Dienstag, 24. April 2018

Russische Wege



























Die ersten in der graubraunen Steppe auftauchenden Blumen sind wie jedes Jahr die leuchtend lila Küchenschellen. Wir sahen sie auf unserem Fußweg vom Dorf Bajangol in den lichten Nadelwald hinein zu einem Felsen mit einer dreiunddreißig Meter hohen, eingemeißelten und farbig gezeichneten Buddha-Darstellung. Die Sehenswürdigkeit befindet sich 160 Kilometer östlich von Ulan-Ude, in zwei Fahrtstunden zu schaffen. Wahrscheinlich hätte ich mir mehr Zeit nehmen sollen, um dem einen oder anderen Schlagloch sorgfältiger auszuweichen. Auf dem Rückweg veranlasste uns Gummigeruch und ein schlagendes und schleifendes Geräusch am rechten Hinterrad zum Halten: der Stoßdämpfer des Lada Samara war gebrochen und saß am Reifen auf. Ein Fall für den Abschleppwagen, der zwei Stunden nach Anruf kam, obwohl wir bis Ulan-Ude nur noch 33 Kilometer vor uns hatten. Wir hätten uns den heilige Ort wohl nur als Touristen angesehen und deshalb die Geister erzürnt, meinte der burjatische Fahrer. Aber nein, wie es der Brauch verlangt, haben wir jeder eine Münze dort gelassen, versicherte ich ihm.
Meine Vermutung, dass Autos aus russischer Produktion am besten an die rauen russischen Wegeverhältnisse angepasst sind, ist wohl falsch. Die Leute werden schon wissen, warum sie alle Toyota fahren! Auf unbekannter Landstraße scheint es am besten zu sein, hinter einem langsameren Fahrzeug herzufahren, dort zu bremsen, wo es auch bremst und die gleichen Ausweichmanöver zu vollziehen. Einheimische kennen schließlich ihre Schlaglöcher am besten.

Putin hat die Präsidentschaftswahlen mit 77 Prozent souverän gewonnen. Wahlfälschungen im großen Stil haben dabei wohl nicht stattgefunden. Wie kann es sein, dass sich ein Volk so einmütig hinter einen starken Mann stellt? Die russische Gesellschaft scheint sehr viel homogener als die deutsche, die Schicksale und Wertevorstellungen ähneln einander stärker und alle eint der Wunsch nach Stabilität und einem komfortableren Leben. Putin gelingt es, dieses Ziel aufzugreifen und den Menschen das Gefühl zu geben, daran erfolgreich zu arbeiten. Natürlich sehen die Leute auch die offensichtlichen Missstände im Land, würden aber nicht auf die Idee kommen, den Präsidenten auszutauschen: verantwortlich für die Misere sind Beamte, Regionalpolitiker und Wirtschaftsoligarchen. Der Zar ist gut, die Bojaren sind schlecht, so hieß es schon vor über hundert Jahren.
Beim Verfolgen der Medien beunruhigt mich die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Russland und dem Westen. Nisos Bruder Ruslan ist bei der Armee. Jeden Moment kann er nach Syrien abkommandiert werden, sagt meine Freundin. Warum beschießen die Amerikaner Russlands Verbündeten mit Raketen, fragt sie. Aber warum unterstützt Russland einen Diktator? Warum bombt der Westen arabische Länder ins Chaos? Warum ist für die Russen Stabilität wichtiger als Demokratie? Wenn man deutsche und russische Nachrichten verfolgt, scheint es, als lebt jede Seite in ihrer eigenen Blase aus jeweils in sich geschlossenen logischen Argumenten, Voraussetzungen und Werten, zwei verschiedene, nicht miteinander kompatible Welten und nicht aufeinander abstimmbare Wege.

Am Nachmittag ist mitunter schon so warmes T-Shirt-Wetter, dass man meinen könnte, der Winter geht nahtlos in den Sommer über. Auf dem von den fünfetagigen grauen Chruschtschtowka-Bauten umgebenen großen Spielplatz spielen Maja und ich w prjatki (Verstecken) und w dogonjalki (Fangen); ich setze sie auf einen Baum oder wir klettern über einen kleinen künstlichen Felsen, damit sie ihre Angst vor der Höhe verliert.

