Donnerstag, 30. August 2018

Von Beeren und Bären

"Immerhin habe ich das Strömende unserer Zeit in Rußland so stark gefühlt wie selten in meinem Leben." Stefan Zweig, Die Welt von Gestern

Ich stehe in Bargusin bei Sergej vor der Tür, einfach so, ohne Voranmeldung. In Russland ist es ganz legitim, spontan bei einem Bekannten aufzutauchen. Sergej öffnet die Tür zu seinem großen Gartengrundstück und freut sich, mich zu sehen. Ob vielleicht sein Telefon kaputt sei, möchte ich wissen. Er habe doch versprochen, mit mir zwei Tage in die Berge zu gehen, Ende August? Das wäre dann jetzt so weit.
Sergej bittet mich, auf der Bank vor dem Haus Platz zu nehmen, setzt sich daneben und kratzt sich nachdenklich am Kopf. Eigentlich gibt es ja zu tun: Heu einholen, Kartoffenernte, und dann habe man ihm ein Arbeitsangebot gemacht, einen Schafstall bauen, irgendwo im Norden des Tals. Aber gut, versprochen ist versprochen, vielleicht gibt es ja wenigstens Beeren in den Bergen, meint er, dann hat die Zeit, die wir dort verbringen, wenigstens auch einen Nutzen.
Mein Gastgeber hat schnell seine Sachen zusammengesucht: einen aus Blech und Holz selbstgezimmerten Kanister als Rucksack, ein Trinkgefäß mit Henkel, eine Feldflasche, Brot, Gurken, Tomaten, einen Pullover und zwei Blaubeerkämme. Unterdessen klagt mir seine Frau Mascha das neueste Unglück: die Ziegen auf der Farm sind verschwunden. - Wahrscheinlich hat der dort wohnende Arbeiter, dieser Taugenichts, sie vertrunken, abgegeben gegen Wodka, aber behaupten tut er jetzt, die Wölfe hätten sie geholt. Diesen Penner muss man verjagen und lieber ein junges Paar aufs Gut holen, aber finde erstmal jemanden, der da wohnen will! - Mascha seufzt. Ich schultere meinen LoweAlpine-Rucksack mit Hightech-Daunenschlafsack und zwei Schaumstoffmatratzen. Auf Zelt und Gaskocher verzichte ich bewusst: ich möchte von Sergej lernen, am Feuer unter freiem Himmel zu übernachten. Aufbruch!
Der Pfad, dem wir folgen wollen, heißt „Weg zum sauberen Baikal“ und wurde schon vor Jahren von jungen Freiwilligen der Organisation „Great Baikal Trail“ für wandernde Touristen ausgebaut und mit Markierungen versehen. In etwa drei Tagen gelangt man über den Bargusin-Bergrücken zum Baikalsee. Entweder, dort wartet ein Boot auf einen, oder man geht den Weg wieder zurück, fünfzig Kilometer durch Taiga und Bergtundra.
Zunächst biegen wir falsch ab und folgen versehentlich einem schmalen Jägerpfad. Sergej sieht sehr viel mehr als ich: umgeknickte Äste – offensichtlich war der Jäger erst vor Kurzem hier; Axtmarkierungen an Baumstämmen, damit es auch im Winter Orientierung gibt; Zobelfallen, im Moment deaktiviert, da noch keine Jagdsaison ist: der den an einem Draht hängenden Lebendköder verspeisende Zobel wird von einer zuschnappenden Schelle festgehalten und an einem langen, wie eine Wippe befestigtem Ast mit Gewicht auf der anderen Seite nach oben geschleudert, wo ihn kein anderes Tier anknabbern und der Jäger einsammeln kann – der Zobel, das Gold Sibiriens, schon für die Pioniere seiner Erschließung im 17. Jahrhundert Anreiz und Einkommen.
Später folgen wir dem richtigen Weg, der trotz längst verblichener Markierungen und einiger halb verrotteter, in Holz gefräster Schautafeln immer gut erkennbar bleibt. Gegen Abend, nach etwa einem Kilometer Aufstieg, haben wir den Wald verlassen und kommen auf den bloßen Fels. Der 62jährige Sergej ist am Ende seiner Kräfte. Oben auf dem Pass wachsen mannshohe Latschenkiefern, dazwischen eine bereits angelegte Feuerstelle. Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen: mit Nadeln und dünner Rinde entfacht mein Begleiter ein Feuer; ich packe meine kleine Fiskars-Axt aus, neueste Technik, ideales Verhältnis von Gewicht zu Leistung und so weiter, ein Geschenk von meinem Bruder, und mache mich daran, Brennholz zu hacken. Sergej schüttelt den Kopf und zeigt, wie es richtig geht: nicht gerade, sondern schräg ins Holz schlagen, von beiden Seiten. Dann noch ein paar Zweige mit dichten Nadeln als Kopfkissen für die Nacht. Das Metallkesselchen an einem Ast über die glühende Asche gehängt, nach wenigen Minuten kocht das Teewasser. Abendbrot.
