Samstag, 5. September 2015

Der Uni-Alltag beginnt

Meine erste Arbeitswoche im richtigen Uni-Betrieb liegt hinter mir. Viele neue Gesichter, Studenten und Lehrkräfte, viele neue Zusammenhänge, ich bin etwas fertig und dringend wochenendreif. Ich unterrichte 9 Doppelstunden pro Woche, es stellte sich heraus, dass ich in der Konzeption meiner Kurse völlig frei bin und sie mir selbst ausdenken muss (oder darf), sowohl die Themenabfolge als auch das Lehrbuch (das Lehrwerk, was es am Lehrstuhl gibt, ist weniger brauchbar; wahrscheinlich werde ich in zwei meiner 4 Gruppe „Schritte international“ nehmen, hier gefällt mir vor allem die Idee mit der Fotogeschichte gut). Meine Studentinnen (bisher sind alle weiblich) wirken auf den ersten Blick motiviert und diszipliniert, artig und eifrig alles aufschreibend (wie russlandweit üblich, in A5-Heftchen). Als erste Hausaufgabe habe ich einen Text „Das bin ich“ aufgegeben, in dem sie auf Deutsch etwas über sich erzählen sollen und die ich schon sehr neugierig bin zu lesen. Die Schlösser der Klassenräume am Institut verlangen mir ein hohes Maß an Bewusstsein ab: man kann praktisch jeden der rustikalen und großen Schlüssel in jede Tür hineinstecken und umdrehen, aber wenn es der falsche ist oder man den Schlüssel um 180 Grad verdreht ansetzt, schrottet man das Schloss (was mir mit meiner Bürotür passierte, wo es ohne viel Aufhebens ausgewechselt wurde). Seit Tagen höre ich durch das Fenster am Arbeitsplatz lautstarke Proben verschiedenster Tanz-, Theater- und sonstiger Showaufführungen für die heute stattfindenden Feierlichkeiten zum djen góroda (Tag der Stadt), nicht etwa ein rundes Jubiläum, sondern das 349. Jahr seit der Gründung... was dann wohl nächstes Jahr hier los sein wird, ist gar nicht auszudenken.

Vor einigen Tagen traf ich eine Bekannte von der Uni Potsdam hier, Nina, die mit ihrem Freund die Region bereist. Wir saßen gemütlich im Tschertschil, einem unter ausländischen Gästen beliebten Restaurant im Zentrum, ich aß leckere Schafsfleischsuppe („Schurpá“) und wir hatten ein interessantes Gespräch zum Thema „Erinnerungskultur“. Zwar gehört Solzhenitsyn inzwischen zum Kanon der russischen Schullektüre, und in vielen Heimatkundemuseen gibt es eine kleine Abteilung zum Thema „Gulag“. Aber es gibt keine einheitliche staatliche stalinkritische Linie, und insgesamt überwiegt die Darstellung der positiven Errungenschaften jener Zeit. Das einzige Lager-Museum am historische Ort, Perm-36, wurde vor Kurzem unter irgendeinem Vorwand geschlossen. Wie soll ein Volk seine Vergangenheit erinnern? Sollte sich Russland an Deutschland mit seiner akribischen Aufarbeitung ein Beispiel nehmen und wir ein bisschen Nachhilfe geben? Oder kann es nicht selbst entscheiden, wie es die Ereignisse gewichten will? Schadet es der russischen Gesellschaft, wenn so erinnert wird, wie es zurzeit stattfindet, mit dem Großen Sieg 1945 als Haupt-Ereignis, dessen Andenken die Nation zusammenhält? Spannende Fragen.
Hier arbeite ich: Das Institutsgebäude
Studentische Arbeiten: A5 und eng beschrieben


Ein Schlüssel russischen Typs, daneben: Magnet zum Öffnen der Haustür