Mittwoch, 31. Juli 2019

Sehnsucht nach der Sowjetmacht. Ein Reisebericht aus Transnistrien



Als sich die Sowjetunion auflöste, wurde Moldau 1991 ein eigenständiger Staat. Doch die neue Unabhängigkeit von Russland wurde nicht von allen begrüßt. In der „transnistrischen“ Region entfachten prorussische Gruppen einen Aufstand, mehr als 1000 Menschen starben. Seit den frühen neunziger Jahren kontrollieren prorussische Separatisten die Zone. Sie können sich auf schlagkräftige Unterstützung verlassen: Die russischen Truppen, die noch aus Sowjet-Zeiten in der Region stationiert waren, wurden nie abgezogen. Am völkerrechtlichen Status konnte das allerdings nichts ändern: Kein einziger Staat der Erde  hat die „Unabhängigkeitserklärung“ der Separatisten anerkannt. Diplomatische Beziehungen existieren nicht. Die Geldscheine, die von der „Regierung“ gedruckt werden, sind außerhalb der Separatisten-Zone wertlos. Mit transnistrischen „Pässen“ lässt sich weltweit keine Grenze überqueren.
www.auswaertiges-amt.de: Das sollten Sie über den „Transnistrien“-Konflikt wissen 

Auf tragische Weise haben die Einwohner Tiraspols den Zerfall der Sowjetunion erlebt. Das gewaltsame Aufdrängen der Idee eines nationalistischen Staates rief öffentlichen Widerstand hervor, das Gebiet und die Stadt hatten niemals in ihrer Geschichte Konflikte zwischen den Völkern gekannt und wollten sie auch Anfang der 90er Jahre nicht zulassen. Am 2. September 1990 rief die Außerordentliche Versammung der Deputierten der Transnistrischen Region die Pridnestrowsker Moldauische Republik mit der Hauptstadt Tiraspol aus. Leider konnte der Kampf mit politischen Mitteln nicht die bewaffnete Verteidigung ersetzen.
Tiraspol: Eine führende Stadt. Flyer von 2015

Foreign tourists never miss the oportunity to visit Tiraspol, because this is a unique chance to dive into a lost ex-Soviet atmosphere easily felt while walking by these wide boulevards. The monuments of communist leaders, the deafening silence, many inscriptions in Russian will immediately throw you back in the USSR. Some call Tiraspol „The museum of Communism“.
aus „Altitude“, der Bordzeitschrift der nationalen Fluggesellschaft Moldawiens Air Moldova

Jeden Morgen fährt ein Zug von der moldawischen Hauptstadt Chişinău in die ukrainische Hafenstadt Odessa. Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt; das Dritte-Klasse-Abteil mit den Reihen zu je drei nebeneinander liegenden Plätzen ist voll mit russisch sprechenden jungen Leuten. Unspektakuläre felder- und wäldchenbedeckte Hügel ziehen an uns vorbei. Nach etwa anderthalb Stunden – nach sibirischen Maßstäbe würde ich sagen: die Reise hat gerade begonnen – überqueren wir den Fluss Dnjestr und halten gleich darauf in Tiraspol. Umgerechnet 1,10 € hat das Ticket bis hierher gekostet. Ich schultere meinen Rucksack und steige fast als einziger Passagier aus.
Ein am Bahnsteig wartender uniformierter Mann bittet mich in die leere Bahnhofshalle, wo ich an einem Schalterfenster mit der Aufschrift „Zoll“ meinen deutschen Pass zeige. Der junge Beamte dahinter wendet ihn streng hin und her, fragt mich nach dem Ziel und der Dauer meines Aufenthaltes, dann lobt er mich für mein gutes Russisch. Sein Gesicht hellt sich auf, als er erfährt, dass ich in Russland lebe. Ich bekomme ein kassenzettelähnliches Papier mit der Überschrift „Migration card“; der Reisezweck „Tourismus“ ist verzeichnet und die erlaubte Aufenthaltsdauer von einer Woche angegeben, obwohl ich gesagt habe, dass ich nur zwei Tage bleiben möchte. Für alle Fälle.
