„Wenn die beiden deutschen
Professoren unseren Bus betreten, dann bitte ich darum, sie mit Applaus zu
empfangen. Sie haben vom Wissenschaftlichen Rat unserer Universität Ehrenmedaillen
erhalten! Zum ersten Mal, dass Ausländer diese Auszeichnung bekommen haben!“
Anatoli, selbst Professor an unserem Lehrstuhl, instruiert seine Kollegen (wie
wahrscheinlich zuvor den Wissenschaftlichen Rat). Zusammen mit mir warten sie
auf die Abfahrt zum Baikalsee, eine Art Betriebsausflug zum Abschluss der vergangenen
Seminarwoche. Anatolis Freunde, zwei alte Herren, Germanisten einer
westdeutschen Hochschule, sind auch dabei. Ich finde das ganze albern und auch
ein bisschen peinlich. Vor fast zehn Jahren endete die Zusammenarbeit zwischen
Ulan-Ude und dem deutschen Institut. Warum verleihen sich die betagten Männer
noch jetzt untereinander irgendwelche Orden? Nachdem alle brav geklatscht
haben, geht es dann auch endlich los Richtung Norden, knappe zwei Fahrtstunden
nach Gremjatschinsk.
Während in Ulan-Ude kaum Schnee
liegt, durchqueren wir bald nach Verlassen der Stadt eine traumhafte
Winterlandschaft mit immergrünen Kiefern und leuchtend orange-gelben Lärchen
und Birken des Taigawaldes. Die Felder und Straßen sind von einer unschuldigen
weißen Schicht Neuschnee bedeckt. „Anschnallen! Strafe 1000 Rubel!“ steht vorne
im Bus, „Beachten Sie die Geschwindigkeitsbegrenzung“, sagt ein Hinweisschild
an der sich auf- und ab windenden Straße. Überraschend tauchen zwei Autowracks
vor uns auf, Polizei und Rettungswagen stehen daneben, am Straßenrand liegen
zwei leblose, abgedeckte Körper; hier kam wohl jede Hilfe zu spät.
Am nächsten Morgen mache ich mich
eher auf den Rückweg nach Ulan-Ude als die Kollegen, um auf halber Strecke noch
einen Zwischenstopp in Baturino einlegen zu können. Erst nach einer geschlagenen
Stunde (und als die Minusgrade schon begannen unter meine Daunenjacke zu
kriechen) erbarmt sich jemand des freundlich winkenden Trampers am Straßenrand
und nimmt mich mit, zwei Holzfäller, von ihrer 20-Tage-Schicht in die Stadt
zurückkehrend. Der 24jährige, auf mich dem Äußeren nach etwa so alt wie ich
wirkende Zhenja fragt mich, nebenbei an seinem Vormittagsbier nippend, wer
Angela Merkel sei. Ich versuche, ihm das politische System Deutschlands zu
erklären, und warum eigentlich niemand unseren Präsidenten kennt.
Das winzige Dorf Baturino überragt
ein in strahlendem Weiß gekalkter Kirchenbau, das Sretensker Frauenkloster. Ich gehe hinein und gerate in eine
Führung für eine Touristengruppe. Mutter
Olga, eine ganz in Schwarz gehüllte junge Frau, eine der 15 Nonnen des
Klosters, weist auf die einen Meter dicken Wände hin und erklärt den Aufbau der
Ikonenwand. Die an den Seiten hängenden Ikonenbilder haben fast alle ein
kleines, lupenartiges Glasfensterchen, unter dem sich Reliquien des
betreffenden Heiligen verbergen – ein Stück vom Haar, vom Bart oder vom Gewand
vielleicht. Nachdem die Gruppe gegangen ist, genieße ich die Stille, kaufe bei
Mutter Olga zwei Kerzen und stelle sie andächtig auf.
Ich besteige einen kleinen Berg
hinter dem Dorf, auf dessen Gipfel ein großes weißes Holzkreuz steht.
Schneeflocken wirbeln im Wind, es liegt Pulverschnee, knorzige,
brandgeschwärzte Kiefern versperren den Weg. Ich komme mir vor wie in einem
Bild von Caspar David Friedrich, „Kreuz in der Taiga“ könnte es heißen. Von oben
betrachte ich Kirche und Klosteranlage – ein Gartengrundstück, etwas
Landwirtschaft, noch ein Dutzend Häuschen dazu, die übliche Kolchosen-Ruine,
das ist schon der ganze Ort. Zu atheistischen Sowjetzeiten war ein Klub in dem
Sakralbau, was ihn vor dem völligen Verfall bewahrte; seit 2000 gibt es das
orthodoxe Frauenkloster, das einzige in Burjatien. Im Unterschied zur
Westkirche sind russische Klöster nicht in Ordensgemeinschaften organisiert. –
Nach dem Abstieg treffe ich noch einmal auf Mutter Olga, die mich in die Trapeznaja führt, das Refektorium, wo
Nonnen und Arbeiter (natürlich an getrennten Tischen) speisen; ich darf mich
mit Tee, Suppe und Reis stärken, bevor ich mich wieder an die Straße stelle.
Wieder warte ich und warte und schaue mit zunehmendem Ärger den dicken leeren
Autos hinterher, die an mir vorbeibrausen. Nach über einer Stunde hält ein
klappriger kleiner Lada. So sehr ich den Winter liebe: vergebliches, hoffendes
Herumstehen bei minus acht Grad ist kein Zuckerschlecken.
Heute habe ich auf dem Markt
Birnen aus Holland gekauft. Aus Holland! Eigentlich hat Russland die Einfuhr
von Obst und Gemüse aus der EU untersagt. Die Lebensmittel werden zuerst nach
Weißrussland eingeführt, bekommen dort ein
neues Etikett, und schon ist das Embargo umgangen: holländischen Birnen „produziert in Belarus“ erfreuen
die russischen Verbraucher.