außerhalb der Uni angewiesen und verbringen deshalb möglichst wenig Zeit in ihren Wänden. Einige sind in ihrem eigenen Unterricht nicht anwesend und lassen die mit Aufgaben versorgten Studenten allein sitzen. Es gibt kaum eine Organisations- oder Kommunikationskultur der Kollegen untereinander, ein gemeinsames Arbeiten an größeren Projekten, ein Mitteilen von Informationen, die für alle interessant sein könnten, ein gemeinsames Entscheidungen treffen. Wie steht es um das Erlernen der deutschen Sprache in Burjatien? Auch nach vier Jahren Tätigkeit an dem Institut, das Übersetzer und Lehrer für die Schulen ausbildet, weiß ich es nicht. Jeder wirtschaftet für sich, hat hierhin und dorthin seine Kontakte und teilt anderen nur dann etwas mit, wenn er es für vorteilhaft erachtet.
Irgendwas ist falsch, denke ich oft, wenn ich auf die Studenten schaue, wie sie eng aneinandergedrängt vor mir in den kleinen Räumen sitzen – einige nehmen nicht einmal ihr Täschchen vom Schoß –, und dicht aneinandergequetschte Zeilen in ihre kleinen A5-Heftchen schreiben, einige in einer derart katastrophalen Handschrift, die vielleicht charakteristisch ist für die nur noch wischen und tippen, aber nicht mehr schreiben könnende Generation Smartphone. Eigentlich sollten die jungen Leute hier nicht ihre Lebenszeit absitzen, sondern arbeiten, eine Reise machen, ein wenig das Leben schnuppern, sich selbst finden. Elf Jahre Schule, und dann noch einmal vier Jahre Uni, die mit dem Leben nichts zu tun hat, haufenweise sinnloser Nebenfächer inklusive Sportunterricht und sogenannte wissenschaftliche Arbeiten, aus dem Internet zusammengebastelt und mit ausgetauschten Wörtern, damit die Antiplagiat-Prüfung bestanden wird.
Die russische Universität erfülle eben nicht nur eine Ausbildungs- sondern auch eine Erziehungsfunktion, hat mal irgendwer gesagt. Ich kann mich daran nicht gewöhnen und halte das ganze Bildungssystem für misslungen, weil es nicht den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Entwicklung entspricht. Die jungen Leute werden viel zu früh gezwungen, sich für eine Studienrichtung und damit für einen Beruf zu entscheiden. Das nach der elften Klasse abzulegende Einheitliche Staatliche Examen, das Gegenstück zum deutschen Abitur, hat nur eine begrenzte zeitliche Gültigkeit; der Studienbeginn ist unmittelbar im Anschluss an die Schule vorgesehen. Und hat Studieren nicht etwas zu tun mit Lesen und geistigem Arbeiten? Warum gibt es kein System einer praktischen Berufsausbildung, warum werden auch diejenigen durch die Hochschulen geschleift, deren Stärken im handwerklichen Tun liegen?
Es gibt eine Minderheit, der Motivation und Zielstrebigkeit anzumerken ist. Gerade findet in Ulan-Ude die Weltmeisterschaft im Frauenboxen statt, wo einige Studenten als Freiwillige tätig sind, die internationalen Teams vom Flughafen abgeholt haben und ihnen als Übersetzer helfen. Vor Beginn der Weltmeisterschaft war das Stadtzentrum um den Sowjet-Platz herum zwei Wochen lang abgesperrt, weil der Asphalt erneuert wurde. Eine völlig absurde Geldverschwendung, da der Asphalt dort in fast einwandfreiem Zustand war, während anderswo vor Schlaglöchern die Straße kaum sichtbar ist.
Manchmal finde ich russische Spontanität erfrischend: zum Beispiel, wenn mich mein Bekannter Zhargal anruft und fragt, ob er in fünf Minuten zum Tee vorbeikommen kann. Und manchmal macht sie mich traurig, wie heute, wo ich für einen zweitätigen Taiga-Ausflug zur Jagd verabredet bin mit Nachbar Anatolij, der unser Vorhaben leider vergessen hat und mit abgeschaltetem Telefon verschwunden ist.