Auf dem kleinen Bahnhofsvorplatz tausche ich moldawische Lei in transnistrische Rubel und bestelle mir in einem Freiluftimbiss einen Plastikbecher Kaffee und zwei Piroggen. Zwei Tische weiter warten routiniert fluchende Taxifahrer auf Kunden. Ein hagerer alter Mann setzt sich mir gegenüber, holt eine Wasserflasche heraus und bietet mir an, daraus zu trinken.
„Danke, Wasser habe ich selber."
„Aber das ist doch Wodka!“ Er kippt sich einen Schluck in den Kaffee und fängt an zu erzählen, von seiner Arbeit als Wächter, bei der er morgens einmal das Tor aufmachen und es abends schließen müsse und ansonsten den ganzen Tag fernsehen könne: genau der richtige Job, keine Unter-, aber auch keine Überforderung.
Ich atme durch und schaue mich um: nun bin ich also in Transnistrien, dem „Machtbereich der Separatisten“, wie das deutsche Außenministerium schreibt, das vor Reisen hierher nicht mehr generell abrät, sondern nur informiert, dass die Deutsche Botschaft in Chişinău „keine konsularische Betreuung bereitstellen“, also beispielsweise bei Verlust des Reisepasses nicht helfen kann. Ich höre etwas abwesend dem mir sein Leben erzählenden Wächter zu, lese das kyrillische Menü des Imbisses, betrachte die grauen Plattenbauten und finde, dass es sich hier doch ganz wie in Russland anfühlt. Als sich Ende der achtziger Jahre der Austritt Moldawiens aus der Sowjetunion abzeichnete und über eine Vereinigung mit Rumänien nachgedacht wurde, erklärte sich der schmale Landstreifen östlich des Dnjestr, dessen Bevölkerung in der Mehrheit russischsprachig ist, für von Moldawien unabhängig und trat der Sowjetunion bei – kurz bevor diese aufhörte zu existieren. Der Versuch moldawischer Streitkräfte im Jahre 1992, den abtrünnigen Landesteil gewaltsam wieder anzugliedern, schlug nach einem halben Jahr Kampfhandlungen und – je nach Quelle – fünfhundert bis tausend Toten fehl. Transnistrien hat seitdem eine eigene Regierung, eigene Grenzkontrollen, eigenes Geld, eigene Pässe, eigene Briefmarken und drei Amtssprachen: das dominierende Russisch, Ukrainisch und Moldawisch, was hier nichts anderes als mit kyrillischen Buchstaben geschriebenes Rumänisch ist. Allerdings ist der Staat auf keiner Karte eingezeichnet. Ein Land mit einer halben Million Menschen, wenig größer als das Saarland, nur für sich selbst existent, von niemandem offiziell anerkannt.
Zwei alte Mütterchen frage ich nach dem Weg ins Zentrum. Sie wollen wissen, wo ich herkomme, und ich erkläre ihnen, dass ich Deutscher bin, der seit vier Jahren in Russland wohnt. Ja, sie hätten auch im Fernsehen gesehen, was jetzt für ein schreckliches Chaos herrsche in Deutschland und dass deshalb immer mehr Leute in den Osten übersiedeln würden. Ich belasse sie in ihrem Glauben. Als erstes staune ich über die neuen Räume einer Touristeninformation, so ziemlich das Letzte, was ich hier erwartet hätte: Stadtpläne, Kühlschrankmagneten, Flyer mit Tourenvorschlägen, eine Landkarte zum Aufhängen mit der Überschrift Pridnestrovie is the best country in the world. Überall ist Lenin abgebildet und das transnistrische Wappen mit Hammer, Sichel und Ährenkranz. Erkunde das Land, das nicht existiert! Persönlich empfohlen von Wladimir Iljitsch! Man scheint entdeckt zu haben, sich mit einem Augenzwinkern selbst zu vermarkten, sich anzupreisen als Reiseziel für alle, die noch ein wenig die untergegangene Sowjetunion erleben möchten. Die Bezeichnung Transnistrien würden die Einheimischen selbst nie verwenden: trans, also hinter dem Fluss, das ist die geografische Perspektive der rumänischen und faschistischen Besatzer; Pridnestrovie heißt es hier, am Dnjestr.
