Sonntag, 30. Oktober 2016

Baturino



„Wenn die beiden deutschen Professoren unseren Bus betreten, dann bitte ich darum, sie mit Applaus zu empfangen. Sie haben vom Wissenschaftlichen Rat unserer Universität Ehrenmedaillen erhalten! Zum ersten Mal, dass Ausländer diese Auszeichnung bekommen haben!“ Anatoli, selbst Professor an unserem Lehrstuhl, instruiert seine Kollegen (wie wahrscheinlich zuvor den Wissenschaftlichen Rat). Zusammen mit mir warten sie auf die Abfahrt zum Baikalsee, eine Art Betriebsausflug zum Abschluss der vergangenen Seminarwoche. Anatolis Freunde, zwei alte Herren, Germanisten einer westdeutschen Hochschule, sind auch dabei. Ich finde das ganze albern und auch ein bisschen peinlich. Vor fast zehn Jahren endete die Zusammenarbeit zwischen Ulan-Ude und dem deutschen Institut. Warum verleihen sich die betagten Männer noch jetzt untereinander irgendwelche Orden? Nachdem alle brav geklatscht haben, geht es dann auch endlich los Richtung Norden, knappe zwei Fahrtstunden nach Gremjatschinsk.

Während in Ulan-Ude kaum Schnee liegt, durchqueren wir bald nach Verlassen der Stadt eine traumhafte Winterlandschaft mit immergrünen Kiefern und leuchtend orange-gelben Lärchen und Birken des Taigawaldes. Die Felder und Straßen sind von einer unschuldigen weißen Schicht Neuschnee bedeckt. „Anschnallen! Strafe 1000 Rubel!“ steht vorne im Bus, „Beachten Sie die Geschwindigkeitsbegrenzung“, sagt ein Hinweisschild an der sich auf- und ab windenden Straße. Überraschend tauchen zwei Autowracks vor uns auf, Polizei und Rettungswagen stehen daneben, am Straßenrand liegen zwei leblose, abgedeckte Körper; hier kam wohl jede Hilfe zu spät.
Am nächsten Morgen mache ich mich eher auf den Rückweg nach Ulan-Ude als die Kollegen, um auf halber Strecke noch einen Zwischenstopp in Baturino einlegen zu können. Erst nach einer geschlagenen Stunde (und als die Minusgrade schon begannen unter meine Daunenjacke zu kriechen) erbarmt sich jemand des freundlich winkenden Trampers am Straßenrand und nimmt mich mit, zwei Holzfäller, von ihrer 20-Tage-Schicht in die Stadt zurückkehrend. Der 24jährige, auf mich dem Äußeren nach etwa so alt wie ich wirkende Zhenja fragt mich, nebenbei an seinem Vormittagsbier nippend, wer Angela Merkel sei. Ich versuche, ihm das politische System Deutschlands zu erklären, und warum eigentlich niemand unseren Präsidenten kennt.
Das winzige Dorf Baturino überragt ein in strahlendem Weiß gekalkter Kirchenbau, das Sretensker Frauenkloster. Ich gehe hinein und gerate in eine Führung für eine Touristengruppe. Mutter Olga, eine ganz in Schwarz gehüllte junge Frau, eine der 15 Nonnen des Klosters, weist auf die einen Meter dicken Wände hin und erklärt den Aufbau der Ikonenwand. Die an den Seiten hängenden Ikonenbilder haben fast alle ein kleines, lupenartiges Glasfensterchen, unter dem sich Reliquien des betreffenden Heiligen verbergen – ein Stück vom Haar, vom Bart oder vom Gewand vielleicht. Nachdem die Gruppe gegangen ist, genieße ich die Stille, kaufe bei Mutter Olga zwei Kerzen und stelle sie andächtig auf.
Ich besteige einen kleinen Berg hinter dem Dorf, auf dessen Gipfel ein großes weißes Holzkreuz steht. Schneeflocken wirbeln im Wind, es liegt Pulverschnee, knorzige, brandgeschwärzte Kiefern versperren den Weg. Ich komme mir vor wie in einem Bild von Caspar David Friedrich, „Kreuz in der Taiga“ könnte es heißen. Von oben betrachte ich Kirche und Klosteranlage – ein Gartengrundstück, etwas Landwirtschaft, noch ein Dutzend Häuschen dazu, die übliche Kolchosen-Ruine, das ist schon der ganze Ort. Zu atheistischen Sowjetzeiten war ein Klub in dem Sakralbau, was ihn vor dem völligen Verfall bewahrte; seit 2000 gibt es das orthodoxe Frauenkloster, das einzige in Burjatien. Im Unterschied zur Westkirche sind russische Klöster nicht in Ordensgemeinschaften organisiert. – Nach dem Abstieg treffe ich noch einmal auf Mutter Olga, die mich in die Trapeznaja führt, das Refektorium, wo Nonnen und Arbeiter (natürlich an getrennten Tischen) speisen; ich darf mich mit Tee, Suppe und Reis stärken, bevor ich mich wieder an die Straße stelle. Wieder warte ich und warte und schaue mit zunehmendem Ärger den dicken leeren Autos hinterher, die an mir vorbeibrausen. Nach über einer Stunde hält ein klappriger kleiner Lada. So sehr ich den Winter liebe: vergebliches, hoffendes Herumstehen bei minus acht Grad ist kein Zuckerschlecken. 

