Donnerstag, 28. Dezember 2017

Väterchen Frost und der Weihnachtsmann

Sagt die schwangere Frau zum Bäcker: „Ich bekomme ein Weißbrot!“
Darauf der Bäcker: „Na, da wird sich ihr Mann aber wundern!“

„Papa, i hob mi verliebt!“
„Jo, mein Sohn, in wen denn?“
„I mogs nit soge…“
„Jo sog schon! In die Luise?“
„Naaa…“
„Jo mei! In die Susi vielleicht?“
„Naaa, Papa…“
„Etwa in die Frida, die olle Hur?“
„Naa, Papa… In… in den Schorsch!“
„In den Schorsch? Aber…der ist doch evangelisch!“

In der letzten Unterrichtsstunde habe ich heute mit den Studenten des Literaturkurses das Thema Witze behandelt. Die obigen beiden fanden sie überhaupt nicht lustig. Der erste Witz beruht auf einem ins Russische unübersetzbaren Sprachspiel – ein Brot bekommen und ein Kind bekommen wird mit zwei verschiedenen Verben ausgedrückt. Über den zweiten Witz kann man nur lachen, wenn man weiß, dass er im süddeutschen Dialekt geschrieben ist und die Bevölkerung dort mehrheitlich katholisch ist. Nicht übertragbare Wortspiele und ein fehlende landeskundlicher Hintergrund können Gründe dafür sein, dass deutsche Witze in Russland nicht ankommen.

Am 24.12. fand im „Haus der Völkerfreundschaft“ eine „katholisches Weihnachten“ genannte Feier statt, die gemeinsam vom polnischen, litauischen und russlanddeutschen Kulturverein organisiert wurde. Wieder einmal ist mir aufgefallen, wie unterschiedlich doch die Prioritäten sind, die von den Menschen im russischen und im deutschen Kulturraum gesetzt werden. Bei einer Feier in Russland kommt es darauf an, schick gekleidet zu sein, man trägt sorgfältigst zurechtgemachte Kostüme und in stundenlanger Sorgfalt aufgetragene Schminke, gebügelte Hemden und hochglanzgeputzte Schuhe; in den Ansprachen werden blumige, formelhaft-ausschweifende und überschwängliche Worte gesprochen, man überreicht sich gegenseitig Diplome, Urkunden und Dankesbriefe für Siege und Teilnahmen in Wettbewerben, Mithilfe oder Anwesenheiten. Weniger ausgeprägt ist hingegen die räumliche und zeitliche Organisation; das zweckmäßige und praktische Einrichten eines Raumes, in etwa abgestimmt auf die Anzahl der Gäste, ein pünktlicher Beginn und die Vorausplanung des Ablaufes haben kaum Bedeutung. Dafür sind Räumlichkeiten und Frauen geschmückt mit buntglitzernden Plastikdingen, auch schon die kleinsten Kinder werden mit kiloweise Zuckerzeug beglückt und alle trinken Schwarztee aus Einweg-Plastikbechern. Während ich in Deutschland an den meisten Tischen bisher ein überwiegend dialogisches Kommunikationsverhalten beobachtet habe (die Gäste unterhalten sich eher ungezwungen mit ihren Sitznachbarn, wobei in größeren Runden viele Gespräche gleichzeitig ablaufen), ist in Russland ein monologisches Modell verbreitet: die meisten schweigen und lauschen einer Person, die für längere Zeit das Wort ergreift, nicht selten in Form eines ritualisierten Toastes, stehend mit dem Glas in der Hand.
Bei der Programmauswahl und dem Einsatz von Technik ist man wenig zimperlich und sehr pragmatisch; große Effekte sind entscheidender als Stimmigkeit und Vereinbarkeit der Stilrichtungen. Nicht schlecht staunte ich, als plötzlich ein blau gekleideter Ded moróz mit Snegurotschka auftauchten und mit den Kindern um die Jolka, die Tanne tanzten. Väterchen Frost und seine Gehilfin sind Figuren des russischen Neujahrsfestes, die eigentlich auf einer katholischen Weihnachtsfeier nicht ganz am Platz sind, wo, wenn überhaupt, ein Weihnachtsmann kommen könnte, der sich in einigen wichtigen Punkten von Ded moroz unterscheidet wie Länge des Mantels und Art von Kopfbedeckung und Schuhen.

