Sonntag, 20. Januar 2019

Auf Besuch in der Heimat


Fremde werden immer wieder über die echte Begeisterung staunen, die ihnen im deutschen Konzertsaal entgegenflutet. Die Musik verhilft den Deutschen mehr als alles andere zur Flucht aus sich selbst und bietet sich ihnen als wirksamstes Mittel an, auf Augenblicke dem Normendasein zu entfliehen. Weil der Deutsche Musik nötig hat wie keiner, hat er es in ihr weiter gebracht als alle.
Aus: Walter Schubart, „Europa und die Seele des Ostens“ (1938)

Neunzehn Uhr neunundfünfzig: es wird dunkel im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses, die Gespräche verstummen, ein paar verspätete Gäste huschen durch die breiten Türen, die wenig später von den schick gekleideten Türstehern zugezogen werden und sich mit einem dumpfen Klicken schließen. Zwanzig Uhr: unter Applaus betritt das Orchester die Bühne und stimmt kurz ein. Zwanzig Uhr zwei: der neue Chefdirigent Andris Nelsons erscheint, verbeugt sich und hebt den Stab. Robert Schumann, Zweite Sinfonie C-Dur, präzise, dynamisch, glasklar und packend, perfekt im Detail und mitreißend in großem schwungvollen Bogen. In der nächsten dreiviertel Stunde wagt außer in den Pausen zwischen den einzelnen Sätzen niemand zu husten, es erscheinen keine Gruppen, die raschelnd und Gespräche führend mit halbstündiger Verspätung hereinplatzen und auf der Suche nach ihrem Sitzplatz durch die Reihen hetzen. Keiner der knapp zweitausend Menschen führt auch nur ein einziges Telefongespräch, ja, nicht einmal ein Handy klingelt. Das Programmheft – ein kleines Lexikon, kurze Informationen auf einen Blick oder eine detaillierte Beschreibung, für jeden Informationsbedarf. Nach Konzertende bildet sich an der Garderobe eine lange Schlange; die jungen Leute hinter dem Tresen laufen flink hin- und her und reichen im Eiltempo Mäntel und Jacken heraus, so dass gar nicht erst das Gefühl aufkommt, man hätte warten müssen. Willkommen im Lande der klassischen Hochkultur! Präzision und Niveau, nie wäre es mir früher als etwas Besonderes aufgefallen, als ich fast wöchentlicher Stammgast im Gewandhaus war. Aber nun wohne ich in Sibirien, bin etwa einmal im Jahr hier im Konzert und fühle mich in angenehmer Weise auf einen anderen Planeten versetzt.
Mit der achtjährigen Maja ist jeden Tag ein halbes Stündchen klassische Hauskultur angesagt. Ich oder manchmal auch meine Mutter üben mit ihr Lieder aus dem Plumpsack, der DDR-Klavierschule für Anfänger, und Maja gefällt es besonders, wenn ich die deutschen Texte dazu mitsinge, die sie mich immer von Neuem bittet zu wiederholen. Liebe Schwester tanz mit mir, beide Hände reich ich dir, einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer! Maja wiegt dreiundzwanzig Kilo, so viel wie mein für die Berge gepackter Tourenrucksack, und lässt sich mit Vorliebe von mir auf die Schultern nehmen, möchte hochgeworfen und getragen werden, des Herumalberns ist mitunter kaum ein Ende. Am Morgen fahren wir jeden zweiten Tag mit den Fahrrädern zum Einkaufen in den Konsum, vorbei an Feldern auf wunderbar glatten, asphaltierten Radwegen. Kaum sind wir wieder zu Hause, sagt das Mädchen: „Ich möchte Fahrrad fahren!“ Wohlgemerkt sagt sie es auf Deutsch; überhaupt fragt sie viel, wie heißt dies und wie heißt jenes. „Wie sagt man auf Deutsch `Ja rodilas v Ulan-Ude?`“ – „Ich bin in Ulan-Ude geboren.“ – „Was heißt `w`?“ – „In.“ – „In? Das ist aber ein langes Wort!“ – Manchmal spielt sie schon regelrecht mit der Sprache. Ich sage: „Achtung!“ Maja: „Neunung!“ Im Konsum kaufe ich gern Dinge, die es in Ulan-Ude nicht gibt: Rosenkohl, Süßkartoffeln, Broccoli oder Brötchen zum Aufbacken.