Heute habe ich auf dem Markt Birnen aus Holland gekauft. Aus Holland! Eigentlich hat Russland die Einfuhr von Obst und Gemüse aus der EU untersagt. Die Lebensmittel werden zuerst nach
Weißrussland eingeführt, bekommen dort ein  neues Etikett, und schon ist das Embargo umgangen: holländischen Birnen „produziert in Belarus“ erfreuen die russischen Verbraucher.




Samstag, 22. Oktober 2016

12 + 12 = 72



















Am Montag Morgen schaute ich aus dem Fenster und erlebte eine Überraschung: dicke Schneeflocken tanzten vom Himmel herab, und die ganze Stadt war in eine flauschig und gemütlich aussehende, strahlend weiße Schneedecke gehüllt. Die Verkehrsgeräusche von der Straße drangen wie gedämpft ans Ohr, und Autos sowie Fußgänger bewegten sich gleichsam tastend und langsam vorwärts. Inzwischen liegt der Schnee nur noch in Resten, aber seine Zeit wird kommen, bald wird er auch die südlichen Gegenden Sibiriens unerbittlich im Griff haben, ein halbes Jahr lang.
In der nächsten Woche steht ein besonderes Ereignis an, ein Seminar mit Gästen aus der Ferne. Vier Dozenten werden anreisen, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sie werden Vorträge halten über linguistische Themen und über Literaturwissenschaft, auch ich beteilige mich und spreche – als Grammatik-Fan, der ich nun einmal bin – über das Passiv und über die Zeitformen im Deutschen. Das Publikum werden Studenten sein und etwa 30 Lehrkräfte aus burjatischen Schulen und von anderen Universitäten, für die diese Veranstaltung als Weiterbildungsmaßnahme gilt. In dieser Woche habe ich Gebäck und Einweg-Geschirr eingekauft für die Kaffeepause zwischen den Vorlesungen, habe Programmzettel ausgedruckt, schicke Tüten gepackt mit Mappen, die jeder Seminarteilnehmer bekommt und viele Kleinigkeiten mit den Kollegen abgesprochen. Organisation war bisher nicht unbedingt meine Hauptbeschäftigung, ich lerne dabei täglich dazu und erhalte täglich neue, interessante Einblicke. Manchmal staune ich auch ein wenig.

Gestern kam Anatoli zu mir ins Büro, ein Mann um die sechzig, viel beschäftigt, mit wichtigen, großen Dingen im Kopf, die graue Eminenz bei uns am Lehrstuhl, zuständig für internationale Kontakte. Er hat jahrelang die Deutsch-Abteilung geleitet und kennt die Leute, die man kennen muss, um irgendetwas zu erreichen. Ich habe bei ihm immer den Eindruck, dass er in Gedanken ganz weit weg ist, nicht richtig in der Gegenwart, und dass er die täglichen Abläufe nur wie aus großer Ferne wahrnimmt, aber dabei die entscheidenden Fäden im Hintergrund spannt. Jedenfalls kam er zu mir ins Büro, wie immer leicht in Eile, und fragte nach den Teilnahmebescheinigungen für die Lehrer, die diese nach Seminarende bekommen sollen. Ein wichtiges Dokument, denn Lehrkräfte müssen ihrerseits nachweisen, dass sie sich regelmäßig fortbilden.
Habe ich schon ausgedruckt, meinte ich und zeigte sie ihm, ein schickes farbiges Papier: Hiermit wird bestätigt, dass Herr/Frau soundso am Seminar teilgenommen hat, usw. usw.
Die Seminardauer fehlt, meinte Anatoli. Zweiundsiebzig akademische Stunden.
Kein Problem, schreibe ich dazu, erwiderte ich und wurde dann kurz stutzig: Zweiundsiebzig? Montag und Dienstag zwölf, Mittwoch und Donnerstag nochmal zwölf, sind gleich vierundzwanzig, zählte ich vor und sah ihn fragend an.
Die häusliche Vor- und Nachbereitung kommt doch dazu, sagte Anatoli. Das rechnen wir immer so.
Ich blickte ihn schweigend an und dachte mir meinen Teil.
Na gut, dann schreibst du sechsunddreißig, hörte ich ihn sagen und spürte seine Hand freundschaftlich auf meine Schulter klopfen. Wir verstehen uns doch, ich weiß, du bist flexibel und wir finden immer eine Lösung. Und schon war er wieder draußen.  

