Manchmal sind meine Arbeitstage
sehr lang. Heute zum Beispiel bin ich um 8 Uhr morgens aus dem Haus gegangen
und um 20 Uhr abends zurückgekommen.
Die meisten Studierenden benutzen
keine Wörterbücher in Papierform mehr, sondern haben Wörterbuch-Apps auf ihrem
Handy. Für mich als Lehrer ist es oft nicht nachzuvollziehen, ob sie im
Unterricht gerade im Handy ein Wort nachschauen oder in vkontakte oder Whatsapp
eine Nachricht schreiben. In manchen Kursen bin ich jetzt dazu übergegangen,
die Telefonbenutzung völlig zu verbieten. „Versuchen Sie mal, 90 Minuten ohne
Smartphone zu leben“, war meine Ansage heute vor einer Stunde. Brav räumten es
die Studis vom Tisch, einige holten es zwischendurch wieder heimlich hervor.
Eigentlich besteht die hohe Kunst
der Pädagogik darin, ohne solche Verbote auszukommen. Man könnte zum Beispiel
Übungen so konzipieren, dass das Smartphone darin eingesetzt werden muss, um bestimmte Informationen zu
recherchieren. Oder solche Aufgaben einsetzen, die auf eine Art und Weise
interaktiv und mit Bewegung verbunden sind, dass überhaupt keine Zeit und
Gelegenheit bleibt, privat zu chatten und sich abzulenken. Ja, die ideale
Unterrichtsstunde sollte so spannend sein, dass die Studierenden gar keine Lust auf etwas anderes haben als das,
was gerade Thema ist. Aber das ist eher Theorie. Die ideale Unterrichtsstunde
gibt es nur selten.
Heute habe ich drei sehr
unterschiedliche Gruppen unterrichtet. Die erste Gruppe – die mit dem
Handyverbot – studiert Deutsch nur als zweite Fremdsprache und ist für mich
nicht leicht, weil die Leute so total unterschiedlich sind. Katja ist still und
brav, kommt zu jeder Stunde, redet wenig, aber sehr korrekt. Sveta ist sehr
aktiv, antwortet meistens als erste und fragt nach Zusatzaufgaben. Sie kommt
auch tatsächlich zu mir ins Büro und fragt um Erlaubnis, eine Stunde fehlen zu
dürfen. Wladimir erscheint selten und bringt manchmal eine etwas schleimig-unechte
Entschuldigung für sein Fehlen an. Natalja hat keinerlei Talent für Sprachen
(wer sie wohl zum Sprachstudium gezwungen hat?), aber versucht trotzdem mit
rührendem Eifer, einige Sätze hervorzubringen. Die große Lena findet mich
irgendwie cool, sagt offen, dass sie die Uni eigentlich Scheiße findet und
beklagt sich über das Chaos und die Zustände in anderen Fächern. Die kleine
Lena wirkt (wie überhaupt viele Studenten) sehr jung, eher wie eine Neuntklässlerin,
antwortet störrisch und mit finsterem Gesicht und spielt den ganzen Tag in ihrer
Freizeit Computer. Die charmante Sascha (diese Verkleinerungsform steht im
Russischen sowohl für Alexandra als
auch für Alexander) ist höflich,
diszipliniert und fleißig. Letztere drei haben gerade auf einer Dorfschule ein
Praktikum als Englischlehrkraft gemacht. Es war interessant, meinen sie, aber
als Lehrerin arbeiten will nach dem Studium keine – wohl vor allem auch deshalb,
weil der Beruf miserabel bezahlt wird. - Alle drei Wochen taucht Jana auf. Dann
gibt es noch Tujana, eine angehende Gynäkologin, die ein Praktikum in einer
Klinik macht und ganz freiwillig im Kurs erscheint – so etwas kommt auch vor.
Die zweite heutige Gruppe
unterrichte ich im Fach Übersetzen, und zwar vom Russischen ins Deutsche. Zu
jeder Stunde sollen sie ein Stück eines Zeitungsartikels schriftlich übersetzt
haben, und wir besprechen den Text dann im Unterricht. Die vier Studenten
wirken sehr erwachsen und extrem diszipliniert. Ich habe die Gruppe nur alle
zwei Wochen, abwechselnd mit einer russischen Kollegin, und halte mich auch an
deren „Unterrichtsformat“: 90 Minuten sitze ich auf meinem Platz, stehe nie
auf, um etwas an die Tafel zu schreiben; wir gehen Satz für Satz durch, ich
höre mir die verschiedenen Varianten an und korrigiere. Die Abwechslung geht
eigentlich gegen Null… und niemanden stört es, alle sitzen brav, schreiben und
hören fleißig mit der typischen leicht unterwürfigen russischen Geduld.
Bemerkenswert.
Die dritte Gruppe waren die
Master-Studenten. Im letzten Semester war es meine Lieblingsgruppe: motivierte,
aufmerksame junge Damen mit gutem Deutsch. Seit diesem Jahr ist der Kurs
komisch, wegen Schwangerschaft und Heirat gibt es zwei Ausfälle, und die
anderen kommen sehr unregelmäßig. Es ist schwer, eine Stunde zu planen, wenn
ich nicht weiß – werden zwei oder fünf Leute kommen, oder vielleicht auch nur
eine? Überhaupt ist es interessant, dass das Gefühl „die Stunde war heute
erfolgreich“ nicht unbedingt mit der von mir investierten Vorbereitungszeit
zusammenhängt. Lehren hängt von so vielen Faktoren ab und ist immer auch
unberechenbar.
Ich rege mich gern über die
„typisch russische Pädagogik“ auf. Mit dem anderen Extrem bin ich allerdings
auch nicht glücklich. In der letzten Woche war eine Multiplikatorin (neudeutsch für eine
Idee an ein großes Publikum weitergebende Person) eines großen deutschen
Sprachinstitutes bei uns und hat ein Seminar über moderne Unterrichtsmethoden
durchgeführt. Das Thema hieß „Stationenlernen“. Es war die ganze Zeit die Rede
von Teamarbeit, Lernerzentrierung,
Kreativität, Freiheit, Austausch, Abwechslung und multimedialer Lernumgebung. Sich mal längere Zeit in einen Text
vertiefen, einer Person geduldig zuhören, die Autorität eines Lehrenden
akzeptieren? Fehlanzeige. Inhalte spielen entweder überhaupt keine Rolle mehr
oder werden häppchenweise und spielerisch verpackt serviert. Das liegt mir auch
nicht. Wie so oft, ist vielleicht ein Mittelweg zwischen dem Osten und dem
Westen, zwischen russischem Von-oben-einbläuen
und westlicher Ausdiskutiererei am besten.
Der vorgestrige Ostermontag ging
unmerklich an mir vorüber… und auch die etwas schwermütige Stimmung, die mich
oft um Ostern herum befällt, ist praktisch ausgeblieben. Das orthodoxe
Osterfest findet in diesem Jahr vier Wochen später statt, der Ostersonntag
fällt in Russland mit dem 1. Mai, dem Tag der Arbeit, zusammen.