Samstag, 27. April 2019

Freude

  Seit Nisos Geburtstag am letzten Sonntag ziert ein Samowar unseren Küchentisch, ein „Selbstkocher“ in der wörtlichen Übersetzung. Der klassische russische Kulturgegenstand besteht aus einem metallenen Wasserkessel mit seitlichem Ablaufhahn und darüber einer Auflage mit einem Teekännchen aus Porzellan. Im Teekännchen befindet sich die Sawarka, starkes Tee-Konzentrat, das mit dem elektrisch erhitzten Wasser aus dem Kessel je nach Bedarf verdünnt wird. Die ersten Samoware, die in Russland nach dem Tode Peters des Großen auftauchten, funktionierten mit Holzkohle. Heute hat wohl kaum noch jemand in Russland einen Samowar zuhause – man nutzt gewöhnliche Wasserkocher, genauso wie die wenigsten Leute einen Lada fahren, sondern inzwischen ganz gewöhnlich gewordene japanische Autos. Der deutsche Ausländer ist in mancherlei Hinsicht sozusagen russischer als die Russen selbst.
  Der Geburtstag meiner Frau fiel zusammen mit dem „westlichen“ Osterfest. Wir besuchten den Ostergottesdienst in der katholischen Kirche und Pater Adam erlaubte mir danach, in der fantastischen Akustik des Kirchenraumes Cello zu spielen. Eigentlich wollte ich proben, also üben und schwierige Stellen in Stücken wiederholen, aber da eine Handvoll Leute nach dem Gottesdienst sitzenblieben und mir freudig lauschten, entstand eine ungeplante Konzertsituation, so dass ich nicht probte, sondern einfach nur spielte, so schön wie möglich. Das russisch-orthodoxe Osterfest findet eine Woche später statt, am morgigen Sonntag. Heute sind wir mit dem Eier anmalen beschäftigt, das es sehr wohl in der russischen Ostertradition gibt; eine unbekannte Erscheinung ist hingegen der Osterhase.
  Das Schuljahr und das Musikschuljahr neigen sich dem Ende zu. Maja muss zur Abschlussprüfung auf dem Klavier drei kleine Stückchen vorspielen: Menuett, Walzer und Marsch, seit etwa einem Monat klappt es schon gut, Maja spielt auswendig und mit Ausdruck, aber da das Programm nichts anderes vorsieht und die Kommission beim Examen nur genau dieses hören will, wiederholt ihre Lehrerin die Stücke wieder und wieder, noch und nöcher; bis Ende Mai wird sicher nichts mehr Neues kommen. „Auf die Bedürfnisse und das Tempo des Lernenden eingehen“ ist in der russischen Pädagogik ein weitgehend unbekanntes Vorgehen. Damit die Freude beim Üben erhalten bleibt, übe ich mit der Kleinen zuhause längst ganz andere Stücke aus der DDR-Klavierschule Plumpsack.
  Das winterliche Weiß ist verschwunden, aber frühlingshaftes Grün will sich in Ulan-Ude nicht einstellen. Es ist, wie als geht der Winter direkt in den staubig-heißen Sommer über. Wenn ich Maja von der Schule abhole – was meistens meine Frau übernimmt –, führt der Weg an einem Stadtpark genannten tristen Grundstück vorbei, auf dem in zwei, drei Metern brutal abgeschnittene Baumstämme in die Höhe spießen, deren Äste noch völlig kahl sind; der graugelbe sandige Boden ist bedeckt mit welken, gelbgrünlichen Grasbüscheln. Erst ein einziges Mal in diesem Jahr erfreuten mich Blumen in freier Wildbahn: ein paar Löwenzähne an einer Hauswand.

Samstag, 20. April 2019

Ärger


Wie lange dauert in Russland die polizeiliche Zulassung eines Autos? Eine Stunde, einen Tag, eine Woche? Der Gesetzgeber gibt zehn Tage, um ein neues oder gebrauchtes Kraftfahrzeug nach dem Kauf auf den eigenen Namen zuzulassen, danach wird eine Strafe fällig. Zehn Tage, das sollte zu schaffen sein, zumal ich neben meiner Arbeit fast täglich Zeit für Behördengänge einplanen kann. Auf geht’s!
Der erste Weg führt mich in ein kleines Büro in der fünften Etage eines neuen, grauen Bürogebäudes zum Abschließen der obligatorischen Haftpflichtversicherung. Der Versicherungsmensch kennt mich von früher, plaudert gern mit mir und ist außerordentlich hilfsbereit. Leider kann er mir keine Police ausstellen: eine russische Passnummer besteht nur aus Ziffern, eine deutsche aus Ziffern und Buchstaben, die akzeptiert das elektronische Formular nicht. Vielleicht können die Kollegen in Moskau helfen, ich solle mich ein wenig gedulden, er schickt meine abfotografierten Unterlagen dorthin und meldet sich dann.