So entstehen also Zahlen auf russischen Dokumenten. Aber was können die armen Lehrkräfte dafür, dass ihnen irgendein Ministerium eine utopisch große Weiterbildungs-Stundenmenge vorschreibt? Wenn das ganze System sinnlos ist, kann nicht an einer Stelle auf einmal ein Deutscher sitzen und alles korrekt machen wollen.-

Mein Chor ist zurzeit in einem kläglichen Zustand. Nur wenige Studenten kommen regelmäßig zur Probe, jedesmal tauchen neue auf und andere, auf die ich schon glaubte mich verlassen zu können, verschwinden. Mein Versuch, „Die Gedanken sind frei“ mehrstimmig oder wenigstens zweistimmig zu singen – ein deutsches Volkslied mit interessantem, für Deutschlerner sehr nützlichem Text – scheiterte leider. Niemand konnte sich eine zweite Stimme merken. Überhaupt ist es schwer, Stücke in Original-Tonhöhe zu singen. Die Frauen kommen nicht so hoch, aber wenn ich die Melodie tiefer nehme, kann ich zur Unterstützung nicht mit dem Klavier mitspielen. Männerstimmen gibt es fast keine. „Heut ist ein Fest bei den Fröschen am See“, das klappte einigermaßen. Aber mit diesem Kinderkanon kann man kaum einen Auftritt veranstalten…

Gestern Abend war ich in einer öffentlichen Banja, der russischen Sauna. Am besten hat mir eine Einrichtung mit der Aufschrift „russkij dusch“ im Vorraum gefallen. Ein Stück über Kopfhöhe ist ein Eimer angebracht mit einer Schnur daran. Wenn man an ihr zieht, dreht sich der Eimer um und leert seinen Inhalt – eiskaltes Wasser – schlagartig über dem Kopf aus.