Gut gelaunt komme ich von einem Auftritt mit „meiner“ Pianistin Nina an unserem Institut zurück, ein kleines Kammerkonzert mit Beethoven, Tschaikowski und Mozart zur Hebung der feierlichen Stimmung vor dem wichtigsten aller russischen Feste, dem Neuen Jahr - die deutschen Weihnachtstage sind fast unbemerkt mit Unterricht und Kontrollarbeiten verstrichen. 
Das Wintersemester ist zuende; die Studenten verabschieden sich ab übermorgen in die Neujahresferien. In ihre kleinen Studienbücher lassen sie sich von den Lehrkräften ihre Noten für jedes Fach eintragen oder in vielen Fällen auch nur satschót: eine Art unbenotetes „bestanden“. Eine Gruppe schenkt mir eine mit viel Liebe selbstgemalte Neujahreskarte und lädt die Lehrkräfte zum Teetrinken ein – ganz klar, dass einem da warm ums Herz wird und ich nicht gern jemanden durchfallen lasse, mit dem ich eben noch herzlich plaudernd zusammengesessen habe, auch wenn er eigentlich eine Niete ist und zehn von zwölf Doppelstunden versäumt hat. Das ist er, der menschliche Faktor: angenehm und manchmal auch störend zugleich.

Niso und ich sind nun dabei, die Koffer zu packen; am Samstag fliegen wir nach Deutschland, während Maja zu den Großeltern aufs Dorf fährt. Meinen Lesern wünsche ich einen guten Start ins neue Jahr und verabschiede mich vorerst in diesem Blog – den nächsten Bericht gibt es Ende Januar.

Ein von Englischstudenten aufgehängtes Plakat erklärt den Unterschied zwischen dem amerikanischen Santa Claus und seinem russischen Kollegen Väterchen Frost

Sonntag, 24. Dezember 2017

Pelz und Politik

Während meine sich vegan ernährende Schwester bei plus dreißig Grad gemeinsam mit ihrem Freund den Sommer auf der Südinsel Neuseelands genießt, löffle ich eine von meiner Freundin zubereitete Schafsfleischsuppe und schaue aus dem Fenster in den minus zehn Grad kalten sibirischen Winter. Straßen, Wege und Dächer sind schneebedeckt, ein strahlendes Weiß, das Staub, Müll und liebloses Grau ein paar Monate lang gnädig unsichtbar macht. Auf dem zentralen Sowjet-Platz sind wie jedes Jahr kunstvoll aus Eisblöcken geformte Figuren aufgetaucht; im Hintergrund thront Lenins Kopf mit einer weißen Schneekappe. Ich trage eine Daunenjacke, Niso einen schicken Mouton-Pelz. Die Verwendung von tierischen Erzeugnissen ist etwas ganz Selbstverständliches. Als die kleine Maja am zwölften Dezember ihren siebten Geburtstag hatte, war ihr Hauptgeschenk ein kleiner, unglaublich weicher und anschmiegsamer Plüschhase, so weich deshalb, weil das verwendete Fell keine Synthetik ist, sondern echtes Kaninchen.

Auf einer Festveranstaltung bekam Niso feierlich ihr Hochschulzeugnis überreicht, der Abschluss von vier Jahren Pädagogik-Fernstudium. Der dunkelblaue Kartoneinband mit dem darauf geprägten doppelköpfigen russischen Adler enthält eine Auflistung aller etwa fünfzig belegten einzelnen Disziplinen wie Kinderliteratur und Aktuelle Probleme der Kinderpsychologie sowie solche, die nichts mit dem eigentlichen Fach zu tun haben, zum Beispiel Philosphie, Burjatisch und Baikalkunde. Eine Durchschnittsnote wird nicht angegeben. Studenten, die überwiegend Bestnoten vorweisen können, bekommen ein krasnyj diplom: der Einband hat eine rote Farbe.