Fünf Tage später sein Anruf: die Kollegen in Moskau können auch nichts für mich tun. Beim Entwickeln der neuen elektronischen Haftpflichtversicherungsformulare hat man offensichtlich nicht an Ausländer gedacht. Das einzige, was er mir anbieten kann, ist die für den Versicherungsabschluss notwendige Diagnose-Karte: ein Papier, auf dem bestätigt wird, dass mein Auto in einwandfreiem technischem Zustand ist. Nicht, dass jemand das Fahrzeug dafür sehen müsste. Es reicht, wenn ich nochmal ins Büro komme. Sechshundert Rubel, Stempel, Unterschrift, dankeschön! Für die Police empfiehlt mir der nette junge Mann, mich direkt an die zentrale Niederlassung eines der großen Versicherungsunternehmen zu wenden und gibt mir drei Adressen.
Nächster Nachmittag: ich stehe in einem Business-Center vor einer großen Glasfront, dahinter Damen an Schreibtischen und Aktenschränke, davor zwei Bänke mit ein paar Wartenden. Die Schlange zur Versicherung? Nicken. Wer ist der letzte? Man weist auf einen alten, offensichtlich schwerhörigen Rentner. Wie lange warten Sie schon, rufe ich ihm ins Ohr. Der Burjate murmelt etwas von heute Morgen. Ungläubig schaue ich in die Runde. Man reserviert sich mündlich seinen Platz in der Schlange, indem man seinem Vorgänger sagt, dass man nach ihm kommt, und seinem Nachfolger klarmacht, dass man vor ihm an der Reihe ist, und entfernt sich dann, erfahre ich. Aus wie vielen Leuten denn die unsichtbare Schlange schon so besteht, will ich wissen. Zehn? Hundert? Achselzucken. Ich werfe einen genervten Blick auf den in stoischer Ruhe seit heute Morgen vor sich hinsitzenden Rentner und gehe.
Das Großraumbüro des nächsten Versicherungsunternehmens: eine freundliche Angestellte ist sofort bereit, mir zu helfen und scannt meine Dokumente. Als Ausländer kann mich leider nur der leitende Spezialist bearbeiten, der in einer Stunde eintrifft und sich dann unverzüglich telefonisch mit mir in Verbindung setzt. Bis zum Abend warte ich auf den Anruf des leitenden Spezialisten, dann bin ich es, der im Büro anruft. Leider könne man jetzt im Moment nichts für mich tun. Jetzt im Moment, das mag für unerfahrene Ohren klingen nach „aber dann morgen“; jedoch nach fast vier Jahren in Burjatien verstehe ich, es bedeutet einfach „Sorry, bei uns nicht“.
Am nächsten Tag, bei der dritten Adresse, klappt es. Einen Moment zögere ich bei der Frage, welcher Fahrer in die Police eingetragen werden soll, und sehe schon das nächste Problem: wird das elektronische Formular meine europäische Führerscheinnummer akzeptieren? Ich entschließe mich für eine Police ohne Beschränkung, die für jede beliebige Person am Steuer gilt. Kostet doppelt so viel, aber meine Frau macht schließlich gerade den Führerschein und kann dann auch gleich fahren, ohne dass man sie nachträglich eintragen lassen müsste.
Mit dem OSAGO-Formular in der Hand, wie die Auto-Haftpflicht in Russland heißt, kann ich nun endlich beim GIBDD, der Verkehrspolizei, das Auto anmelden. Das Internetportal GOSUSLUGI, „Staatliche Dienstleistungen“, sieht eine elektronische Terminanmeldung vor, eine fortschrittliche und bequeme Sache, nur leider, wie sollte es anders sein, mit einem ausländischen Pass nicht nutzbar. Leute ohne einen per Internet gebuchten Termin können sich an drei Tagen in der Woche in die Schlange stellen, in die lebendige Schlange, zhyvaja otschered`, so heißt es tatsächlich in der wörtlichen Übersetzung. Dienstag, Donnerstag und Samstag um 8.30 Uhr, wobei jeweils nur fünfundvierzig Minuten lang Anträge entgegengenommen werden. Am Dienstag Morgen habe ich Unterricht. Der Donnerstag ist leider gerade vorbei. Also Samstag. Noch vom Vorjahr weiß ich, dass nur Frühaufsteher in der lebendigen Schlange eine Chance haben und dass sich die Leute in eine informelle Liste eintragen. Schlau, wie ich bin, jogge ich noch am Freitag Abend zum GIBDD-Gebäude und klebe einen Zettel an die Tür: 1.) Thomas Ranft.