Mein Couchsurfing-Gastgeber Vitalij ist ein großer, schlaksiger Typ mit kahlrasiertem Schädel, kurzer Hose, weit schlackerndem Hemd, Sonnenbrille und fein geschnittenem Gesicht. In seiner Wohnung im sechsten Stock eines Siebziger-Jahre-Plattenbaus führt er mich in das Gästezimmer, dessen eine Wand von einem riesigen, pflanzenlosen Aquarium eingenommen wird, in dem sich sechs Grundeln um einige Wurzelstücke tummeln. Die Rituale, wie zuhause ein neuer Gast empfangen wird, sind weltweit sehr unterschiedlich: manche bieten Tee an, andere zeigen die Wohnung oder erklären zuerst Bad und Küche. Valerij verschwindet in einem anderen Raum und lässt mich für eine Stunde mit den Fischen allein. Nach einer Weile treffen wir uns in der Küche, wo mein Gastgeber sich schnell im Stehen etwas in der Mikrowelle Zubereitetes einwirft. Er müsse auf Arbeit fahren, in die Stadt Bendéry am anderen Flussufer, wenn ich will, könne ich einfach mitkommen.
Vitalij ist Kosmetiker von Beruf: mit einem Laserapparat entfernt er die Haare seiner Kunden, vorwiegend im Intimbereich von Frauen – keine typische Arbeit für einen Mann, gesteht er, aber ihm gefällt sie. Geboren und aufgewachsen ist er im ukrainischen Kiew, bis seine Familie Anfang der 90er in die USA auswanderte, wo er jahrelang als Apotheker arbeitete und siebentausend Dollar pro Monat verdiente. Aber es gefiel ihm nicht in der Neuen Welt, er sehnte sich nach der sowjetischen Heimat, die er in der Kindheit vierzehn Jahre lang erlebt und in allerbester Erinnerung hatte. Also ging er allein nach Kiew zurück, während seine Eltern in Amerika blieben. Kommunismus gab es dort allerdings inzwischen keinen mehr. Kurz darauf, 2014, geschah in der ukrainischen Hauptstadt auch noch der antirussische Maidan-Umsturz. Frustriert packte Vitalij seine Sachen und siedelte nach Tiraspol über, wo er mit seinem Laserapparat ein Siebtel des Gehaltes erwirtschaftet, das er in den USA bekam, für Pridnestrovie immer noch ein überdurchschnittlicher Verdienst. Ein Jahr älter als ich ist er, obwohl in seinem Couchsurfing-Profil ein jüngeres Geburtsdatum steht. Mit seinem wahren Alter sei es so schwer, Frauen kennenzulernen.
Mit dem O-Bus fahren wir über den Dnjestr in das benachbarte Bendery, vorbei an einer gepflegten Betonstele, auf der verkündet wird, dass hier 1922 das erste moldawische Elektrizitätswerk errichtet worden war, das den Namen W.I. Lenin trug. Daneben sehe ich ihn zum ersten Mal in Beton gehauen, seinen berühmten Spruch: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“. Eine Losung, mit der damals, als es noch bitterer Ernst war, wahrscheinlich keine Mathematik betrieben werden durfte: Kommunismus minus Elektrifizierung gleich Sowjetmacht, oder so ähnlich.
Während Vitalij im Friseursalon verschwindet, spaziere ich durch Bendery. Ob er in Pridnestrovie die vergangenen Zeiten findet, die er sucht? Geschäfte und Reklame wirken genauso kapitalistisch wie überall auch sonst, die Autos sind japanisch oder westlich. Nur in der Erinnerungskultur wirkt die Vergangenheit fort; statt der Opfer der kommunistischen Besatzung, wie in Moldawien, gedenkt man hier eines Aufstandes gegen die rumänischen Okkupanten oder der Helden der Sowjetunion. Ein Aushang an einem Schwarzen Brett ruft dazu auf, schon jetzt die Feier zum 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg am neunten Mai 2020 vorzubereiten, ein dreiviertel Jahr vorher. In einem Kalender ist sogar noch der siebte November als Festtag verzeichnet, der Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, der sogar in Russland längst abgeschafft ist.
