Meine erste Arbeitswoche
im richtigen Uni-Betrieb liegt hinter mir. Viele neue Gesichter,
Studenten und Lehrkräfte, viele neue Zusammenhänge, ich bin etwas
fertig und dringend wochenendreif. Ich unterrichte 9 Doppelstunden
pro Woche, es stellte sich heraus, dass ich in der Konzeption meiner
Kurse völlig frei bin und sie mir selbst ausdenken muss (oder darf),
sowohl die Themenabfolge als auch das Lehrbuch (das Lehrwerk, was es
am Lehrstuhl gibt, ist weniger brauchbar; wahrscheinlich werde ich in
zwei meiner 4 Gruppe „Schritte international“ nehmen, hier
gefällt mir vor allem die Idee mit der Fotogeschichte gut). Meine
Studentinnen (bisher sind alle weiblich) wirken auf den ersten Blick
motiviert und diszipliniert, artig und eifrig alles aufschreibend (wie
russlandweit üblich, in A5-Heftchen). Als erste Hausaufgabe habe ich
einen Text „Das bin ich“ aufgegeben, in dem sie auf Deutsch etwas
über sich erzählen sollen und die ich schon sehr neugierig bin zu
lesen. Die Schlösser der Klassenräume am Institut verlangen mir ein
hohes Maß an Bewusstsein ab: man kann praktisch jeden der rustikalen
und großen Schlüssel in jede Tür hineinstecken und umdrehen, aber
wenn es der falsche ist oder man den Schlüssel um 180 Grad verdreht
ansetzt, schrottet man das Schloss (was mir mit meiner Bürotür
passierte, wo es ohne viel Aufhebens ausgewechselt wurde). Seit
Tagen höre ich durch das Fenster am Arbeitsplatz lautstarke Proben
verschiedenster Tanz-, Theater- und sonstiger Showaufführungen für
die heute stattfindenden Feierlichkeiten zum djen
góroda (Tag der Stadt), nicht etwa ein
rundes Jubiläum, sondern das 349. Jahr seit der Gründung... was
dann wohl nächstes Jahr hier los sein wird, ist gar nicht
auszudenken.
Vor
einigen Tagen traf ich eine Bekannte von der Uni Potsdam hier, Nina,
die mit ihrem Freund die Region bereist. Wir saßen gemütlich im
Tschertschil, einem
unter ausländischen Gästen beliebten Restaurant im Zentrum, ich aß
leckere Schafsfleischsuppe („Schurpá“)
und wir hatten ein interessantes Gespräch zum Thema
„Erinnerungskultur“. Zwar gehört Solzhenitsyn inzwischen zum
Kanon der russischen Schullektüre, und in vielen Heimatkundemuseen
gibt es eine kleine Abteilung zum Thema „Gulag“. Aber es gibt
keine einheitliche staatliche stalinkritische Linie, und insgesamt
überwiegt die Darstellung der positiven Errungenschaften jener Zeit.
Das einzige Lager-Museum am historische Ort, Perm-36, wurde vor
Kurzem unter irgendeinem Vorwand geschlossen. Wie soll ein Volk seine
Vergangenheit erinnern? Sollte sich Russland an Deutschland mit
seiner akribischen Aufarbeitung ein Beispiel nehmen und wir ein
bisschen Nachhilfe geben? Oder kann es nicht selbst entscheiden, wie
es die Ereignisse gewichten will? Schadet es der russischen Gesellschaft, wenn so erinnert wird, wie es zurzeit stattfindet, mit dem Großen Sieg 1945 als Haupt-Ereignis, dessen Andenken die Nation zusammenhält? Spannende Fragen.
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Hier arbeite ich: Das Institutsgebäude |
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Studentische Arbeiten: A5 und eng beschrieben |
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Ein Schlüssel russischen Typs, daneben: Magnet zum Öffnen der Haustür |