Beim Zurücklaufen nach Hause entdecke ich ein Schild am Zebrasteifen: „Fußgänger dürfen die Fahrbahn betreten, nachdem sie die Entfernung zu sich nähernden Verkehrsmitteln und deren Geschwindigkeit abgeschätzt haben und davon überzeugt sind, dass das Überqueren für sie ungefährlich ist.“ Das mache ich eigentlich immer, wenn ich eine Straße überquere. Heißt Fußgängerüberweg nicht, dass die Autofahrer bremsen müssen? Gut, in Deutschland mag das so sein. Noch bin ich woanders.
 Als ich am nächsten Tag um sechs Uhr morgens wieder an Ort und Stelle bin, stehen schon fünf weitere Namen unter dem meinen. Gut gemacht, lobe ich mich in Gedanken, setze mich ins Auto, dessen laufender Motor gemütliche Wärme erzeugt, und lese. Um kurz vor halb Neun betrete ich die Traube von einigen Dutzend Wartenden, die sich auf der Straße vor der verschlossenen Tür drängen, und lehne mich direkt vor den Eingang, um meinen ersten Listenplatz durch physische Präsenz zu unterstreichen. Ich erinnere mich an letztes Jahr im Februar, als ich bei minus fünfundzwanzig Grad hier herumstand; jetzt ist es die reinste Entspannung dagegen, nicht so schlimm, dass noch immer niemand einen beheizten Warteraum für nötig erachtet. – Seit wann sind Sie denn hier? – Ich murmle etwas von „keine Ahnung, war noch dunkel“; irgendwie scheint es mir peinlich, zuzugeben, dass ich den Zettel schon am Vorabend angeklebt habe. Könnte als unlauterer Wettbewerb gelten. Schlüsselklappern, die Tür geht auf, fünfzig Leute quellen hinein. Zuerst an einen Tisch, wo eine verschlafen vor sich hinblickende uniformierte Gestalt eine Art Vorprüfung der Dokumente vornimmt und Leute gleich wieder wegschickt, bei denen etwas fehlt. Ist die Vorprüfung bestanden, nickt die verschlafene Gestalt einem daneben stehenden jungen Kollegen zu, dessen Aufgabe im Drücken auf den Bildschirm eines elektronischen Wartemarkenterminals besteht. Dann der Aufruf der Wartenummer. Nummer eins an Schalter Nummer eins! Siegessicher durchschreite ich das Knäuel der sich nach mir Drängenden, von denen sich einige beginnen unwirsch anzukeifen, da aus irgendeinem Grunde die Liste verschwunden ist und sich nun jeder an seinen Platz in der Schlange erinnern muss.
Typisch für die russische Bürokratie ist eine Vielzahl an kleinteiligen, nicht aufeinander abgestimmten Vorschriften und Regeln, die nirgendwo übersichtlich und zusammengefasst erläutert sind. Auf Behörden hängen irgendwelche eng bedruckten Zettel mit Gesetzestexten aus, die niemand liest oder versteht, und Fragen nach Auskunft werden in hohem Maße minimalistisch beantwortet, mit einem kleinen Fetzen an Information, der genau bis zur nächsten Schlange oder Behörde reicht. Im Grunde kann Vorgänge nur verstehen, wer sie einmal durchgemacht hat, und selbst dann kommt es immer wieder zu Überraschungen. Wie zum Beispiel für mich heute. Mein Antrag auf Zulassung des Fahrzeuges wird zurückgewiesen, weil ein, wie sich herausstellt, dafür nötiges Dokument fehlt: ein Vertrag darüber, wie das Fahrzeug in Moskau den Besitzer wechselte, bevor es der Händler kaufte, der es dann nach Ulan-Ude überführte. Den Vertrag sollte mir eigentlich mit dem Auto übergeben worden sein. Wurde er aber nicht. Pech. Kommen Sie nächste Woche wieder!