In der letzten Woche besuchte ich eine Vorlesung im Fach Politikwissenschaft, das Thema hieß „Russland als Vielvölkerstaat“. Wie kam es dazu, dass in Russland viele Völker zusammenleben, und welche Probleme sind damit verbunden? Im Wesentlichen, so erklärte der burjatische Professor, vereinigten sich die Völker unter dem Dach Russlands freiwillig, da die auf beiden Seiten bestehenden Interessen zusammenfielen: Der Zar erweiterte sein Territorium, das Imperium erschloss neue Ressourcen und Bodenschätze; die zahlreichen kleineren und größeren Völker bekamen Sicherheit und Stabilität. 350 Jahre ist es nun her, dass sich Burjatien an Russland angeschlossen hat; was haben die Burjaten davon? Infrastruktur, Industrie, Bildung und Anschluss an die Weltkultur! Aber natürlich, meinte der Dozent, gab es auch Gebiete, da müsse man einräumen, dass der Anschluss an Russland nicht freiwillig geschehen sei. Welche das wären?, erging die Frage an die Studenten.
Kamtschatka zum Beispiel, sagte ich, da niemand sonst den Mund aufmachte.
Aber nein, wie ich denn darauf käme? Kamtschatka sei schon immer Teil des russischen Imperiums gewesen. Finnland könne man da nennen, oder Polen, beantwortete der Dozent seine Frage selbst; ersteres von 1809 bis 1917 als Großfürstentum Finnland Teil des Zarenreiches, letzteres bis 1918 zwischen Deutschland und Russland aufgeteilt.
Nach der Vorlesung sprach ich den burjatischen Professor noch einmal auf Kamtschatka an: haben nicht die eingeborenen Korjaken dort hundert und mehr Jahre lang blutigen Widerstand gegen die russischen Kolonisatoren geleistet? Und Chabarow, der mit seinen Kosaken blutig im Fernen Osten herumwütete?
Da hätte ich ja ein völlig verzerrtes Bild, bekam ich zur Antwort. Gewiss habe es einzelne Zusammenstöße der Kosakentrupps mit den Ureinwohnern gegeben, aber im Wesentlichen sei das Land doch leer gewesen und erst durch die Russen überhaupt zivilisiert worden. Im kollektiven historischen Gedächtnis sei bei keinem der sibirischen Völker verankert, dass sie gewaltsam unterworfen wurden.
Interessant fand ich zu hören, dass die Republik Burjatien nach der Oktoberrevolution zunächst deutlich größer war als heute. In den 30er Jahren befürchtete Stalin, dass eine zu starke burjatische Nation sich im Rahmen der Panmongolismus-Bewegung mit der Mongolei vereinigen könnte, weshalb man Ust-Ordynsk im Westen und Aginsk im Osten verwaltungstechnisch ausgliederte, die heute zu den Gebieten Irkutsk und Sabaikalsk gehören.

Heute beginnt das katholische Weihnachten, wie das in Westeuropa gefeierte Fest hier etwas vereinfachend genannt wird. Niso, Maja und ich werden in das Haus der Völkerfreundschaft gehen und dort einer von Russlanddeutschen und polnischen Exilanten organisierten Feier beiwohnen. Eine kleine Einstimmung auf die Festtage hatten wir in dieser Woche schon beim Besuch eines Orgelkonzertes in der katholischen Kirche bekommen, in der ein polnischer Organist auf der einzigen Orgel Burjatiens spielte, eine große Besonderheit für Sibirien. In russisch-orthodoxen Gotteshäusern gibt es außer der menschlichen Stimme keine Instrumente.

Eiskunst im Stadtzentrum. Im Hintergrund Lenin mit Schneehaube

Ein Ausflug an den vereisten Fluss

Freitag, 8. Dezember 2017

Ein Wintermärchen

















Ulan-Ude ist von einer dicken, knirschenden Schneeschicht eingehüllt; es sind nur wenige Grad unter Null. Der wattige Schnee bleibt hoch auf den Ästen der Bäume liegen, ein geradezu märchenhafter Anblick. In den letzten fünf Jahren hat es noch nie so viel auf einmal geschneit wie in den vergangenen Tagen, sagt mein Bekannter Mischa.