Sonntag, 16. Oktober 2016

Macht und Geld



Kürzlich bekam ich eine Email von meinem Kollegen aus der westsibirischen Stadt Tjumen. Der Schriftsteller Ilija Trojanow würde nächstes Jahr zu einer Lesereise nach Russland kommen, ob ich nicht auch Lust hätte, ihn in Ulan-Ude zu empfangen und eine Lesung zu organisieren? Ein berühmter Autor zu Gast, warum nicht, antwortete ich erfreut. Meine Begeisterung schwand etwas, als ich den Titel des Buches las, aus dem Trojanow vorlesen möchte: Macht und Widerstand lautet er. Als westlicher Ausländer im heutigen Russland eine Veranstaltung mit diesem Titel zu bewerben birgt ein gewisses Risiko; es geht zwar um die Zustände im kommunistischen Bulgarien, aber manche Leute könnten es trotzdem falsch auffassen – Westler, die zum Sturz von Putin aufrufen, den nächsten Maidan veranstalten wollen? Dann ergeht es mir womöglich wie jener amerikanischen Doktorandin, die zum Verlassen des Landes inclusive fünfjähriger Einreisesperre aufgefordert wurde, weil sie die Burjaten zu ihrem „nationalen Selbstverständnis“ befragen wollte. Vielleicht könnte man auf das Plakat schreiben „Trojanow liest aus seinem neuen Buch“, ohne den Titel zu erwähnen? Ich muss die Sache noch einmal überdenken.
Am letzten Donnerstag kam ein kleiner, runzliger Burjate mit leichter Alkoholfahne zu mir ins Büro mit dem Auftrag, eine Wandtafel vor der Tür im Gang anzubringen: ein Brett in schickem Design, das ich bei einer Reklameagentur in Auftrag gegeben hatte, mit dem Namen meiner Organisation in goldenen Lettern und modernen Plastikfächern zum Einstecken von Infoprospekten zum kostenlosen Mitnehmen. Der Mann, offensichtlich verantwortlich für Reparaturen und Handwerkstätigkeiten im Haus, hatte eine kleine Tasche mit ein paar Werkzeugen dabei. Nach ein paar Versuchen, eine Schraube direkt mit der Hand in die Ziegelwand zu drehen, gab er kopfschüttelnd auf. Wie wäre es mit einer Bohrmaschine, schlug ich vor. Die gäbe man ihm nicht, er arbeite schließlich nur mit halber Stelle hier, bekam ich zur Antwort und sah ihn wieder von dannen ziehen.
Dass Universitätsdozenten in Russland wenig verdienen, ist bekannt, wie wenig genau, war mir bis vor kurzem unklar. Zufällig fiel mein Blick auf eine im Lehrerzimmer ausliegende Liste, aus der das Gehalt meiner Kollegen hervorgeht. Ein mit ganzer Stelle arbeitender Dozent kommt auf 19000 Rubel monatlich, sofern er über einen Doktortitel verfügt. Die Position der Lehrstuhlleitung wird mit 27000 Rubeln vergütet. Eine Assistentin mit Dreiviertelstelle kommt auf knapp 7000. Man teile die Summe durch 70 und denke daran, dass Lebensmittel, Kleidung und Haushaltswaren oft ähnlich teuer sind wie in  Deutschland – unglaublich. Irgendwie kann ich auch verstehen, warum das Engagement der Kollegen manchmal zu wünschen übrig lässt, warum manche mitten im Unterricht zum Kaffeetrinken verschwinden, nachdem sie die Studenten mit einer Aufgabe versorgt haben, warum kaum jemand pünktlich ist, einige mit Uralt-Lehrbüchern arbeiten und kein Interesse haben, sich in neue Lehrwerke einzuarbeiten. Meine Freundin Niso arbeitet bei einem Autoersatzteile-Händler und kommt auf 30000 Rubel monatlich, was als nicht schlecht gilt – sie hat allerdings auch eine 60-Stunden-Woche.
Ich habe Niso einen großen Wanderrucksack und einen minusgradetauglichen Schlafsack besorgt – kein leichtes Unterfangen hier, wo Geschäfte vom Typ Globetrotter selten, schlecht sortiert und meistens auf Jagd und Fischerei spezialisiert sind. Unser Wochenenausflug führte uns wieder vom Schlafenden Löwen aus am Ufer der Selenga entlang, mit Zeltübernachtung auf einem malerischen Bergsattel. Abends trafen wir auf zwei Fischer am Lagerfeuer, die mit Netzen Omul fingen, den berühmten Baikal-Fisch, der zum Ablaichen den Fluss hinauf schwimmt - eigentlich verboten, aber irgendwovon muss man ja leben. Es wehte ein kräftiger, frischer Wind, die Nacht war bewölkt und deshalb nicht allzu kalt. Trotzdem verwandelte sich unser im Vorzelt gelagertes Wasser in Eis. Gegen Morgen fielen die ersten ganz zarten und nach der Landung sofort wieder verschwindenden Schneeflocken. Burjatien - was für ein weites, menschenleeres und schönes Land!

Hauswurz (Sempervivum) - ein häufig anzutreffender Steppenbewohner

 Ein Teil unseres Kollegiums im Lehrerzimmer; links Lukas, Praktikant aus der Schweiz

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Burjatische Volksmusik



Unter den vier Universitäten, die es in Ulan-Ude gibt, sind drei, an denen Deutsch unterrichtet wird: die Technische Universität, das Institut für Kultur und die Burjatische Staatliche Universität, an der ich arbeite. Vor einiger Zeit hielt ich am Institut für Kultur einen Vortrag über Studienmöglichkeiten in Deutschland und Stipendienprogramme, um ein Studium finanzieren zu können. Obwohl der Saal voll war und vielleicht 100 Leute gebannt meinen Worten lauschten, zweifle ich daran, dass auch nur ein einziger der Zuhörer den Weg nach Deutschland findet: zu niedrig ist das Niveau der Deutsch- oder der Englischkenntnisse, die man bräuchte, um an einer deutschen Uni genommen zu werden. Nach dem Ende meiner Präsentation erhob sich eine rundliche burjatische Dame und überreichte mir mit ein paar netten Worten einige Notenblätter: Larisa Sanzhapova, die Vorsitzende des Burjatischen Komponistenverbandes, übergab mir drei Kompositionen für Violoncello und Klavier. Eigens für mich bearbeitet, damit ich es mit ihr spielen kann. Natürlich war ich gerührt.