Wenig später sitze ich auf dem Automarkt in einer kleinen Bude mit der Aufschrift kupli-prodazhi, Kauf-Verkauf, in der ich vor zwei Wochen den Kaufvertrag meines Lada Niva unterzeichnet hatte. Die Juristin hinter dem Schreibtisch hat alle Hände voll zu tun und erledigt ihre Arbeit mit der für die russische Kultur phänomenalen Gabe, Dinge parallel zueinander abzuarbeiten. Ein Rentnerehepaar diktiert seine Passdaten für den Abschluss einer OSAGO, ich erläutere, dass ich bitte schnellstmöglich den Vertrag aus Moskau brauche, und in das unters Kinn geklemmte Smartphone spricht sie, dass sie jetzt nicht sprechen kann und der Anrufer sie doch bitte nicht anrufen soll – alles gleichzeitig und hundert Prozent datenschutzfrei. Alle kriegen alles mit, und allen ist es völlig egal, wie viel mein Lada gekostet hat, wann Frau Iwanowa geboren wurde und dass der Mann von Walentina, so heißt die Dame hinter dem Schreibtisch, sie schon wieder während der Arbeitszeit nervt. Ein Blick auf die Uhr: minus fünf Stunden, Moskau schläft noch. Ich solle mich bis zum Nachmittag gedulden, der Vertrag wird per Mail angefordert, wir melden uns, kein Grund zur Sorge, für alle Fälle bekomme ich eine Rückrufnummer.
Die Zehn-Tage-Frist für die Zulassung ist inzwischen abgelaufen, und ich beginne mich ernsthaft zu ärgern. Der Vertrag aus Moskau sei angefordert, aber noch nicht da, teilt mir am Abend auf Nachfrage der Zwischenhändler mit, im Übrigen bestünde kein Grund zur Panik: Autos diesen Typs würden von der Polizei höchst selten angehalten. Wenn ich nicht gerade einen Unfall bauen würde, könne ich auch ohne Anmeldung fahren. Da das Autokennzeichen keinem Fahrzeughalter zugeordnet werden kann, würde auch nichts passieren, sollte ich in eine Radarfalle geraten. Schön, trotzdem hätte ich gern bald den verdammten Vertrag, um das Auto offiziell anzumelden! Ich schäme mich fast ein wenig für meine Hartnäckigkeit. Wahrscheinlich bin ich zu deutsch, zu gesetzesfixiert.
Von einer Psychologin habe ich mal gehört, dass es zwei Arten von unangenehmen Ereignissen gibt: solche, die ganz persönlich mit einem etwas zu tun haben, und solche, bei denen man einfach Opfer allgemeiner Umstände wird. Wenn man lange an einer roten Ampel steht und deshalb den Zug verpasst zum Beispiel. Über diese Art von ärgerlichen Vorkommnissen sollte man sich nicht zu sehr aufregen. Die Ampel ist schließlich nicht wegen mir auf Rot gesprungen! Meine jetzige Situation ist wohl auch eine von dieser Sorte. Niemand wollte mich betrügen. Aus Schlampigkeit wurde einfach ein Dokument vergessen. Kommt vor! Trotzdem: ich beginne, nachts schlecht zu schlafen, wache zwischendurch auf, und das Auto geht mir durch den Kopf. Was mache ich, wenn der Vertrag zufällig nicht mehr auffindbar ist?
Zwei Tage später melde ich mich wieder beim Zwischenhändler. Ich habe das Fahrzeug nicht gekauft, damit es schön aussieht und an der Straße herumsteht (inzwischen kann ich auf Russisch auch ordentlich wütend sein), entweder er besorge mir das für die Zulassung fehlende Papier oder, verflucht nochmal, er kann den Wagen zurückhaben. Bitteschön, bekomme ich zur Antwort, wir nehmen das Auto gern zurück, nur Geld bekomme ich dafür keines. Gut, dann sind die Fronten ja geklärt! Zuhause setze ich mich an den Laptop und google „Anwalt Ulan-Ude Betrug Autokauf“.
Am Tag darauf dann der Anruf der Juristin aus der Kupli-Prodazhi-Bude vom Automarkt, die mit dem Zwischenhändler zusammenarbeitet: der Vertrag aus Moskau sei eingetroffen. Nur leider hätte ihn das Moskauer Autohaus an einigen Stellen geschwärzt, unklar, ob ich beim GIBDD damit durchkomme. Und sie könne ihn mir nicht ausdrucken, da der Farbdrucker kaputt sei, und die Farbe wäre wichtig, damit der runde blaue Stempel auch wirklich blau aussieht. Kein Problem, sage ich, mache ich schon, und tippe meine Mailadresse in ihr Handy. Nach dem Ausdrucken in meinem Büro an der Uni stelle ich fest, dass unter dem Papier eine von zwei Unterschriften fehlt. Ich setze selbst einen Krakel an die entsprechende Stelle und kopiere das Blatt noch einmal, damit es nicht aussieht wie nachträglich hinzugefügt. Nun sollte alles bereit sein!