Mittwoch, 11. April 2018

Nach Norden


Von Mitte Februar bis Mitte April ist der zugefrorene Baikalsee von einem Netz offizieller und inoffizieller Straßen überzogen. Einige weit abgelegene Siedlungen sind so viel schneller zu erreichen als mit tagelangen Umwegen über das Festland. Manche einsamen Wetterstationen oder Nationalparkhütten haben überhaupt nur diese Verbindung in die Zivilisation: im Sommer mit dem Boot über das Wasser, im Winter mit dem Auto über das Eis. Eine dieser Straßen führt von der zwischen der Halbinsel Heilige Nase und den Bargusin-Bergen gelegenenen Tschivirkuj-Bucht bis nach Severobaikalsk, 250 Kilometer bis ans Nordende des Sees. Ich habe mir fünf Tage Zeit genommen, um diese Strecke per Autostopp zurückzulegen: einen Tag für die Anreise in die Bucht, einen Tag, um nach Severobaikalsk zu kommen, zwei Reservetage, falls es nicht gleich klappt und am fünften Tag dann der schon im Voraus gebuchte Rückflug nach Ulan-Ude.
In der Mitte der Tschivirkuj-Bucht steht eine kleine Jurtensiedlung. Für 900 Rubel pro Nacht werden die Schlafplätze an Hobbyfischer vermietet, die mit ihren Angeln durch ins Eis gebohrte Löcher nach Omul oder Maränen fischen.
- Verdammte Scheiße, ein Deutscher! Wie heißt du? Gans?
Meine drei Mitbewohner begrüßen mich herzlich per Handschlag, echte, kernige russische Männer mit der entsprechenden, von Fluchworten durchsetzten Sprache dazu.
- Klar, alle Deutschen heißen Hans! Und du – Iwan!
Wir lachen und nennen unsere richtigen Namen.
- Verfluchter Bockmist, nach Severobaikalsk? Dann musst du nach Autos mit Brettern auf dem Dach Ausschau halten, die sind dazu da, um über die Spalten im Eis zu kommen!
Die drei sind aus Krasnojarsk und kommen jedes Jahr hierher, um zu fischen. Dieses Jahr ist die Ausbeute nicht so gut, die Fische sind klein, und es gibt nur wenige. In der Mitte der Jurte steht ein kleiner Bollerofen, daneben ein Stapel Holz. Etwa zwei Stunden hält er die Wärme. Wer nachts zuerst friert, steht auf und legt nach, möglichst bevor die letzte Glut erloschen ist, weil sonst umständlich neu angezündet werden muss.

Am nächsten Tag mache ich mich auf den Weg an das Nordende der Bucht, um Position zu beziehen für die Mitfahrt nach Severobaikalsk. In den letzten beiden Wintern war das Eis hier vom Wind blankgefegt, glatt und durchsichtig mit einer faszinierenden Vielfalt an feinen Lufteinschlüssen. In diesem Jahr gab es außergewöhnlich viel Niederschlag; abseits der festgefahrenen Straße laufe ich durch eine dicke, knirschende, pulverige Schneeschicht.
Ein kalter Wind bläst mir um die Ohren. Ich betrete eine kleine, quaderförmige Holzbude. Drinnen sitzen zwei Männer auf Pritschen und halten ihre Angeln in die sich unter den quadratischen Öffnungen im Hüttenboden befindlichen Eislöcher. Ich erfahre, dass der Weg nach Norden etwas weiter östlich verläuft, entlang der kleinen Kiefern, die im Abstand von etwa einem halben Kilometer in den Schnee gesteckt sind.
- Wenn es nicht stört, dann würde ich eventuell noch ein paar Minuten hier sitzenbleiben und mich aufwärmen.
Die beiden lachen über meine westeuropäische Höflichkeit.
- Tee?
Zwei Rentner, ein burjatischer Geophysiker und ein russischer Fernfahrer, sie verbringen seit zehn Jahren jeden Winter drei Monate hier. Eine Autobatterie spendet Strom, ein kleines Gasflämmchen Wärme, eine Flasche reicht für anderthalb Wochen. Auf dem Tisch steht das Display eines Echolot-Messgerätes, auf dem vorüberziehende Fischschwärme sichtbar sind.
- Djewuschka?
Ob ich ein Mädchen, also eine Freundin habe. Ich nicke.
- Ja, wenn aus dem Mädchen eine Alte wird, dann ist es nicht mehr so lustig. Deshalb sind wir hier. Im Sommer kann man in den Gemüsegarten. Aber jetzt? In der Wohnung sitzen?
Der Geophysiker erzählt, dass das Eis aufgrund des vielen Schnees in diesem Jahr etwas dünner sei, nur 80 Zentimeter und nicht wie sonst über einen Meter dick. Hier in der Tschivirkuj-Bucht ist der Baikal etwa 22 Meter tief, kein Vergleich zu den anderthalb Kilometern im Hauptbecken. Als Wissenschaftler habe er sich mit der Messung von natürlicher Radioaktivität in Burjatien beschäftigt, aufgrund der Gesteinszusammensetzung sei diese höher als sonst in Russland üblich. Anfangs stellte man die Ergebisse ins Internet, dann wurde das verboten. Der Fernfahrer präsentiert fürs Foto seine größte Maräne, dann verabschiede ich mich.