Im Institut für Kultur werden Musiker ausgebildet, weniger das Spiel auf klassischen Instrumenten als vielmehr Volksinstrumente, russische und burjatische. Gestern hatte ich die Gelegenheit, bei einer Probe des Orchesters Burjatischer Volksinstrumente zuzuhören: Hübsch gekleidete, artige junge Burjatinnen an ihren exotisch anmutenden Tschánsen, Jatagás und Iótschins, junge Männer an der Morin-Chuur genannten Pferdekopfgeige, an einer Flöte namens Limba und an einer Art krummgebogener Klarinette. Die Musik ist überwiegend pentatonisch, farbenreich, schwungvoll und rhythmisch, auch eine russische Bass-Balalaika und eine moderne Trommel waren dabei, die eigentlich nicht in die Reihe der burjatischen Volksinstrumente gehören.

Heute habe ich mit Larisa ihre drei Stücke geprobt. Sie heißen „Hirschgeweih“, „Große Bärin“ und „Traum im Wald“, romantisch anmutende musikalische Bilder mit Nationalkolorit, die ich im Dezember mit ihr vorspielen soll, auf einem eigens ihren Kompositionen gewidmeten Konzertabend im Großen Saal der Oper. Die Komponistin war zufrieden und meinte, Cello klänge doch eigentlich noch besser als Pferdekopfgeige.


Donnerstag, 6. Oktober 2016

Erster Oktober, erster Schnee

 

Auf dem Bahnhof in Ulan-Ude, kurz bevor ich einen Fernzug nach Westen bestieg, drückte mir ein Mann zentralasiatischen Aussehens 500 Rubel in die Hand und bat mich, einen Karton mit zwei Autoscheinwerfern mitzunehmen. Sein Bruder würde diese in Novosibirsk am Bahnsteig abholen. Es sei dringend, die Post bräuchte zu lange, und die Zugbegleiter würden nichts mehr annehmen, wie es früher noch möglich war. Nach kurzem Zögern willigte ich ein. Wo er herkäme? Aus Kirgisien, wohnt aber schon lange in Russland und verkauft auf dem Narodnyj rynok in der Nähe des Busbahnhofes Kleidung. Meine Freundin ist in Tadschikistan geboren, meinte ich, wahrscheinlich, um seine Sympathie zu gewinnen, das ist ja gleich um die Ecke dort. – Auf diese Weise übernahm ich meinen ersten inoffiziellen Kurierdienst mit der Bahn.
Auf einer fast 40-stündigen Zugfahrt nach Westen zogen endlose, leuchtend gelb belaubte Birkenwälder und Lärchen an mir vorbei. Auf einer Anhöhe kurz vor Taischet, dort, wo die BAM von der Transsibirischen Magistrale abzweigt, gab es dann eine Überraschung: der erste Schnee! Und das am ersten Oktober, wo astronomisch gesehen doch gerade mal der Herbst begonnen hat.
In Novosibirsk, wo ein Treffen mit in anderen sibirischen Städten arbeitenden deutschen Kulturmittlern anstand, quartierte ich mich als Gast bei der Familie meiner Kollegin Anja ein. Sie wohnt in Akademgorodok, ein Stadtteiles mitten im Wald, als Akademikersiedlung in den 50er Jahren gegründet und mit einer Vielzahl berühmter Institute. Am Bahnhof befindet sich ein Eisenbahnmuseum mit historischen Loks und Waggons unter freiem Himmel: ein Wagen der 4. Klasse aus den 30er Jahren mit zwei Kohleöfen inmitten des Fahrgastraumes, sowjetische Wagen aus DDR-Produktion der 70er (Ammendorfer Waggonwerk) und Gefängniswagen mit Abteilen ganz ohne Fenster. Wahrscheinlich machen viele europäische Transsib-Reisende einen Abstecher hierher, was den viermal teureren Ausländer-Eintrittspreis erklärt, den ich aber umging, da es mir gelang, akzentfrei auf russisch „eine Erwachsenenkarte, bitte“ zu sagen.
Anlässlich eines Empfanges zum Tag der deutschen Einheit konnte ich wieder einmal den deutschen Konsul erleben, der die deutsch-russische Freundschaft trotz aller politischen Differenzen beschwor. Der Novosibirsker Bürgermeister antwortete in seiner Rede in einem gleichen versöhnlichen Tonfall. Noch am Abend des 3. Oktober bestieg ich wieder den Zug Richtung Osten. Westlich des Baikals hatte sich die Landschaft in nur zwei Tagen komplett gewandelt und war jetzt weiß mit geschlossener Schneedecke. Der Winter ist die Jahreszeit, die man wohl am ehesten mit Sibirien verbindet; hier scheint er schon Anfang Oktober Einzug zu halten.

Realität vor 80 Jahren: ein Wagen der 4. Klasse mit harten Holzbänken und zwei Kohleöfen in der Mitte, zu sehen nur noch im Museum (oben); Realität auch heute noch: Beladung von Passagierwagen mit Kohle zum Heizen (unten)