Wieder ist Samstag, und schlau wie in der letzten Woche begründe ich die Schlangenliste schon am Vorabend. Um ganz sicher zu gehen, bin ich am nächsten Morgen schon um halb Sechs am Polizeigebäude, und nicht umsonst, wie sich herausstellt: ein neues Blatt hängt an der Tür, auf denen schon neun Namen stehen, nur nicht meiner. Ich setze mich an die zehnte Stelle und warte im Auto. Eigentlich könnte ich nun drei Stunden lang entspannt lesen oder schlafen, aber eine dumpfe Unruhe erfasst mich. Um sieben Uhr schaue ich, wie es um die Schlange steht, und komme gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein junger Mann die inzwischen auf dreißig Namen angewachsene Liste vom Eingang reißt.
„Hey, was soll denn der Blödsinn, lassen Sie das dran“, herrsche ich ihn an.
Mit ausdruckslosem Gesicht zieht er einen Dienstausweis aus der Tasche und nennt Dienstgrad und Familiennamen.
„Hier werden überhaupt keine Listen an die Tür geklebt. Das ist Beschädigung fremden Eigentums. Stellen Sie sich gefälligst einfach in einer Schlange auf und fertig“, blafft er zurück und entfernt sich mit dem Blatt in der Hand.
Murren aus der Gruppe. „Liste hierlassen!“, ruft der Mutigste dem Polizisten in Zivil hinterher, der sich kurz umdreht und sie dann zerknüllt.
Jemand zückt sein Smartphone. „Ich habe sie fotografiert!“
Flugs ist ein neues A4-Blatt zur Stelle, die Namen werden vom Foto abgeschrieben, fortan hält einer das Papier einfach in der Hand. Kurz vor halb Neun sind alle Schlangenmitglieder physisch anwesend, Schlüsselklappern, die Tür geht auf, fünfzig Leute quellen sich an den kleinen Tisch der Dokumentenvorkontrolle, dann vorbei am Wartemarkenausteiler und nach Ausruf an den Schalter.
Heute klappt es. Nach drei Wochen also halte ich die A6-formatige Plastikkarte in der Hand, die der deutschen „Zulassungsbescheinigung Teil II“ entspricht, und dazu zwei neue Nummernschilder, die mir der Beamte direkt ausgehändigt hat. Vergeblich warte ich auf die Aufforderung zur Strafzahlung wegen Überschreitung der Zehn-Tages-Frist.
Anfang September bin ich wieder da. Dann läuft mein derzeitiges Visum und damit auch die zeitlich befristete KfZ-Zulassung aus.

Ich habe mich ziemlich geärgert über die russische Bürokratie. Jetzt, nachdem diese Zeilen geschrieben sind, ist der nötige Abstand wieder hergestellt, um kopfschüttelnd darüber lachen zu können. „Ich glaube, in Deutschland wird uns langweilig“, sage ich zu Niso. Morgen wird sie 37, der Geburtstagsausflug kann nervenkitzelfrei mit dem zugelassenen Auto stattfinden, großartig. „Ach was“, sagt sie, „wir werden dein Buch lesen und uns an die Zeiten in Russland erinnern!“

Ein Schild am Zebrastreifen informiert Fußgänger darüber, dass sie nur über die Straße gehen dürfen, wenn sich kein Auto nähert


Montag, 8. April 2019

Klavierstimmen in Russland


Zu den großen Errungenschaften der kommunistischen Sowjetunion gehört Bildung für das breite Volk. Der zu Zarenzeiten grassierende Analphabetismus wurde praktisch abgeschafft, Schulen und Universitäten gegründet, Bibliotheken eröffnet. Zur Bildung für den Sowjetmenschen gehörte auch die Musik. Klaviere wurden in großer Zahl gebaut und galten als Schirpotreb, als Massenbedarfsartikel. Gleich zwei von ihnen stehen an unserem Institut, eines in dem Raum, wo bis zum Ende des letzten Jahres meine Chorproben stattfanden und in dem ich auch einige Konzertauftritte am Cello zusammen mit einer Pianistin hatte, weshalb ich mehrfach den Klavierstimmer kommen ließ. Am Instrument ist eine Informationstafel angeklebt mit dem Namen einer Veteranin, einer ehemaligen Dozentin, die es der Universität spendete. Leider nutzen es die in dem Raum unterrichtenden Lehrkräfte als Ablage für Kreide und Lappen, weshalb es von weißem Staub bedeckt ist.
Das andere Klavier, noch mehr eingestaubt, mit kaputtem Pedal und einigen nicht mehr funktionsfähigen Tasten, steht in der gleichen Etage im Korridor. In irgendeiner Inventarliste taucht es sicher noch auf, niemand kümmert sich aber um seinen Zustand oder spielt darauf, abgesehen von einigen Studenten, die verschämt zu klimpern beginnen und es dann schnell wieder lassen, da es schrecklich verstimmt ist. Sergej Georgiewitsch Okladnikov, der Klavierstimmer an der Oper, hat sich bereiterklärt, mir an diesem Instrument, Marke „Ural“, die Technik des Klavierstimmens zu erklären. Wir sind für den Sonntag verabredet, der einzige Tag, an dem das Institut von der Reinigungskraft abgesehen ganz leer ist. Mein Lieblingswächter Valerius hat gerade Dienst und lässt uns hinein, obwohl an Sonntagen das Gebäude für Lehrkräfte eigentlich nicht zugänglich ist.