An der Uferpromenade des Dnjestr wachsen Kastanien und Linden, ein schwerer, süßer Duft liegt in der Luft, es ist angenehm warm. Von einer Anlegestelle schallt die laute Popmusik eines Partyschiffes über den Fluss, Familien mit Kinderwagen promenieren auf und ab. Nur hier, wo die Städte Bendery und Tiraspol einander gegenüberliegen,  bildet der Fluss keine Grenze, sondern gehören beide Ufer zu Transnistrien. Kurz vor Ende des Bürgerkriegs, im Juli 1992, starteten moldawische Truppen noch einen erfolglosen Versuch, das auf „ihrer“ Flussseite gelegene Bendery zu erobern. Dem Ereignis wird heute als „Tragödie von Bendery“ in einem eigenen Museum erinnert. Vitalij zeigt mir vor der Rückfahrt übertünchte Einschusslöcher im Verwaltungsgebäude. Die Einhaltung des 1992 abgeschlossenen Waffenstillstandes überwacht eine noch aus Sowjetzeiten in Pridnestrovje stationierte, zurzeit etwa 1700 Mann starke Einheit der russischen Armee, deren Bestand sich allerdings fast ausschließlich aus örtlichen Soldaten rekrutiert. Sie erfülle eigentlich nur eine symbolische Funktion, schreibt die russischsprachige Wikipedia.
Wir spazieren durch das abendliche Tiraspol. Am zentralen Platz neben dem hoch zu Pferde thronenden Stadtgründer wehen stolz die Flaggen von Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach, drei für fast alle Regierungen der Weltgemeinschaft nicht existente Länder, die ihrerseits Transnistrien anerkannt haben. Alle vier sind in der „Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten“ organisiert und unterstützen sich gegenseitig. In einem Geschäft bekomme ich als Wechselgeld eine quadratische Münze aus Plastik; auf Nachfrage gibt mir die Verkäuferin noch einige runde, fünfeckige und sechseckige Exemplare, alle, die sie gerade in der Kasse hat. Sie sind schwer entzündlich und gehen im Wasser nicht unter, erklärt mir Vitalij, und aufgrund ihrer verschiedenen Form sofort für Blinde auseinanderzuhalten.
Unter einem in Stuck gehauenen Hammer in einer Sichel und stilisierten roten Fahnen erblicke ich eine neu glänzende Marmortafel, deren Inschrift lautet: „Gewidmet unseren Nachfahren, die das 50-jährige Jubiläum der Pridnestrowsker Moldauischen Republik am 2. September 2040 feiern werden.“ Früher sei an dieser Stelle eine ähnliche Tafel gewesen, angebracht von einer vergangenen Generation und gewidmet den Nachfahren, die einst das hundertjährige Jubiläum des Sieges von Sowjetmacht und Oktoberrevolution im Jahre 2017 feiern werden, sagt mein Gastgeber, eine traurige Sache, denn leider haben sich unsere Vorfahren ja geirrt, was diesen Sieg betrifft. Vielleicht beruht die neue Tafel ja auf einem ähnlichen Irrtum, denke ich, wir werden es noch erleben.
Wie überall in Russland auch sind in Transnistrien nach der Perestroika zahlreiche Kirchen wieder instandgesetzt oder neu gebaut worden. Niemand sieht einen Widerspruch darin, gegenüber des Lenindenkmals eine orthodoxe Kapelle mit goldglänzendem Zwiebeltürmchen aufzustellen und die kommunistische Symbolik hier und da um ein christliches Kreuz zu ergänzen. Kleinkriminalität gebe es praktisch keine hier, erzählt Vitalij weiter, und fast alle Supermärkte, Tankstellen und Telekommunikationsanbieter seinen in den Händen eines einzigen Oligarchen, was für Stabilität und Verlässlichkeit sorge.