Russen wollen in der Natur entweder angeln, jagen oder in fröhlicher Gesellschaft trinken. Wenn jemand mit einem großen Rucksack allein herumwandelt – bloß um die Natur zu genießen oder aus ähnlich unklaren Gründen – ist es mit großer Wahrscheinlichkeit ein Europäer. Und die Chancen, dass ihn jemand im Auto mitnimmt, stehen sehr gut. Ein Ausländer verspricht ein wenig Abwechslung.

Tag eins. Sicher klappt es heute. Das Wetter prima, im Schnee frische Wagenspuren, es sieht nach regelmäßigem Verkehr aus.
Als erstes hält ein weißer Jeep.
- Severobaikalsk?
- Klar, steig ein! Aber achte bitte nicht auf die anderen Leute im Wagen, klar?
Im Auto stinkt es durchdringend nach Alkohol.
- Nationalität?
- Deutsch.
Die beiden stockbesoffenen Passagiere brechen in grölende Heiterkeit aus und fuchteln mit einer fast leeren Wodkaflasche herum. Zweihundertfünfzig Kilometer mit Besoffenen im Auto? Ich bedanke mich freundlich und steige aus.
Das zweite Fahrzeug ist ein kleiner Toyota.
- Severobaikalsk?
- Ja, aber leider kein Platz. Wir fahren zu einem Begräbnis.
Auf der Rückbank erblicke ich einen länglichen abgedeckten Gegenstand, wahrscheinlich ein Sarg. Ich wünsche herzliches Beileid und gute Fahrt.
Als drittes halten zwei glänzende, dicke Pickups mit vier korpulenten, speckigen Herren darin, Geschäftsführer des Irkutsker Milchprodukte- und Majonnaise-Herstellers Janta. Sie fahren nur 60 Killometer bis zur nächsten Siedlung, sind aber gern bereit, mich mitzunehmen. Souverän gleiten wir in einigen Kilometern Entfernung vom Ufer über den Schnee und haben nach kurzer Zeit den Sarg und die Betrunkenen überholt. Wir halten an einem Schild: Bargusinsker Staatliches Zapovjednik. Dafscha. Aufenthalt ohne Genehmigung verboten. – Ein Zapovjednik ist in Russland die strengste Naturschutzgebiete-Kategorie. Da ich für die Siedlung Dafscha keine Genehmigung habe, steige ich aus und wünsche den Herren viel Glück beim Angeln.
Solange es Hoffnung gibt, ist Warten eine durchaus erbauliche Angelegenheit. Ich lasse mir die Mittagssonne ins Gesicht scheinen, trinke Tee und versuche das große Schweigen zu begreifen, das Schweigen auf dem winterlichen Baikal.
Näherkommendes  Motorengeräusch: die Betrunkenen, die wir gerade überholt hatten, sind wieder da. Inzwischen ist auch der Fahrer blau. Er kommt mir mit schwankenden Schritten entgegen.
- Inzwischen schlafen alle im Auto. Steig ein!
- Vielen Dank, ich erhole mich hier noch ein wenig!
- Nu, smotri sam, du musst es selbst wissen.
Wenig später der Sarg. Der Fahrer macht eine entschuldigende Handbewegung. Ich winke fröhlich zurück. Wo kein Platz ist, da ist kein Platz. Ich kann mich schließlich schlecht dazulegen.
Eine Stunde später ein kleiner LkW, nur leider in die Gegenrichtung unterwegs, zurück in die Bucht. Da ich dem Schweigen des winterlichen Baikals nach einer Stunde Warten nicht mehr so viel abgewinnen kann, steige ich trotzdem ein. Am Steuer ein sympathischer Kerl in meinem Alter, Nationalparkmitarbeiter.
-Per Autostopp nach Severobaikalsk? Wesjolyj parjen, ein fröhlicher Bursche bist du! Welche Reiseziele im Leben hast du sonst noch?
- Na, Kamtschatka vielleicht.
- Ich fahre nicht gern weit weg, bin eigentlich am liebsten zuhause.
- Dann ist das aber nicht ganz der richtige Job?
- Das alles hier zähle ich zu meinem Zuhause!
Der junge Mann deutet mit einer Handbewegung über den See.