Niso verteidigt heute ihre Bachelorarbeit und wird damit ihr Fernstudium der Pädagogik im Vorschulalter abschließen. Zwölf Minuten stehen für ihren Vortrag und die Beantwortung von Fragen durch die Attestierungskommission zur Verfügung. Ihr Thema ist die Nützlichkeit von Bewegungsspielen für die Entwicklung der Kinder im Kindergarten. Die meisten ihrer Kommilitoninnen haben die Abschlussarbeit gekauft, da sie berufstätig sind und überhaupt keine Zeit haben, sich wochen- oder monatelang hinzusetzen und einen wissenschaftlichen Text zu verfassen. Fünfzehntausend Rubel kostet eine Diplomarbeit, zusammen mit der Abschlusspräsentation werden es zwanzigtausend. Meine Freundin hat sich mehr Mühe gemacht und ihre Arbeit selbst mit Textstücken aus dem Internet zusammenkopiert. Ihre wissenschaftliche Betreuerin hat anschließend viele Wörter durch Synonyme ersetzt, damit der Text die vorgeschriebene Anti-Plagiat-Prüfung besteht. Unter Fernstudenten ist es überhaupt nicht üblich, Abschlussarbeiten eigenständig anzufertigen. Es gibt andere Dinge, auf die es viel eher ankommt; die Absolventen haben genaue Anleitungen über die am Verteidigungstag zu tragende Kleidung erhalten (feierlich-schick, nicht zu grell, aber auch nicht schwarz-weiß) und sollen im Dozentenzimmer einen festlichen Tisch decken mit (von ihnen selbst spendierten) Speisen und Getränken, damit die Mitglieder der staatlichen Attestierungskommission sich zwischendurch stärken und erholen können.

Am letzten Wochenende habe ich auf einer Weiterbildung für Deutschlehrer etwas über die Fraktur- und Kurrentschrift erzählt, Federn und Tinte ausgeteilt und die Kolleginnen ermutigt, selbst einmal zu versuchen, die alte Schrift zu schreiben. Ich erklärte, dass sie 1941 auf persönliche Anordnung Hitlers abgeschafft wurde – schließlich war die Weltherrschaft geplant, und die deutschen Buchstaben müssen für alle verständlich sein – und es seitdem nur noch die heute übliche Lateinschrift gibt. Das Formen der Kurrentbuchstaben ist für eine ungeübte Hand natürlich mühsam. „Das war wohl Hitlers einzige gute Entscheidung – diese Schrift abzuschaffen“, meinte eine Kollegin.

Jeden Abend lese ich der kleinen Maja ein Märchen vor, ein russisches Volksmärchen, ein Grimm`sches oder ein von Hauff, Topelius oder Puschkin verfasstes Kunstmärchen.  Betone ich ein Wort falsch, korrigiert Maja mich und reicht mir einen Bleistift, damit ich einen Betonungsstrich setze. In der russischen Sprache muss jedes Wort deutlich auf einer bestimmten Silbe betont werden, nur auf welcher – dafür gibt es keine allgemeinen Regeln. Ich bin inzwischen schon ziemlich gut; der Bleistift kommt nur ein oder zwei Mal pro Buchseite zum Einsatz.