Da es in Transnistrien keinen Passagierflughafen gibt, fahre ich mit dem Kleinbus wieder nach Chişinău zurück. Bei der Ausreise nach Moldawien gibt es eine kurze Kontrolle durch transnistrische Beamte, ein schneller Blick auf meinen Pass und das kassenzettelähnliche Registrierungspapier, das ich bei der Einreise bekommen hatte, das ist alles. Im Flugzeug der Fluggesellschaft Air Moldova von Chişinău nach Moskau spricht mich eine Deutsche an, die gerade zum Rammstein-Konzert in die russische Hauptstadt unterwegs ist. Sie sitzt am Gang, ich am Fenster; wir unterhalten uns eine Weile über die in der Mitte sitzende Frau hinweg, bis ich mich bei dieser dafür entschuldige. Wir kommen ins Gespräch: die ältere Dame wohnt in Bendery und besucht ihre in Moskau lebende Tochter. „Meine Kinder sind alle im Ausland“, sagt sie, „bei uns in Pridnestrovie gibt es doch keine Zukunft, wenn man keine Beziehungen nach oben hat.“ Sie freut sich, zu hören, dass ich ihr Land besucht habe, auch wenn es eigentlich nichts Besonderes zu sehen gebe, und ich solle unbedingt wiederkommen. Beim Blättern in der Bordzeitschrift stoße ich auf einen Artikel mit Tipps zur Freizeitgestaltung in Moldawien. Zu meiner Verwunderung ist auch ein Besuch in Tiraspol darunter, „eine einmalige Chance, in die vergessene Atmosphäre der ehemaligen Sowjetunion einzutauchen“. So schlecht kann das Verhältnis zum abtrünnigen Landesteil gar nicht sein, geht es mir durch den Kopf, wenn sogar die nationale Airline den Touristen rät, auch einmal dort vorbeizuschauen. Man stelle sich vor, die Ukraine würde ihren ausländischen Gästen einen Besuch der Krim empfehlen oder die Georgier einen Abstecher nach Abchasien. Undenkbar.
Zuhause zeige ich meiner Frau stolz die kuriosen schwimmenden Plastikmünzen und werfe sie in ein Wasserglas. Sofort sinken sie auf den Boden. Manches geht eben doch unter, auch wenn es keiner erwartet.

In Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens, wehen die Fahnen der ebenfalls umstrittenen Länder Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach, die sich gegenseitig in der "Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten" unterstützen
Lenin vor dem Regierungsgebäude (oben), Siegesdenkmal mit Panzer und Kapelle (unten): Kommunistische und religiöse Symbolik nebeneinander
Das Landeswappen mit der Staatsbezeichnung "Pridnestrover Moldauische Republik" in den drei Amtssprachen Russisch, Moldawisch und Ukrainisch
Das Zugticket von Chisinau nach Tiraspol und die "Migrationskarte", die man nach der Ankunft in Tiraspol bekommt (oben). Transnistrische Rubel und Münzen, darunter solche aus Plastik (unten)
Eine Brücke über den Dnjestr verbindet die zu Transnistrien gehörenden Städte Tiraspol und Bendery. Nur an dieser Stelle gehören beide Ufer zu dem abtrünnigen Land. Andernorts ist das Westufer moldawisch und der Fluss bildet die Grenze

Von den Wonnen des Weines. Eindrücke aus Moldawien




In der Reiseabteilung von Leipzigs größter Buchhandlung gibt es einfach alles: großformatige Bildbände, detaillierte Länderführer, exotische Wanderkarten über sämtliche Weltgegenden und Reiseberichte aller Abenteuerlichkeitsgrade. Vergeblich aber suche ich nach einem Werk über das Land, das ich bereisen möchte. Vielleicht kein Zufall, ist doch Moldawien gemessen an der Touristenanzahl eines der unbeliebtesten Reiseziele Europas. Der auch Republik Moldau genannte Staat zwischen Rumänien und der Ukraine hat weder Berge noch Küste, weder spektakuläre Seen noch herausragende Altstadtarchitektur. Das Land ist etwas kleiner als die Schweiz und gemessen am Durchschnittseinkommen neben der Ukraine heute das ärmste Land Europas.