Beim ersten Auto, das uns entgegenkommt, habe ich Glück. Der Mann am Steuer will ganz nach Norden, ist nüchtern, und auf der Rückbank steht kein Sarg. Ich steige um und freue mich darauf, bald Jewgenij Marjasov und seine Tochter Anna in Severobaikalsk wiederzusehen, die das Baikal Trail Hostel betreiben und die ich vor über fünf Jahren mehrfach besucht hatte, bei meinen ersten Reisen an den Baikal mit der BAM.
- Wassili, auch Deutscher.
Wieso auch, staune ich, woher weiß er das von mir nur so genau, ich habe doch noch gar nichts erzählt? Seine Eltern, erfahre ich, wurden im Krieg von der Wolga an den Amur verbannt und sind dann in den 70er Jahren, in der heißen Phase des Grenzkonflikts mit China, in die Baikalregion gezogen.
Die Fahrspuren im Schnee sind gut zu erkennen, nur an einigen Stellen verweht. Ein wenig Rütteln und Motorjaulen, dann geht es weiter.
- Vorderradantrieb?
- Allrad. Wenn die Räder vorn durchdrehen, schaltet die Hinterachse zu.
Ich bin beruhigt. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen. Im Schnitt schaffen wir etwa 30 bis 40 km/h. Bevor es völlig dunkel ist, sind wir wohl am Ziel. Wir passieren die Thermalquellen Chakusy, vor uns liegen die letzten 50 Kilometer quer über den See ans andere Ufer.
- Job twoju mat!
Die Fahrspuren sind inzwischen so verweht, dass der Toyota steckenbleibt. Wenn die Räder in den Schnee sinken und das übrige Fahrzeug auf der erhöhten Fläche dazwischen aufsitzt, hilft auch Allrad nicht weiter. Also holt Wassili eine Schaufel hervor und befreit sein Auto von unten. Zehn Meter später das gleiche Spiel. Und wieder. Und wieder.
Wassili spuckt aus und flucht. Die Besoffenen und der Sarg müssen doch gerade noch hier vorbeigekommen sein. Oder haben wir den Weg verfehlt? Noch eine knappe Stunde bis zur Dunkelheit.
- Schonmal im Auto übernachtet?
- Ja, aber Benzin hat die Eigenschaft, zuende zu gehen!
Ich verstehe seine bittere Ironie: der Sprit reicht nicht, um eine Nacht mit laufendem Motor hier zu stehen und am nächsten Tag noch das Ziel zu erreichen. Ich wäre mit meinen Outdoorsachen und zwei Daunenschlafsäcken gerüstet für eine kalte Nacht auch ohne Auto, ein Feuer am Ufer, heißer Tee mit dem Propangaskocher, das Leben geht weiter. Wassili aber trägt Anzughosen und Weste und hat außer etwas zu essen nichts dabei. Handyempfang gibt es keinen, und niemand von uns hat ein Satellitentelefon.
Wir beschließen umzukehren, möglichst genau in unserer gerade ausgefahrenen Spur. In mondlosem Dunkel rütteln wir langsam über die endlose Schneedecke, nur ein kleiner Ausschnitt der stockfinsteren Welt vor uns erhellt von den Scheinwerferkegeln, die laut aufgedrehte Musik vertreibt das mulmige Gefühl in der Magengegend. Nach Mitternacht erreichen wir die Tschivirkuj-Bucht, ich lasse mich an meiner Jurte absetzen. Die Krasnojarsker Hobbyfischer sind amüsiert.
- Na, nicht weit gekommen, was?
- Doch! Zweihundert Kilometer hin und wieder zurück.
Niemand ist beeindruckt. Russen haben ein anderes Maß für Entfernungen als ich.