- Jaja, Romantik, - stöhnt Sergej. - Wenn ich unten erzähle, dass wir einfach so zum Spaß hier herumstiefeln, greifen sich die Leute an den Kopf. Touristen!
Das Wort klingt aus seinem Mund merkwürdig abfällig, eine Bezeichnung für von irgendwoher kommend Sonderlinge, Fremdkörper in der Taiga, die weder jagen, fischen noch etwas sammeln.
Es wird dunkel, ein windstiller, wolkenfreier Abend, Großer und Kleiner Wagen erscheinen am Himmel, Kassiopeia und das Sommerdreieck, dann geht der Vollmond über dem Felskamm auf und die Sterne verblassen. Sergej hüllt sich in den Rauch der ihm aus Deutschland mitgebrachten Zigarillos, deren Geschmack er prüfend mit dem seines selbst angebauten Tabaks vergleicht. Ewig reicht das Geld nicht, zwölftausend Rubel Rente, davon fünftausend gleich weg an die Bank für einen Kredit von früher, der Arbeiter auf der Farm möchte auch etwas zu Essen haben; wenn er nach Ulan-Ude fährt, wollen alle Verwandten mit Geschenken versorgt sein. Ewig dreht sich alles nur um das verfluchte Geld, eine Zeit lang habe er mit dem Gedanken gespielt, in den Bergen auf Goldsuche zu gehen, es gäbe Stellen, da sei es einfach aus dem Sand der Flüsse zu holen, aber jetzt, verdammt, ist er zu alt dafür.
Ich lausche seinen mit kräftigen Fluchwörtern durchmischten Worten und krieche in den Schlafsack. Sergej schichtet dickere Stämme aufs Feuer und legt sich in Pullover und Jacke einfach daneben. Vom Kondenswasser in der Luft wird mein Daunenschlafsack von außen klitschnass, bleibt aber innen schön warm. Um vier Uhr morgens ist das Feuer fast erloschen, mein Begleiter, der bis dahin wohl kaum geschlafen und immer wieder nachgelegt hatte, schnarcht. Ich erhalte die Flammen, hacke neues Holz und harre des Sonnenaufgangs.
Zum Frühstück verspeisen wir zwei von unbekannten Vorgängern hinterlassene Kartoffeln: in die heiße Asche geworfen, sind sie nach wenigen Minuten kohlschwarz und innen richtig durchgebraten.
Der anderthalb Kilometer hohe Pass war unser Ziel, wir machen uns auf den Rückweg und finden dann doch noch Blaubeeren, auf dem Hang an der Baumgrenze. Die selbstgebauten Blaubeerkämme kommen zum Einsatz, nach einer Stunde sind sieben Kilo zusammen, nun kehren wir wenigstens nicht mit leeren Händen zurück. Weiter unten im Wald kommen wir an Sibirischen Zirbelkiefern vorbei – von den Einheimischen von der gewöhnlichen Kiefer sofort zu unterscheiden; auf der Erde unter ihnen liegen frische Zapfen, gefüllt mit leckeren Pinienkernen, das klassische sibirische Exportgut aus der Natur. An einem frisch herausgerissenen, von Wildbienen umschwirrten Totholz-Stamm machen wir Halt.
- Das war gestern noch nicht, - sagt Sergej und beginnt rhythmisch mit dem metallenen Beerenkamm an seinen Wanderstock zu schlagen. - Hier hat wohl ein Bär Honig genascht!
- Wenn die Bären hier Leute anfallen würden, hätte man wohl keinen Touristenpfad angelegt, - meine ich, - sie wittern doch die Menschen und weichen ihnen aus?
- Klar, nur unerwartet erschreckt zu werden mögen sie nicht…
Möglichst geräuschvoll, klappernd und hin und wieder rufend laufen wir weiter. Gut, dass meine Freundin nicht dabei ist, Bärenangst ist für sie im Wald immer ein Thema, geht es mir durch den Kopf. Der Pfad geht nun an einem schnellen Flüsschen entlang und verbreitert sich zu einem von Geländewagen befahrbaren Weg, wir passieren die Reste eines hölzernen Staudammes – ein Wasserkraftwerk aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.
- Holzdiebstahl, - kommentiert Sergej etwas später und weist auf einige Haufen chaotisch durcheinanderliegender Stämme und Zweige, - normalerweise wird es nach dem Fällen ordentlich aufgeschichtet und dann im Winter verbrannt. Jeder hat das Recht auf den Kauf von vierzig Kubikmetern Holz im Jahr, das sind etwa vierzig Bäume.
Wir erreichen Bargusin. Mein Gastgeber übergibt unsere Beerenernte an die Frau, ich sitze wenig später in seiner geheizten Banja.