Über AliExpress, dem in Russland sehr verbreiteten, chinesischen Amazon-Äquivalent, habe ich mir ein Tuning-Set bestehend aus dem Stimmhammer genannten Achtkant-Schlüssel, vier Stimmkeilen aus Gummi und einem Filzband bestellt; außerdem hat mir Okladnikov einen bestimmten Tuner zur Installation auf dem Smartphone empfohlen. Der Meister, zwei Jahre nach Kriegsende geboren, mit schon leicht zitternden Händen, aber ganz klarem und wachem Geist und präzisestem Gehör, erklärt mir, wie man den Kammerton A mithilfe des Tuners sauber stimmt, indem ein Gummikeil so geklemmt wird, dass zuerst nur eine, dann zwei und dann alle drei der Saiten erklingen, welche von der Taste angeschlagen werden.  Die Metallwirbel werden durch den aufgesetzten Stimmhammer mit der rechten Hand gedreht, dann durch eine Bewegung mit der Hand an den Körper heran nach links unten gedrückt und somit fixiert, man „setzt ein Schloss“.
Nach dem Stimmen des Kammertones könne der Tuner zur Seite gelegt werden, der Rest sei Sache des Gehörs, sagt Okladnikov, das wäre bei mir als Cellist doch vorhanden? Zunächst wird in nach unten steigenden Quinten und nach oben steigenden Quarten die Oktave vom A-1 zum „kleinen A“ gestimmt, wobei das Erreichen des ideal sauberen Klanges eine Frage der Schwebungen pro Sekunde ist, feine, auf- und abschwingende Wellen innerhalb eines Tones, die zu hören für Anfänger nicht einfach sei und auch wenn man sich unausgeschlafen ans Werk mache, lerne ich. Bei einer Oktave oder dem Unisono-Stimmen der zwei oder drei Saiten einer Taste darf es im Zusammenklang keine Schwebungen geben, der Ton ist ganz rein und geht „geradeaus“. Im Falle einer Quinte, einer engen Quinte, wie wir sie für die temperierte Stimmung am Klavier brauchen, sind es eine Schwebung in der Sekunde, eine Welle also, die der Ton nach oben und unten macht, im Falle einer weiten Quarte anderthalb Schwebungen. Den Klang einer Quarte im Ohr zu haben ist in Russland ganz einfach: es ist der Beginn der Nationalhymne, der russischen, deren Melodie zugleich die der sowjetischen ist. In Deutschland könnte man sich am „Tatü-Tata“-Intervall eines Erste-Hilfe-Wagens orientieren.
Noch bevor wir die zentrale Oktave fertig gestimmt haben, ist mein chinesischer Stimmhammer ausgeleiert und unbrauchbar, was am zu weichen Metall liegen kann oder daran, dass ich ihn vor dem Drehen nicht richtig auf die Wirbel aufgesetzt habe. Okladnikov geht mit mir an seinen Arbeitsplatz in die Oper, wo er seinen eigenen Stimmhammer aus deutscher Produktion hat. In der Opernkantine trinken wir einen Kaffee, der alte Mann verschwindet für eine Weile im Erzählen einiger seiner zehntausend Erinnerungen und Geschichten, die sich in fünfzig Jahren als Geiger im Opernorchester angesammelt haben wie der eines Kollegen, der einmal vor der Ankunft eines berühmten Pianisten drei Tage lang auf der Bühne einen Flügel stimmte, ohne sie zu verlassen und dort auch schlief und aß. Seit drei Jahren ist er in Rente, ist aber immer noch der Stimmer für Flügel und Klaviere des Hauses und repariert Geigen, Celli und Kontrabässe. Dann setzten wir unseren Unterricht an einem alten, längst abgeschriebenen Instrument fort, bis meine Ohren ermüdet sind und ich mich nicht mehr auf die Schwebungen konzentrieren kann.
„Ich habe das Gefühl, du hast schon etwas verstanden“, sagt Okladnikov und will mir in der nächsten Woche seinen Ersatz-Stimmhammer geben, damit ich das Klavier am Institut selbst zuende stimmen kann. Die 2000 Rubel, etwa 30 Euro, die ich ihm für seine Lehrstunde geben will und die der Meister sonst für das Stimmen bei Leuten zuhause verlangt, nimmt er nicht an: der alte Mann hat sein Wissen wohl gern weitergegeben; leider hat sich bisher niemand gefunden, den er als seinen Nachfolger ausbilden kann.