Tag zwei. Sicher klappt es heute. Die intensive Wintersonne rötet mein Gesicht, es bläst ein feiner Wind, vom Nordende der Insel Golyj, die Nackte, dringt Möwengekreisch zu mir herüber. Unterhalb der felsigen Steilküste des Inselchens entdecke ich eine tiefe Grotte mit faszinierenden, riesigen Eiszapfen und –säulen, die die Wellen des herbstlichen Baikal vor seiner winterlichen Erstarrung erzeugt haben. Noch einmal betrete ich die Holzbude der beiden Rentner, die mich am Vortag so nett empfangen haben. Ich treffe den Fernfahrer allein an. Aus der Nachbarhütte dringen fluchende Brabbellaute. Der Geophysiker hat sich nach nebenan auf Besuch begeben und dort volllaufen lassen, sein Kollege hält an den Angeln die Stellung.
Ich begebe mich an erneut eine der den Fahrweg markierenden, in den Schnee gesteckten kleinen Kiefern. Zehn Uhr. Die Landschaft mit dem Fernglas betrachten. Tee trinken, etwas essen. Den Möwen und dem Wind lauschen. Allen möglichen Gedanken hinterherhängen. Keinen Gedanken hinterherhängen und nur wahrnehmen. Wieder Tee trinken. Herumlaufen. Die Karte studieren. Einem in der Gegenrichtung vorbeifahrenden Auto hinterhersehen. Auf einem kleinen Zettel Notizen machen. Fishermans Friend-Pastillen lutschen. Das Gesicht eincremen. Tee trinken.
Zwei Uhr. Jemand, der heute noch bis ganz nach Norden will, wäre schon vorbeigekommen. Enttäuscht trotte ich ins Innere der Bucht zurück. Die Nacht verbringe ich in dem kleinen Fischerdorf Kurbulik. Alexej, ein junger Fischer mit vom einfachen Leben etwas verhärtetem Gesicht, heizt für mich den großen weißgekalkten Ofen ein.
- Wir leben eigentlich gut hier. Nur dass die Kinder nach Ust-Bargusin ins Internat müssen, ist schlecht. Lesen und Rechnen kann ich ihnen auch hier beibringen, und sonst braucht man doch nichts von dem Zeug, was sie einem noch in der Schule erzählen.

Tag drei. Heute klappt es ganz bestimmt. Voller Optimismus und frischer Energie stehe ich an der Eisstraße. Nach  einiger Zeit stoppen zwei aus Richtung Norden kommende glänzende, dicke Pickups. Vier korpulente, speckige Herren steigen aus und finden es außerordentlich lustig, mich immer noch hier stehen zu sehen: die Janta-Geschäftsführer, mit denen ich bis Dafscha gefahren bin! Sie haben sich beim Fischen gut erholt und sind auf dem Rückweg nach Irkutsk.
- Christos woskres!
Stimmt, fällt mir ein, heute ist ja der orthodoxe Ostersonntag, eine Woche später als in Deutschland.
- Woistinje woskres!
Der Dialog, wie ihn das Ritual verlangt: Christus ist auferstanden! – Wahrhaftig auferstanden!
Ich scheine Mitleid zu erregen. Einer der vier schenkt mir zwei bemalte Eier und eine Wurst.
- 1941 habt ihr es nicht bis Moskau geschafft, und jetzt – nicht bis Severobaikalsk!
Freundschaftliches Schulterklopfen, herzliches Lachen, und schon sind sie verschwunden.