Niso und Maja gefällt es in meiner Heimat, sicher nicht nur wegen der guten Musik, den bequemen Radwegen und dem leckeren Essen. Sondern auch wegen der vielen schönen Begegnungen mit meinen Eltern, einigen Verwandten und Freunden, denen ich mit ein wenig Stolz als Gastgeschenk mein Buch „Drei Jahre am Baikalsee“ überreiche. Es ist ein schönes Gefühl, ein eigenes Buch in den Händen zu halten, dessen Texte – leicht überarbeitete und gekürzte Kapitel des Blogs – über drei Jahre hinweg mit durchaus einigem Herzblut entstanden sind.
Als etwas schwierig erweist sich für uns anfangs die niedrige nächtliche Raumtemperatur. Obwohl es in Russland im Winter draußen deutlich kälter ist, schläft man sehr viel wärmer als in Deutschland üblich. Die Fernwärme ist für unseren Vermieter wohl kein großer Kostenfaktor und es ist egal, ob wir die Heizkörper auf „an“ oder „aus“ stellen - weitere Zwischenstufen gibt es nicht. Die Gasheizung in dem Haus, wo wir in Deutschland meistens wohnen, ist so eingestellt, dass sie nachts erst anspringt, wenn der Raum auf sechzehn Grad heruntergekühlt ist. Das sind etwa sechs Grad weniger als unsere Schlaftemperatur in Ulan-Ude. Meine Mutter versorgt uns hilfsbereit mit zusätzlichen Decken und Wärmflaschen; sie selbst schlafe gern mit Mütze auf dem Kopf, was im Übrigen gut zu dem Sibirienbuch von Karin Hass passe, das sie gerade lese und in dem von minus fünfzig Grad die Rede seien. Ich erinnere mich an meine Zeltexpeditionen im Altai und im Kaukasus und daran, wie gerne ich mich dick eingepackt in den Daunenschlafsack rolle und es genieße, wenn sich an meiner Nase fast ein Eiszapfen bildet; allerdings war das draußen in der Natur und ohne Familie, ein anderer Daseinsmodus sozusagen.
Nachts, wenn es draußen am kältesten ist und man unbeweglich daliegt, sollte doch die Heizung auch am wärmsten sein, meint Niso, kuschelt sich verstört an mich und bemüht sich, keine Hand unter den drei Bettdecken in die Kälte hervorragen zu lassen. Wäre es nicht umgekehrt sinnvoller, tags die Heizung herunterfahren, wenn man aktiv herumläuft?
„Heute kaufe ich einen elektrischen Heizer“, verkünde ich am nächsten Morgen und füge schnell hinzu, das sich abzeichnende Entsetzen im Gesicht meiner Mutter falsch deutend:
„Ich zahle auch die Stromrechnung für den Januar!“
„Aber der Sicherheitsabstand! In dem kleinen Zimmer ist der gesetzlich vorgeschriebene Mindestabstand zu den Möbelstücken gar nicht gewährleistet!“
Wir einigen uns schließlich darauf, dass ich auf den Kauf eines elektrischen Heizers verzichte und die nächtliche Minimaltemperatur von sechzehn auf neunzehn Grad erhöht wird. Damit es am Tage schön gemütlich wird, heizt Mutter für uns in der Stube den schicken neuen Kamin. Lebendiges Feuer, wie wunderbar, viel schöner anzuschauen als ein Fernseher! Auf dem sibirischen Dorf ist das Heizen eine unumgängliche Lebensnotwenigkeit, der Kamin in Deutschland dagegen ein Luxus. Ich möchte einen Stapel Holz nachlegen und greife die ersten besten bereits zerkleinerten Äste aus dem Schuppen.
„Dieses Holz darf man gar nicht verwenden. Holz muss erst mindestens zwei Jahre lagern, sonst ist es zu feucht, der Schornstein verrußt und die Brandgefahr steigt“, erfahre ich. Wenig später begeben wir uns gemeinsam in den Schuppen, Mutter zeigt mir, welche Stapel erlaubt sind zum Verheizen, und ich hacke einige große Baumscheiben klein. „Zweimal im Jahr kommt der Schornsteinfeger und kontrolliert die Lagerbedingungen des Holzes!“
Besorgt schaue ich nach Maja, die gerade mit Kreide auf die Wegeplatten im Garten malt. Sicherlich steht schon die Wasserschutzpolizei vor der Tür und schreibt einen Strafzettel wegen nicht angemeldeter Kalkauswaschungen ins Grundwasser, geht es mir durch den Kopf. Nach dreieinhalb Jahren Russland muss ich mich tatsächlich erst wieder daran gewöhnen, wie viele Dinge doch in Deutschland reguliert sind und dass ein anderes Maß an Sparsamkeit und Genauigkeit gefragt ist.

