Montag, 28. November 2016

Eine Nacht in Tschita



Ein Moment aus meiner Potsdamer Studienzeit vor etwa zehn Jahren ist mir gut im Gedächtnis geblieben. Es war im Russischkurs mit Herrn Sultanov, und wir Studenten waren dazu aufgefordert, reihum  - auf Russisch – zu sagen, warum wir uns für das Erlernen dieser Sprache entschieden haben. „Ich träume davon, in Sibirien Deutsch zu unterrichten“, meinte ich, und alle mussten darüber ein wenig lachen einschließlich mir selbst. Damals hätte ich nie gedacht, dass es je möglich sein könnte, irgendwann einmal fließend Russisch zu sprechen und russische Klassiker im Original zu lesen, und dass mein Traum vom Deutschunterrichten in Sibirien so gründlich in Erfüllung gehen würde.

Natürlich bin ich nicht der einzige Deutsche, den es seine Muttersprache unterrichtend nach jenseits des Uralgebirges verschlagen hat. In jeder größeren Stadt gibt es ungefähr einen. Fünfhundert Kilometer westlich von Ulan-Ude – in Irkutsk, fünfhundert Kilometer weiter östlich – in Tschitá, beides Städte entlang der Transsibirischen Eisenbahn. Während eine Besichtigung von Irkutsk zum Standardprogramm für Transsib-Touristen gehört, steigt in Tschita kaum jemand aus dem Zug. Bekannt ist die Stadt in Deutschland wohl nur Sibirien-Fans und Russistik-Studenten, die mit ihrem Namen vor allem ein historisches Ereignis in Verbindung bringen: Zwangsarbeit und Verbannung für eine Gruppe aufständischer Offiziere, der Dekabristen, die im Jahre 1825 das Zarenregime stürzen wollten und dafür hinter den Baikalsee verschickt wurden.
In Begleitung von Niso besuchte ich in Tschita meinen deutschen Kollegen Frithjof, gelernter Luft- und Raumfahrtingenieur, der irgendwann darauf kam, dass ihn soziale Prozesse und das Arbeiten mit Menschen eigentlich mehr interessieren als die Technik. Frithjof ist der einzige westeuropäische Ausländer in der Stadt. Im Akademischen Auslandsamt der Transbaikalischen Staatlichen Universität, wo er arbeitet, kann niemand Englisch, dafür spricht man Chinesisch. Deutschstudenten gibt es wenige, das Niveau ist niedrig. Tschita ist umgeben von nackter, hügeliger Steppe; die nach St. Petersburger Schachbrett-Vorbild angelegten Straßen sind breit und gerade. Da das Sibirische Militärkommando hier seinen Sitz hat, sieht man im Bahnhof viele an- und abreisende Soldaten. In einem Wojentorg genannten Kiosk werden Fanartikel der russischen Armee verkauft: Shampoo, Lippenbalsam, Zahncreme und sogar Mineralwasser mit Etiketten in grüner Tarnfarbe und der Aufschrift „Armee-Standard“. In einer alten Holzkirche aus dicken braunen Balken ist das Dekabristen-Museum untergebracht, wo man eine Kopie des Urteils gegen die Aufständischen studieren kann. Nach dem erfolglosen Aufstand verurteilte Zar Nikolai I. die fünf Haupttäter zum Tode durch Vierteilung. Wenig später wurde die Strafe abgemildert und man erhängte sie lediglich. – Für Niso war der Besuch in Tschita aus ganz persönlichem Grund interessant: hier haben sich nämlich ihre Eltern kennengelernt.