Sergej erklärt mir die Funktionsweise einer Zobelfalle






Beerenernte mit dem Blaubeerkamm
Hier hat ein Braunbär Honig genascht

Mittwoch, 29. August 2018

Heimaten

Umsteigen am Moskauer Flughafen Domodedovo. Um 18.20 Uhr deutscher Zeit landen wir, Uhr zwei Stunden vordrehen, heißt also zwanzig nach Acht. Um 20.50 Uhr, in dreißig Minuten, ist Boarding-Schluss für den Anschlussflug nach Ulan-Ude. Niso, Maja und ich rennen durch die kilometerlang scheinenden Gänge des riesigen Flughafengebäudes, Passkontrolle, Green Channel beim Zoll, Handgepäckdurchleuchtung. Punkt zehn vor neun stehen wir am Abflug-Gate, mit uns wartet eine Gruppe munter zwitschernder japanischer Touristen auf den Abflug nach St. Petersburg um halb Neun, für den das Boarding noch nicht einmal begonnen hat. Halb neun? Ich schaue ungläubig auf meine Uhr und fasse mich dann an die Stirn: die Zeitdifferenz zwischen Moskau und Berlin beträgt wegen der Sommerzeit in Deutschland jetzt nur eine Stunde, ich habe um eine Stunde zu weit vorgestellt. Ausatmen, entspannen. Umsonst gehetzt.

Warmer Wind und leichter Brandgeruch in der Luft, der Taxifahrer erkundigt sich nach Angela Merkel, die sich ja in Brandenburg gerade mit Putin trifft, ob wir Genaueres wüssten? Ich freue mich, nach einem Monat Deutschlandurlaub wieder in der Heimat zu sein, oder besser: nach einem Monat Heimaturlaub wieder in der Fremde zu sein. Vielleicht gibt es von Heimat doch einen Plural? Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich nach Ulan-Ude gezogen, noch zwei Jahre stehen auf dem Plan. Ich sitze in unserer kleinen 2-Zimmer-Wohnung am Schreibtisch, das vertraute Rattern der Transsib-Züge dringt durch die geöffnete Terrassentür, von dem einige Kilometer entfernten Bahnhof sind die Lautsprecherdurchsagen zu hören. Auf Maja warten Schule und Musikschule, auf Niso die Fahrschule, auf mich Kollegen und Studenten. 

Mit den Eltern meiner Freundin unternehmen wir einen Ausflug nach Gorjatschinsk, wir in unserem Samara, Vater und Mutter in ihrem kleinen, schachtelförmigen Lada Schestjorka, in dessen Motor alle halbe Stunde Wasser oder Tee gegossen wird, damit er sich nicht überhitzt. Im Sanatorium erkundige ich mich nach Übernachtungsmöglichkeiten. Auf keinen Fall empfehle sie uns, hier zu bleiben, sagt mir die Angestellte des Sanatoriums am Registrierungsschalter, bei ihnen seien die Zimmer unbequem und überteuert, mit einem privaten Gästehaus bei ihren Freunden wären wir viel besser beraten, einen Moment bitte, sie rufe gleich dort an.
Nisos Vater Nikolaj, der sich vor etwa vier Monaten verabschiedet hatte, um in seiner Heimat Tadschikistan den Lebensabend zu verbringen, ist nach Burjatien zurückgekehrt. Wohl hat er verstanden, dass seine Heimat längst Russland geworden ist, dort, wo Frau und Kinder leben; und er hat auch verstanden, dass seine Tochter keinen Moslem heiraten wird. Zweiundfünfzig Grad im Sommer und keine Arbeit, das halte er nicht aus, erzählt er mir entspannt, später könne er zum Sterben immer noch nach Dushanbe fliegen. Zu Ehren unserer Begegnung war zuhause bei ihm im Dorf extra eine Ziege geschlachtet worden, deren frisches Fleisch nun abends auf dem Tisch steht; zu meiner großen Überraschung gibt es selbstgebrannten Schnaps dazu. Mit dem Islam scheint es wohl doch nicht so weit her zu sein, frage ich Niso später vorsichtig. Sie seufzt. In ihrer Jugend, nach der Übersiedlung aus Tadschikistan, haben die Eltern Selbstgebrannten an die Alkoholiker im Dorf verkauft, ein Jahr lang, um über die Runden zu kommen - bis ihnen die nachts an die Fenster klopfenden heruntergekommenen Gestalten zu viel wurden und sie das zweifelhafte Geschäft einstellten.
Eine von Nikolajs Lieblingsbeschäftigungen scheint die Zubereitung von großen Mengen Plov zu sein. Majestätisch wie ein Pascha steht er vormittags im dunkelgrünen Mantel am Tisch neben der Feuerstelle vor unserem Gästehaus, wirft Reis in das Öl in das schwere Metallgefäß über der Feuerstelle, schneidet in aller Seelenruhe Möhren und zerkleinert Ziegenfleisch. Den Baikal kenne er aus dem Fernsehen, da müsse er jetzt nicht unbedingt hin; während wir zum Ufer spazieren, kümmert er sich lieber ums Mittagessen.