Samstag, 6. April 2019

Autokauf in Russland


    In den dreieinhalb Jahren meines Lebens in Ulan-Ude habe ich Dinge gemacht, die in Deutschland nicht möglich gewesen wären. Dazu gehört die Gründung und Leitung eines kleinen Studentenchores, mein persönliches Lieblingsprojekt an der Uni und fester Termin in meinem Wochenkalender, jeden Dienstag um sechzehn Uhr zwanzig. Damit hat es nun allerdings seit diesem Jahr ein Ende: zur ersten geplanten Probe kamen nur fünf Leute, und auch die wohl weniger wegen des Singens, sondern mehr wegen unseres Unterrichtspraktikanten Florian, mit dessen Teilnahme ich auf dem Plakat gelockt hatte: Lebendige Begegnung mit einem echten Österreicher, jede Woche zur Chorprobe, kommt und macht mit! Statt zu singen, wofür mindestens zehn Teilnehmer nötig wären, saßen wir und unterhielten uns angeregt neunzig Minuten lang: was unterscheidet Österreicher von Deutschen? Was denken die Leute im Westen über Stalin? War auch interessant, aber der Chor ist nun tot. Vielleicht ist das ja nicht schlimm. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Energie reicht nicht mehr für zusätzliche Initiativen aus, obwohl ich in diesem Semester weniger unterrichte als in den Vorjahren: nur sechs wöchentliche Doppelstunden. Vielleicht ist es auch so, dass mir die Familie immer wichtiger wird und das Geschehen an der Uni etwas in den Hintergrund tritt.
Ich werde ein weiteres reichliches Jahr in Russland wohnen. In dieser Zeit möchte ich noch einiges unternehmen, wozu es in meiner Heimat keine Gelegenheit mehr geben wird – am Baikalsee durch die Steppe und über das Eis fahren zum Beispiel, ohne befürchten zu müssen, dass es mit gebrochenem Stoßdämpfer im Abschleppwagen nach Hause geht. Ich entschließe mich zum Kauf eines Geländewagens, und natürlich steht auch sofort das Modell fest: nichts ist russischer, robuster und preiswerter als ein Lada Niva. Meinen bisherigen elf Jahre alten Lada Samara überlasse ich Freund Mischa, Universitätsdozent und zurzeit Leiter des Theologie-Lehrstuhles, der gerade nicht so recht weiß, wovon er mit seinen drei Kindern leben soll (jedenfalls nicht von umgerechnet 400 Euro Lehrstuhlleiter-Gehalt) und nun die Möglichkeit hat, seine schachtelförmige Schestjorka zu verkaufen und zum ersten Mal seit zehn Jahren in den Sommerferien nicht zu arbeiten, sondern das zu machen, was ich mir fast jeden Monat erlaube: ein paar Tage Erholung am Baikal.
Bei meinem zweiten Autokauf in Russland fühle ich mich deutlich ruhiger und souveräner als beim ersten Mal. Ich begebe mich auf den mit fast ausschließlich japanischen Modellen vollgestellten Automarkt und steuere gemessenen Schrittes einen silbergrauen WAS-2131 an, wie die fünftürige Variante des Niva offiziell heißt. Am Vorabend hatte ich die Verkaufsanzeige des Wagens im Internet studiert und mir für 300 Rubel eine Datensammlung zu ihm heruntergeladen, aus der hervorgeht, dass das Auto nicht gestohlen ist, keinen Unfall hatte und der Vorbesitzer im autonomen Kreis der Jamal-Nenzen lebte: in der nordrussischen Tundra war der Niva also im Einsatz, dann sollte er also auch für die burjatische Steppe taugen. Zwei junge Händler kommen herbei, schließen das Auto auf und beobachten aus einigem Abstand den Deutschen, der kritisch Moto, Kofferraum und Armaturenbrett inspiziert. Das Design des Innenraums wirkt wie aus den Neunzigern, dabei ist es Baujahr 2013. Meine Ahnungslosigkeit wird spätestens dann deutlich, als ich vergeblich versuche, den Kofferraum zu öffnen (dafür gibt es einen Hebel neben dem Fahrersitz) und mich wundere, warum es gleich drei Schaltknüppel gibt statt wie üblich einen. Differentialsperre und Geländeuntersetzung, erklären die Händler und sind sichtlich amüsiert über den Kunden, der wohl zum ersten Mal in so einem Auto sitzt.