Samstag, 25. November 2017

Die Schreibmaschine




















Ich sah eine alte Schreibmaschine im Kopier-Kämmerchen meines Institutes. Sie stand auf dem Boden neben anderen musealen technischen Geräten, neben Polylux, Diaprojektor, verstaubten Druckern, funktionsunfähigen Scannern und großen, schweren Bildschirmen. Die altehrwürdigen Gebäude der Universität sind voller solcher Orte, durch welche schon seit Jahrzehnten kein Bewusstsein mehr gedrungen ist, wo nie aufräumende, ordnende Kräfte gewirkt haben. Ähnlich der Arbeit eines Archäologen kann man hier Schicht für Schicht die vergangenen Zeiten freilegen und sich ein Bild vom Universitätsleben vor 10 Jahren machen, von den wilden 90ern oder aus dem letzten Jahrzehnt der Sowjetunion.
Die Schreibmaschine habe ich mit nach Hause genommen. Niemand wird ihren Verlust bemerken, aber natürlich bringe ich sie irgendwann zurück. Zunächst steht sie bei uns in der Wohnung und erfreut die kleine Maja, die schon etwa ein Drittel der Buchstaben kennt und neugierig versucht, erste Wörter zu schreiben – glücklicherweise ist das Farbband noch nicht ganz ausgetrocknet! Die Zahl drei fehlt, da der russische Buchstabe für das stimmhafte s fast genauso aussieht. Das einfache, in Jugoslawien hergestellte Modell weckt Erinnerungen an meine Kindheit, als ich auf der „Erika“ meiner Eltern herumtippte und mich bei den Großeltern mit Vorliebe an eine große, schwarze Schreibmaschine setzte und Fantasietexte verfasste. Es ist erstaunlich, was von solch einem mechanischen Gerät im Digitalzeitalter für eine Faszination ausgeht; ich freue mich über den Fund im Kopier-Kämmerchen mehr, als wenn mir jemand ein neues Smartphone geschenkt hätte.
Maja geht zweimal pro Woche zur Schach-AG, und ich spiele mit ihr fast jeden Tag eine Übungspartie. Die Buchstaben a bis g auf dem Spielfeld werden auch in der russischen Schachtradition mit lateinischen Buchstaben bezeichnet. Der Schäferzug, die bekannteste und schnellste Eröffnungsfalle, heißt djetskij mat: Kindermatt.

Ich öffnete ein Päckchen aus Deutschland und förderte daraus eine Packung Knäckebrot und eine Pumpernickelbrot zutage. Einige in Deutschland selbstverständliche Lebensmittel sind in Ulan-Ude nicht erhältlich, andere nur im Edel-Supermarkt „Sputnik“ im Stadtzentrum zu Preisen, die sich hier wohl nur eine Oberschicht leisten kann, zum Beispiel eine Ecke leckersten Blauschimmelkäse für umgerechnet zehn Euro, hergestellt in Südamerika oder Moskau, da europäische Lebensmittel immer noch mit einem Embargo belegt sind. Fenchel-Anis-Kümmel-Tee wurde mir schon geschickt oder Lakritz-Süßigkeiten, für die einen sehr begehrt, von meinen Studenten und Dozenten mit einem säuerlichen „erinnert irgendwie an Medizin“ kommentiert. Umgekehrt werde ich zum Jahreswechsel Zedernnüsse, Gebirgshonig, Lärchenharz-Kaugummi, Sanddorn-Öl und Machorka-Bauerntabak mit in die Heimat bringen, vielleicht noch Mischka-Konfekt und Faulbaumpulver zum Backen.