Der Begriff des Winters ist sehr relativ. Schwerlich würde ein Sibirjake das als Winter bezeichnen, was wir in Leipzig Anfang Januar erlebt haben, grauer Himmel und Regen, zwischendurch mal fast warmer Sonnenschein und nur einmal am Morgen ein wenig Schnee: eine zärtliches weißes, vielleicht zwei Zentimeter hohes Deckchen legt sich über Garten, Straße und Bürgersteig.
„Jeder Hauseigentümer ist verpflichtet, auf dem Gehweg vor seinem Grundstück Schnee zu räumen“, sagt meine Mutter und bittet mich, diese Aufgabe zu übernehmen. Als ich wenig später auf der Suche nach dem Schneeschieber ins Freie trete, ist das weiße Deckchen ringsum schon wieder getaut; vertrautes Asphaltgrau erfreut die Blicke der anwohnenden Bürger, Gott sei Dank hat sich die vorgeschriebene Ordnung von selbst wieder hergestellt.

Niso besucht in einer privaten Sprachschule jeden Tag einen Deutschkurs. Warum denn das, werde ich manchmal gefragt, kann sie nicht die Sprache bei mir lernen, schließlich bin ich ihr Mann und dazu noch Deutschlehrer? Nun, antworte ich dann gern, so einfach ist es leider nicht, als Mann möchte ich nicht so oft auch noch Pädagoge sein, und zusammen mit anderen in der Gruppe lernt es sich leichter, weil es ein echtes Kommunikationsinteresse gibt, eine Neugierde, zu erfahren, wer der Kursnachbar ist, und mangels anderer gemeinsamer Sprache geht das nur auf Deutsch.
In der Leipziger Christengemeinschaft, sozusagen „meiner“ Kirche, in der ich getauft und konfirmiert bin, sehen wir das jährliche Oberufer Weihnachtsspiel. Ich treffe Matthias, einen alten Bekannten aus der Jugendzeit.
„Wo bist du und was machst du?“, fragt Matthias.
Ich erzähle etwas von Baikalsee, Sibirien und Deutschunterricht.
„Na, das ist doch mal eine gute Antwort auf so eine langweilige Standardfrage“, sagt Matthias und wir lachen.

Zum ersten Mal im Leben ist Niso auf einem richtigen Flohmarkt
Eine tolle Erfindung: die Apfelschäl- und Entkern-Maschine
Stolz nimmt Maja das Akkordeon des Großvaters in die Hand
Nach einem halben Jahr fahrradfreier Zeit in Ulan-Ude ist die Radrunde in Deutschland ein tägliches Bedürfnis
Am Störmthaler See
Zwei Freunde des Lesens