Ein kleiner Toyota hält, am Steuer ein bekanntes Gesicht: richtig, der Sarg! Ich traue meinen Augen kaum. Hat er es doch tatsächlich über den See bis zu seinem Begräbnis geschafft und ist schon zurück! Der Mann und seine Beifahrerin freuen sich aufrichtig, mich zu sehen und nehmen mich sehr gern mit.
- Bis Ust-Bargusin, passt das?
Schon 14 Uhr. Heute, am Ostersonntag, fährt wohl wieder keiner nach Severobaikalsk. Ich seufze und denke wehmütig an mein umsonst gebuchtes Flugticket. Wenig später verlassen wir das Eis und fahren aufs Festland der Halbinsel Heilige Nase. Auf das Erreichen der sicheren Erde muss natürlich angestoßen werden mit hundert Gramm Wodka, meine Einwände, ich würde nicht trinken, spielen keine Rolle; es wird eingeschenkt, was ich dann weiter mache, sei meine Sache.
- Wir konnten Sie leider wirklich nicht mitnehmen, wir hatten einen riesigen Trauerkranz im Auto, der hat die ganze Rückbank eingenommen.
Und ich dachte, es war ein Sarg, murmle ich und überlege, ob nach sto gramm ein Mensch wohl noch fähig ist, ein Fahrzeug zu führen.

Jurtensiedlung auf dem Eis in der Tschivirkuj-Bucht
Anglerhütten vor dem Bergpanorama der Halbinsel Heilige Nase
Dafscha - Wendepunkt meiner Fahrt nach Norden
Eisgrotte an der Küste der Insel Golyj
Mittagessen am orthodoxen Ostersonntag



Mittwoch, 4. April 2018

Akzente

Gestern schrieb ich ein paar russische Worte an die kleine Tafel in unserem Lehrerzimmer und diskutierte mit meiner Kollegin Nadezhda die Frage, ob wohl zu erkennen sei, dass dies ein Ausländer geschrieben habe. Ob meine Handschrift sozusagen einen Akzent hat, wie auch mein mündliches Russisch. Nadezhda überlegte eine Weile. Das kleine t hat eigentlich die Form eines deutschen m, ich schreibe es in T-Form, weil das schneller geht, nun gut, das machen viele Russen auch. Aber einige Buchstaben seien untypisch miteinander verbunden. Irgendwie merke man es schon, meinte die Kollegin nach einigem Überlegen, hier war kein Muttersprachler am Werk.
Wenn ich spreche, müssen Russen nicht lange nachdenken, sondern hören in der Regel nach wenigen Sätzen, dass ein Ausländer vor ihnen steht. Wer ein wenig Erfahrung mit verschiedenen Akzenten hat, erkennt den Deutschen. Das wird sicher auch in der Zukunft so bleiben. Ich glaube, schon in früher Kindheit werden die Muskeln im Munde eines deutschen Kindes anders angelegt als die im Munde eines russischen. Deutsche Laute werden weiter vorn gebildet, russische eher hinten im Rachenraum, was den Vokalen eine charakteristische, unverkennbare Färbung verleiht. Viele russische Konsonanten sind palatalisiert, das heißt, der hintere Teil der Zunge vollführt nach ihrer Artikulation eine Bewegung zum Gaumen hin, was sich vor Vokalen oft wie ein „j“ anhört, aber eigentlich keines ist, wie in Matrjoschka. T, k und p am Wortanfang haben keinen so starken Luftstoß wie im Deutschen, sie sind nicht aspiriert. Wenn ein Deutscher Thomas sagt und sich dabei ein Blatt Papier vor den Mund hält, vibriert es vom Lufthauch. Wenn ein Russe Thomas sagt, bleibt das Blatt still. Vor Vokalen am Wortanfang schließen Russen ihren Kehlkopfdeckel nicht, es unterbleibt der Glottisschlag. Das gerollte r, die Zischlaute, alles erlernbar, aber so diffizil und in Feinheiten anders als im Deutschen, dass der Ausländer fast immer herausgehört wird. Fast immer. Manchmal bin ich regelrecht irritiert, wenn mein Gegenüber nach fünf Minuten Gespräch immer noch nicht gefragt hat: und wo kommen Sie eigentlich her?