Ich fuhr mit meinen Praktikanten-Kollegen vom Lehrstuhl, Florian und Valentin, in die Steppe an den Fluss Selenga. Von einem als Schlafender Löwe bekannten Hügel schweift der Blick über das mäandrierende, eis- und schneebedeckte Flussband kilometerweit nach Süden Richtung Mongolei. Schon jetzt, Ende November, ist das Wasser fast völlig gefroren, und an den Ufern sitzen die ersten Angler neben oder in kleinen beheizbaren, mit Autos auf den Fluss heraus gezogenen Holzhütten und gehen ihrer geduldigen Beschäftigung nach. In einer Niederung zwischen zwei der felsigen Erhebungen machten wir ein Lagerfeuer. Obwohl es Minusgrade sind, brannte das trockene Holz sofort und die Flammen fraßen sich dort, wo kein Schnee liegt, zügig durch das gelbe, abgestorbene Gras, so dass wir sie hin und wieder austreten mussten.
Mein Kollege Mischa, ehemals Englischlehrer und nun Leiter des Lehrstuhles für Theologie, holte uns mit seinem Lada ab. Eigentlich hatte er mir am Morgen das Auto für den Ausflug geben wollen, doch da gerade Neuschnee gefallen war, wir mit nicht geräumten Straßen rechnen mussten und ich mich noch nicht zu den in russischen Verhältnissen routinierten Fahrern zählen kann, nahmen wir für die Hinfahrt den Minibus. Ob ich mit Benzingeld aushelfen könne, fragte Mischa am Telefon, bevor er sich zu uns auf den Weg machte. Trotz Doktortitel und Universitätsanstellung lebt er mit seiner Familie an der Grenze zur Armut, wie er meint, seine drei Kinder trinken regelmäßig Milch und bekommen Fleisch, wenn auch nicht jeden Tag, darauf ist er stolz; und natürlich hilft ihm Gott. Jetzt für den Winter hat er eine zusätzliche Heizung unter den Beifahrersitz gelegt, durch einen dicken Schlauch mit dem Motorraum verbunden. Ich musste daran denken, was mir neulich jemand über Steppendurchquerungen erzählte in Zeiten, als es noch keinen Handyempfang gab: wenn das Auto auf einer kaum befahrenen Strecke mit Motorschaden liegenblieb, im Februar bei minus vierzig, dann fingen die Leute an, die Reifen zu verbrennen, um nicht zu erfrieren, einer nach dem anderen. Ein Reifen brennt etwa fünfzehn Minuten. Wenn nach einer Stunde keine Hilfe in Sicht ist, dann gute Nacht.

Bei uns am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch hat sich zurzeit ein kleines internationales Lehrerkollektiv eingefunden. Florian kommt aus Österreich und studiert in Wien Deutsch als Fremdsprache. Mit dem charmanten Valentin aus Frankreich treffe ich mich gelegentlich zum Schachspielen. Urs aus der Schweiz , dessen typisch Schweizer Name ‚Bär‘ bedeutet, ist eigentlich hier, um Russisch zu lernen; damit ihm nicht so langweilig wird, unterrichtet er noch ein wenig. Alle singen in meinem Chor mit, wie auch Leslie und Aurelia, zwei Studentinnen aus Deutschland und Frankreich an der Historischen Fakultät – Studierende aus Westeuropa sind eine außerordentliche Seltenheit an der Burjatischen Staatlichen Universität, Ausländer kommen in der Regel aus China, der Mongolei und Südkorea.

Ich las mit Vorliebe Bücher von Europäern, die aus eigenem Erleben über Sibirien und Russland schreiben: Karin Haß, in der Taiga mit einem ewenkischen Jäger verheiratet; Werner Beck, ein Jahr in einer Jurte am Baikalsee lebend; Brigitte Reimann, die sozialistische Aufbruchsstimmung in ihrem Sibirien-Tagebuch festhaltend; Stephan Orth, couchsurfend durch Russland ziehend; Jens Mühling, sich in die chakassische Taiga zu einer Altgläubigen aufmachend; der Baltendeutsche Traugott von Stackelberg, der nach Ausbruch des ersten Weltkrieges nach Sibirien verbannt wurde; Klaus Bednarz, dessen "Ballade vom Baikalsee" die Region in Deutschland populär gemacht hat. Der Schriftsteller Christoph Ransmayr war in der russischen Arktis unterwegs; der englische Literat Colin Thubron porträtiert das Sibirien der späten 90er Jahre, und Franzose Sylvain Tesson schreibt über sein Einsiedlerjahr in einer Holzhütte am Baikal, wobei ihn im Unterschied zu allen übrigen das Trinken auszeichnet. „90%iger Alkohol für den Fall eines Wodka-Engpasses“ steht in seiner Ausrüstungsliste.

Sieben Uhr morgens, ich werfe einen Blick auf das Außenthermometer am Küchenfenster: minus zwanzig. Es liegt wenig Schnee, die Temperatur wird gegen Nachmittag auf minus zehn angestiegen sein. Der heutige Tag verspricht zu werden wie die letzten: sonnig, klar und knackig kalt. Der sibirische Winter hat Einzug gehalten.