Ich erinnere mich sehr gut an Wowa, einen jungen Moskauer Sprachwissenschaftler, der ein Jahr lang  in Ulan-Ude wohnte und mit dem ich mich anfreundete. Wowa konnte sich in etwa zehn bis zwölf verschiedenen Sprachen verständigen, hat sich an dem als extrem schwer geltenden Georgisch ein halbes Jahr lang vergeblich die Zähne ausgebissen und war hier in Burjatien damit beschäftigt, Chinesisch, Mongolisch und Burjatisch zu lernen. Vor allem Letzteres stellt eine außerordentliche Seltenheit dar für jemanden, der von außerhalb kommt und ist zur Verständigung auch nicht erforderlich, da alle Burjaten Russisch können. Als Wowa erfuhr, dass ich eine Freundin habe, die aus Tadschikistan kommt und Tadschikisch spricht, war er ganz außer sich vor Begeisterung. „Eine tolle Sprache, ganz einfach und logisch“, meinte er, „Verbformen, Satzbau, Aussprache, alles kein Problem!“ Unbedingt wollte er mit Niso bekannt gemacht werden und versuchte, sich mit ihr auf Tadschikisch zu unterhalten. Iсh versuche nun auch selbst ein wenig, die erste Muttersprache meiner Freundin zu erlernen und merke, dass Wowa recht hatte. Als indoeuropäische Sprache, ganz eng mit dem im Iran gesprochenen Persisch verwandt, ist sie für meinen germanischen Sprachverstand gut fassbar. Tadschikisch ist auf Kyrillisch geschriebenes Persisch, die Grammatik erfreut mich durch ihre zivilisierte Logik: die Verben haben Personalendungen, der Akkusativ wird durch eine Silbe markiert, manche Wörter sind leicht zu merken: parodar – Vater, modar – Mutter. Lustig sind die aus zwei Bestandteilen bestehenden Verben, wörtlich übersetzt heißt schlafen, lernen und sprechen Schlaf machen, Gedächtnis nehmen und Wort werfen.

Wie funktioniert das Erlernen einer Fremdsprache? Jedenfalls für die allermeisten Menschen wohl nicht, indem sie Wörter auf kleine Zettel schreibe mit Übersetzung auf der Rückseite und nun versuchen, sich systematisch jeden Tag zehn davon zu merken. Die Sprache muss leben, muss in einem Zusammenhang verwendet werden, ich muss Wörtern wieder und wieder begegnen in ihrer unterschiedlichen Gestalt, ich muss versuchen zu baden in der Sprachwelt, muss innerlich begeistert sein von dem, was mir die Dinge neu offenbaren dadurch, dass sie mit einem für mich bislang unbekannten Klang bezeichnet werden, mich an den Gesetzen des Sprachbaues erfreuen, das Schreiben der Buchstaben genießen und den Wunsch haben, das Land zu besuchen, in dem die Menschen so sprechen. Und wenn man das Sprachpflänzchen in sich geduldig und lange gießt, ohne zwischendurch ungeduldig an den Blättern zu zerren, dann erscheinen auch irgendwann die Blüten und Früchte.  So ähnlich versuche ich meine Deutschstudenten zu motivieren - von denen es in Ulan-Ude zum Glück ein paar mehr gibt als in Tschita.

Zugfahrt vorbei an rauchenden Dörfchen (oben). Längste Eisenbahnstrecke der Welt - auf einem Wagen der Transsib prangt stolz die Kilometerangabe (unten)
Zugzeit ist Lesezeit (oben). Auf dem Bahnhof Chilok (unten)
Der Leninplatz in Tschita (oben).
Noch eher er richtig begann, war er schon wieder zu Ende: ein Bild im Dekabristen-Museum illustriert den erfolglosen Aufstand gegen das Zarenregime 1825 (oben). Todesstrafe durch Vierteilung (unten)
Blick auf Tschita vom Titov-Hügel aus. Die Stadt ist ewas kleiner als Ulan-Ude und umgeben von nackter Steppe

Sonntag, 20. November 2016

Posolsk. Eine Nacht im Männerkloster

Dieser sibirische Winter verspricht von anderer Qualität zu werden als der des Vorjahres. Bereits jetzt ist es so kalt wie damals Ende Dezember. Da die Flüsse und der Baikal noch nicht komplett zugefroren sind, ist durch die Feuchtigkeit die Kälte noch etwas mehr zu spüren. Das Katastrophenschutzministerium schickt Rund-SMS an die Bevölkerung: Auf dem Territorium der Republik werden niedrige Lufttemperaturen von -25 bis -35 Grad erwartet. Schützen Sie sich vor Unterkühlungen und Erfrierungen!