Nichts Erwähnenswertes erwartend, besteige ich eine Woche später den O-Bus, der mich vom Flughafen der Hauptstadt Chişinău in ihr Zentrum bringt. Die Fahrkarte kostet vier Leu, umgerechnet zwanzig Cent; auf Schildern und Aushängen studiere ich die ungewohnten Häkchen und Dächlein, mit denen einige der hier verwendeten lateinischen Buchstaben versehen sind. Amtssprache ist Rumänisch, immer wieder ist auch Russisch zu hören. Ich erinnere mich an fleißige Moldawierinnen in meinen Potsdamer Integrationskursen, die auf der Suche nach Ausbildung und Arbeit nach Deutschland gekommen waren, da es in ihrer Heimat mit den Verdienstmöglichkeiten nicht zum Besten bestellt ist. An der Haltestelle neben dem Denkmal des ein Kreuz hoch in die Luft reckenden Nationalhelden Ştefan chel Mare  erwartet mich neben seinem schicken Audi mein Couchsurfing-Gastgeber in modischen zerrissenen Jeans, einem kurzärmligen Hemd und Tattoos an den Armen. Wladislaw setzt seine Sonnenbrille kurz ab, begrüßt mich mit souveränem Lächeln, stellt mir seine in Holland studierende Tochter auf dem Beifahrersitz vor und fragt, was ich hier in der Stadt zwei ganze Tage lang zu tun gedenke, ein halber reiche doch vollkommen. Und in der Umgebung? Naja, grüne Hügel und Weinanbau, weiter eigentlich nichts. „In Moldawien wird wunderbarer Wein produziert, weshalb es auch viele Trinker gibt. Hast du von den Anonymen Alkoholikern gehört? Ich muss jetzt gleich noch zu einem solchen Treffen. Kommst du mit?“
Kurz darauf betreten wir mit Verspätung einen kleinen Raum, in dem eng aneinander auf kleinen Stühlen und Bänken etwa vierzig Leute sitzen, die für mich auf den ersten Blick wie der Querschnitt aus einer ganz normalen, alltäglichen Menschenmenge wirken. Mein Gastgeber winkt locker in die Runde; gerade verliest ein junger Mann an einem Tischchen ein mir nicht ganz verständliches Regelwerk, dann tritt kurz Stille ein.
„Ich bin Sascha“, sagt schließlich einer der Männer auf den kleinen Stühlen an der Wand. Zustimmendes Raunen. „Hallo Sascha!“, rufen einige aufmunternd. „Ich bin Alkoholiker“, setzt er nach kurzer Überwindung fort, „seit drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen nüchtern.“ Frenetischer, ehrlicher Applaus als Antwort, dann ist der Nächste an der Reihe. Alle nennen ihre Namen, bekennen sich als Süchtige und nennen den Zeitraum, seit wann sie es geschafft haben, nicht zu trinken, bei einigen heißt es nur „heute nüchtern“. Außer dreien im Raum, eine Tochter und eine Ehefrau eines Alkoholikers und ich, sind alle persönlich betroffen. Wladislaw ist seit vier Jahren trocken. Jetzt wird mir auch klar, warum auf seinem Couchsurfing-Profil als Interessensgebiet „Erfahrungsaustausch über das Ablegen schlechter Gewohnheiten“ steht. Mein Gastgeber trank seit dem zwölften Lebensjahr, ist zweimal geschieden und hat eine eigene Firma pleitegewirtschaftet, wird er mir später erzählen, dann habe er die Kurve gekriegt und sein Leben radikal geändert; jetzt scheint er wieder ganz erfolgreich zu sein, zumindest stahlt er eine bestimmte Lockerheit aus, die ich typisch finde für Geschäftsleute, denen es materiell gut geht und die es gewohnt sind, andere anzuleiten.
Nach dem Ende der Vorstellungsrunde ist der Teilen genannte Erfahrungsaustausch angesagt: einige erzählen von ihrem Leben mit der Sucht, während die anderen ohne zu unterbrechen zuhören. Zum Abschied stehen alle auf, geben sich die Hand und sprechen das bekannte Gebet mit der Bitte um die Kraft, die nötigen Dinge zu ändern und die nicht änderbaren Dinge zu ertragen. Mit Tee oder Kaffee in Plastikbechern begibt man sich dann auf die Straße vor dem Haus und steht plauschend im warmen, hellen Abend. Hier in dieser Runde sprechen alle Russisch sprechen. Wladislaw erklärt mir, dass die Gruppe dreimal wöchentlich zusammenkommt, immer im Wechsel mit den Treffen der Anonymen Narkomanen, zu denen er auch noch geht. Wegen seiner früheren Spielsucht, das sei vergleichbar mit dem Drogenkonsum.