Letzte Woche gab die bekannte Moskauer Pianistin Jekaterina Motschalina in der Philharmonie Ulan-Udes ein Konzert. In Russland werden klassische Konzerte immer moderiert, die Künstler effektvoll angekündigt und auf die Bühne gebeten, nicht selten wird zu den Werken etwas erzählt. Dieses Mal war etwas anders. Ganz in schwarz gekleidet, betrat die Moderatorin gemeinsam mit der Pianistin die Bühne. „In der Stadt Kemerovo ist ein schreckliches Ereignis passiert, das vielen Menschen das Leben gekostet hat“, hörten wir, und jeder wusste, dass es um den Brand eines Einkaufszentrums mit fast hundert Todesopfern ging. „Heute ist landesweite Trauer ausgerufen. Im Andenken an die Opfer bitte ich um eine Minute Schweigen!“ Der Saal erhob sich. Die Musik großer Komponisten verbinde die Menschen und mache Hoffnung, dass sich so etwas nicht wiederholt, sagte sie weiter und kündigte an, dass nun zunächst das cis-moll-Präludium von Rachmaninov erklinge. Nachdem die letzten nachdenklichen Akkorde entschwebt waren, begann das eigentliche Programm. Die Pianistin wurde unter Nennung aller ihrer Preise und Auszeichnungen auf die Bühne geklatscht und spielte ihr nur aus deutschen Komponisten bestehendes Programm. Das Haus war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Zum ersten Mal saß ich bei einem Klavierabend in der ersten Reihe; Kartenpreis drei Euro. Maja bekam in der Pause Haferkekse und hielt aufmerksam bis zum Ende durch. Stehende Ovationen.

Am Beispiel von Maja sehe ich, dass Kinder lernen wollen, wenn man nur eine interessante Umgebung schafft und sie ein wenig unterstützt. Neuerdings entdeckt sie die deutsche Sprache, zeichnet etwas, eine Blume, ein Auto oder ein Haus; ich soll das deutsche Wort dazuschreiben, und sie versucht es zu entziffern. Oder wir spielen das Spiel „Abenteuerreise Deutschland“ mit einer Deutschlandkarte, auf der man sich würfelnd fortbewegt unter Lösung kleiner Aufgaben auf Deutsch. Richtig angestellt, ist dafür kaum Druck erforderlich, höchstens ein wenig Konsequenz beim Klavierüben vielleicht. Maja faltet, bastelt, malt und schreibt von ganz allein. Kinder wollen sich eigentlich die Welt erschließen. Wichtig finde ich die Abwesenheit von Medien, die die Aufmerksamkeit absaugen und alle Kreativität erschlagen. Bei uns gibt es keinen Fernseher, und mein Notebook wird nur zum Arbeiten aufgeklappt.

Vor einiger Zeit habe ich ein Flugticket von Nizhneangarsk nach Ulan-Ude gekauft, für den 9. April. Nizhneangarsk liegt am Nordende des Baikalsees, eine reichliche Flugstunde bis hierher. Was ist mit dem Hinflug, fragte die Frau am Schalter, oder gehen Sie vielleicht zu Fuß? Ich komme auf andere Weise hin, murmelte ich, ohne meinen Plan näher auszuführen: in Längsrichtung über den Baikalsee trampen, 250 Kilometer von Ust-Bargusin nach Severobaikalsk, wo nach meiner Kenntnis regelmäßig Autos auf einer Art inoffizieller Eisstraße fahren. Anfang April ist das Eis noch dick genug für einen LKW. Natürlich bleibt eine Unsicherheit, ob mich jemand mitnimmt. Wenn es nicht klappt, wird am 9. April wohl ein Platz in der kleinen Propellormaschine freibleiben.