Ehe ich mich zum Kauf entschließe, fahren wir in eine kleine Garage ans andere Ende der Stadt, in welcher der Mechaniker meines Vertrauens arbeitet. Nikolai Nikolajewitsch legt sich unter das Auto, lauscht dem Tuckern des 1,7-Liter-Motors und lässt sich die Fahrzeugdokumente zeigen. Dann nehme ich ihn für einen Moment zur Seite.
„Steig ein und fahr los. Weiter gibt’s nichts zu sagen!“ 
Ich überreiche ihm eine Flasche armenischem Kognak als Dank für seine Expertise und frage, ob der von den Händlern verlangte Preis in Ordnung wäre.
„Absolut! Gute Wahl. Ist ja fast neuwertig. Keine Beulen, keine Schrammen, sieht man auch sofort, dass der Wagen nie in schwierigem Gelände war.“
Bevor man ein Auto auf den eigenen Namen registrieren lassen kann, muss man es bei der Verkehrspolizei einer Durchsicht unterziehen lassen. Ein paar Tage später stelle ich das Fahrzeug in eine Reihe mit etwa vierzig anderen Autos im Hof neben dem Polizei-Hauptgebäude und öffne die Motorhaube. Ein uniformierter Burjate geht herum, vergleicht die Fahrzeugnummer an der Karosserie mit der Nummer auf dem Zulassungsschein und schaut, ob auch niemand illegalerweise etwas an seinem Auto an-oder umgebaut hat.
„Für die Anhängerkupplung brauchen Sie eine gesonderte Genehmigung“, sagt der Polizist, als die Reihe an mir ist. Ich antworte, dass ich ohnehin heute noch zum Mechaniker wolle und sie dann eben bei dieser Gelegenheit gleich entfernen lasse, da ich nicht vorhätte, mit Hänger zu fahren. Reihum sammelt er von allen Fahrern die Zulassungsscheine ein und teilt sie nach einer halben Stunde wieder aus, zusammen mit einem kleinen Zettel über die erfolgreich bestandene Durchsicht.
„Und, haben Sie die Hängerkupplung inzwischen abgebaut?“
Das würde ich doch heute in der Werkstatt machen lassen, erwidere ich.
„Wenn jemand fragt, die Anhängerkupplung haben Sie morgen erst angebaut“, sagt der Burjate mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Heute gibt es sie nicht. Verstanden?“ Ich erhalte den kleinen unterschriebenen und gestempelten Zettel und fahre vom Hof. Morgen erst angebaut – alles klar! Obwohl ich die Durchsicht bestanden habe, bitte ich Nikolai Nikolajewitsch, die Kupplung abzumontieren. Vielleicht findet ja der nächste Polizist, der sie sieht, dass es sie doch gibt, und fragt nach der Genehmigung.
Als nächstes steht der Gang zum Versicherungsagenten an. Der jüngere, dickliche Mann in etwa meinem Alter kennt mich schon und bittet freundlich, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ich bitte um eine Haftpflichtversicherung für einen Wagen des Typs WAS-2131.
„Oh Gott, schon wieder ein Lada. Und was ist an dem jetzt besser als an dem vom letzten Mal?“
Nun, es wäre doch ein Niva, erkläre ich, ein robuster, geländetauglicher –
„Trotzdem“, unterbricht er mich, „ich finde, Sie sollten endlich nach Hause fahren. Ab nach Deutschland. Was machen Sie hier eigentlich noch? Ich verstehe nicht, was Sie in Burjatien suchen.“ Sicherlich sei alles nicht so entwickelt und durchdacht wie in Westeuropa, pflichte ich ihm bei, aber die Natur doch wunderschön, und außerdem hätte ich mein Familienglück in Ulan-Ude gefunden. Bis zum Sommer des nächsten Jahres würde ich noch hierhin und dorthin zu reisen planen…
Während meiner Ausführungen hat der Versicherungsagent meine Papiere abfotografiert, um die Fotos nach Moskau zu schicken – selbst kann er für einen Ausländer keine Police ausstellen – und schiebt sie mir dann mit einer mitleidigen Bewegung über den Schreibtisch zurück.
„Lassen Sie uns lieber über das Leben sprechen. Schimpfen Ihre Verwandten denn nicht mit Ihnen, dass Sie hier sind?“ Keineswegs, sage ich, im Gegenteil, die finden das sehr interessant und kommen mich besuchen, meine Schwester war neulich hier…
Kopfschütteln. „Und was haben Sie ihr gezeigt?“
Ich gebe dem Russen einen kurzen Überblick über die Sehenswürdigkeiten seiner Heimat und verabschiede mich. Hoffentlich trifft die Police aus Moskau bald ein.