Zusammen mit einer dünnen, aufgetakelten Frau, die mir mein Gastgeber als seine Freundin vorstellt, betreten wir die Wohnung in einem achtgeschossigen sowjetischen Plattenbau. Ich schlafe auf einem Ausklappsessel in der Küche; der Kühlschrank wohl noch aus Brezhnjew-Zeiten macht gefühlt Lärm wie ein Traktor, eine lila Rassekatze umschleicht und ignoriert mich dann zum Glück. Am nächsten Tag dann ein Spaziergang durch das Zentrum von Chişinău. Ich betrete einige der zahlreichen orthodoxen Kirchen, staune über die EU-Flaggen vor einigen Regierungsgebäuden, wo die ehemalige Sowjetrepublik doch längst noch nicht EU-Mitglied ist und nur etwa die Hälfte der Bevölkerung eine Westorientierung befürwortet, und betrete schließlich etwas gelangweilt die Touristeninformation. „Republik Moldau erleben“, heißt eine deutschsprachige Hochglanzbroschüre, finanziert von Schweden und USAID; von ruhiger grüner Landschaft mit Kirchen und Klöstern unberührt vom Massentourismus ist die Rede, von köstlichen Weinen und guter Küche; spannender finde ich da schon den alten Mann, der vor dem Eingang steht und mit vier Bällen jongliert, dann mit fünfen. „Mein Freund Florian in Berlin kann sieben“, sage ich etwas frech. Der Jongleur wirft einen der fünf Bälle zur Seite und schafft es, eine ganze Weile die vier übrigen Bälle mit einer einzigen Hand in der Luft zu halten. „Kann Florian das auch?“, fragt er und lacht über mein fasziniertes Kopfschütteln.
Ein paar Schritte weiter auf einem Freiluftflohmarkt wird dann die UdSSR wieder lebendig: auf Tüchern ausgebreitet hunderte von Partei-, Armee- und Werktätigen-Abzeichen, Münzen, Parteiausweisen und alte Postkarten. Ich erwerbe ein wie neu wirkendes, unbeschriebenes Komsomolskij bilet, ein Mitgliedsbüchlein der sowjetischen Jugendorganisation, verfasst auf Russisch und Rumänisch, das damals hier Moldawisch genannt und mit kyrillischen Buchstaben geschrieben wurde, sowie für jeweils wenige Leu einige Rubel- und deutsche Markscheine aus der Zaren- und Kaiserzeit. Später bereue ich, dem Verkäufer nicht seinen kompletten Geldbestand abgekauft zu haben. Mein Bruder würde die Scheine in Deutschland per Ebay bestimmt für das Zehnfache weiterverscherbeln können.
Lebendig wird die Sowjetunion auch im Nationalmuseum, allerdings auf eher gruselige Weise: eine Sonderausstellung ist dem Thema Deportation und GULAG gewidmet. Wie auch die baltischen Staaten musste Modawien eine Welle von Terror und Vertreibung in der Stalinzeit über sich ergehen lassen. Die kommunistische Epoche wird als Okkupation bezeichnet, die Vereinigung mit Rumänien zwischen den Weltkriegen als kulturelle Blütezeit dargestellt. Schmunzelnd, obwohl es eigentlich sicher nicht zum Lachen ist, studiere ich ein paar der handschriftlichen Dokumente näher. „Niemals, nicht unter den Rumänen und nicht unter den Faschisten haben wir so ein [schlechtes] Brot gegessen wie euer sowjetischer Bäcker backt“, heißt es in einem „Beschwerde“ überschriebenen Brief an das städtische Parteikomitee, und in einem anderen: „Am 1. Januar 1947 hat der Funktionär des städtischen Parteikomitees der Stadt Beltsy, Schewjakow, aus dem Lebensmittelgeschäft offen zwei Laibe Weißbrot herausgetragen, und das, obwohl es in der Stadt wegen des Hungers hunderte Dystrophische und Kranke gibt. Was gibt ihm das Recht dazu? Auf Grundlage welches Gesetzesparagrafen bekommt der Parteifunktionär zwei Laibe Weißbrot? Unternehmen Sie etwas gegen Korruption!“ Der Autor kam bald nach dem Verfassen dieser Briefe für acht Jahre ins Lager.
Drei Tage später – zurückgekehrt aus Transnistrien, dem Staat, welcher zugleich existiert und nicht existiert und der deshalb eines gesonderten Kapitels würdig ist – klopfe ich an ein blaues Metalltor im Dorf Cruseşti, eine halbe Busstunde außerhalb Chişinăus. Der Motorlärm von der Drehfräsmaschine dahinter verstummt, ein Mann mit nacktem Oberkörper, an dem eine goldene Kette mit Kruzifix baumelt, öffnet das Tor und bittet mich herein. Slawa, Jahrgang vierundsechzig, ist durch seinen Sohn über meine Ankunft informiert und hat auf mich gewartet, ein Sohn, der die Couchsurfing-Idee auf seine eigene Weise versteht und Gäste nicht selbst empfängt, sondern sie zu seinem alleinstehenden Vater schickt, wie sich herausstellen wird, damit dieser nicht so einsam ist und durch die Gäste ein wenig weite Welt im Haus hat. Kerniger Handschlag, erstmal Platz auf einem Hocker vor dem Haus nehmen, stark gesüßter löslicher Kaffee, rauchen. Obwohl ich eher ein schöngeistiger Träumer bin, hat mich die Lebenserfahrung auch den guten Umgang mit geerdeten Praktikern gelehrt. Als erstes verschaffe ich mir Respekt, indem ich das Lada-Wrack im Hof sofort als Zhiguli 2101 identifiziere, dann lasse ich mir sein Leben erzählen: Slawa hat zweiundzwanzig Jahre in Moskau gelebt und wurde dann ausgewiesen, weil er eine Weile ohne Arbeitserlaubnis tätig war. Die Jungen wollten heute nach Europa, die Älteren erinnerten sich mit Wehmut an die Stabilität und soziale Gleichheit von früher und sind für eine engere Anbindung an Russland, so einfach sei das! Früher galt Moldawien als wohlhabend, der Obstgarten der Sowjetunion, und heute? Umgerechnet hundertzwanzig Euro betrage sein Monatslohn als Fahrer. Außer Wein und Obst habe Moldawien nichts zu bieten, und das Obst sei auf dem europäischen Markt nicht konkurrenzfähig – ob ich nicht die krummen, buckligen Aprikosen gesehen hätte?
Es ist angenehm warm, ein Dach aus üppig fruchtenden Weinranken schützt uns vor der südosteuropäischen Sonne. Später spaziere ich durch das Dorf, vorbei an zahlreichen überdachten Ziehbrunnen – die allerdings nicht mehr in Verwendung sind, da inzwischen jedes Haus fließendes Wasser hat (wovon die Bewohner sibirischer Dörfer nur träumen können) – und hölzernen oder steinernen Kruzifixen an Straßenkreuzungen mit Totenkopfsymbol zu Jesus‘ Füßen. Auf Feldern hinter den Häusern erstrecken sich Sonnenblumenreihen bis zum Horizont. Nachdem die Sonne verschwunden ist, gewinne ich noch drei Schachpartien gegen Slawa, während derer anderthalb Bierliter in seiner Kehle verschwinden und zwei Weinbrandgläschen, die er aus dem von seinen Vorfahren gemauerten halbrunden Gewölbekeller hervorholt. Vor dem Schlafengehen zeigt mir mein Gastgeber noch allerlei selbst erdachte Geräte und Apparaturen, darunter ein aus einer auf einen Stiel gesteckten Bohrmaschine konstruierten Freischneider. Geldmangel macht erfinderisch, sagt er, der niemals auf die Idee kommen würde, etwas nicht mehr Funktionierendes einfach wegzuwerfen.

Jongleur vor der Touristeninformation (oben). "Überprüfe dein Gewicht" (unten)
Was es in Moldawien nicht gibt: "Arbeit in Europa" und "Das Meer" (oben). Beschwerdebrief aus der Nachkriegszeit: "Der Parteifunktionär hat offen zwei Laibe Weißbrot aus dem Geschäft getragen, während in der Stadt wegen des Hungers Hunderte hungern" (unten)

Kruzifixe und Ziehbrunnen in einem moldawischen Dorf