In der Siedlung Posolsk direkt am Ufer des Baikals gibt es ein 2002 wiedereröffnetes orthodoxes Männerkloster. Als ich am Samstag dort eintreffe, ist der Ort in eisiges Schneetreiben versunken. Die kleinen Holzhäuser liegen unter einer dicken Neuschneedecke. Am Ufer sind zwei Meter hohe Berge aus Eis und Schnee aufgetürmt. So weit der Blick reicht, ist der See schon zugefroren. Ich betrete das hinter einer über 300 Jahre alten Steinmauer verborgene Klostergelände und frage, ob es für mich hier eine Übernachtungsmöglichkeit gäbe. Ein junger Mann führt mich zu Vater Jussuf, dem Priester. In seiner schwarzen Mönchstracht steht er vor mir und streicht sich nachdenklich den langen schwarzen Bart. Ob ich denn ein gläubiger Mensch sei?
Natürlich, antworte ich wahrheitsgemäß. Protestant. Das stimmt nicht ganz, erspart mir aber komplizierte Erklärungen.
Ohne weitere Umstände bekomme ich erst einmal Suppe und Tee im Speisesaal und beantworte einige Fragen zu Deutschland wie zum Beispiel die, ob es stimme, dass jetzt fünfzig Prozent Moslems dort wohnen? Bruder Sergej, ein stämmiger Mann mit kaukasischen Gesichtszügen, ehemaliger Berufssoldat, zeigt mir ein Bett und gibt frische Bettwäsche dazu. Nach meinen Erfahrungen in Baturino freue ich mich besonders über den nicht vorhandene Fernseher. Vier Sorten von Leuten gibt es im Kloster, lerne ich: Mönche, Mönchsanwärter, Arbeiter und Pilger (palómniki); mich rechnet man wohl zu letzterer Kategorie. Ich teile das Zimmer mit Bruder Jevgenii, der auf einem Regal über dem Kopfende seines Bettes unzählige Ikonen aufgestellt hat. Gerade ist er allerdings nicht da, weil er im Heizraum (kotélnaja) seine 24-Stunden-Schicht ableistet. Dort muss ein riesiger weißgekalkter Ofen ständig mit Kohle gefüttert werden, der das gesamte Klostergelände versorgt. Wie viel Kohle braucht man so am Tag? Oh, eine Menge, meint Jevgenii, ein ganzer Eisenbahnwaggon – 60 Tonnen – reiche nicht mal für einen Winter.
Nach zwei Stunden muss ich den abendlichen Gottesdienst mit Magenkrämpfen verlassen, wahrscheinlich, weil ich zu lange nichts gegessen habe und dazu durch das lange Stehen erschöpft bin. Durch den Schneesturm kämpfe ich mich ein paar hundert Meter zum nächsten Magazín und kaufe ein Weißbrot und eine Tafel Schokolade, die ich schnell und mit etwas schlechte Gewissen im Zimmer mit Tee aus meiner Thermoskanne verspeise, um für das letzte Drittel der Zeremonie gestärkt zu sein.
Später am Abend kommt ein Mann zu mir ins Zimmer gestürmt. Andrej, stellt er sich vor. Nietzsche, Schopenhauer, Goethe, Bach, sprudelt es aus ihm heraus, von den Deutschen sei er total begeistert. Er nimmt einen Hocker und setzt sich zu mir ans Bett. Ob meine Vorfahren auch im Krieg gekämpft hätten? Er sei ja wirklich beeindruckt von der Sorge der Wehrmacht um den Menschen! Ich schaue ihn fassungslos an. Der Gegner im Osten galt doch nicht mal als Mensch…?  Ja, aber die Sorge um die eigenen Leute! Jeder Soldat bekam Fronturlaub. Und beim Bau von Flughäfen wurde auch an Ruhezonen für die Piloten gedacht. Ich sei Protestant? Er möchte mir jetzt ein Geheimnis offenbaren, aber das dürfe hier niemand wissen! Andrej senkt die Stimme und beugt sich zu mir vor.
Er sei früher auch Protestant gewesen! Baptist. Aber dann habe er begonnen, orthodoxe geistliche Literatur zu lesen. Das habe ihn in ganz andere Welten versetzt!
Beim Besuch eines orthodoxen Gottesdienstes glaubte sich meine Schwester auch versetzt, und zwar ins Mittelalter, entgegne ich, nach zehn Minuten ist sie herausgegangen. Wir beide lachen zusammen. Warum werden eigentlich die Worte vom Priester so undeutlich gemurmelt, dass man sie beim besten Willen nicht verstehen kann, selbst wenn man die altkirchenslavische Sprache gelernt hätte? Ja, da habe ich wohl recht, das sei nicht gut! Allerdings würde das  dreistündige Ritual bei langsamem und deutlichem Zelebrieren noch einmal um die Hälfte länger dauern, dazu reiche die Geduld bei den modernen Menschen wohl nicht mehr. Er sei jetzt hier, um sich einen Monat lang seelisch zu reinigen, dann gehe es zurück nach Tynda – ein Eisenbahn-Knotenpunkt zwischen Baikal und Pazifik - wo ich ihn auf seine Datsche unbedingt besuchen solle. Die protestantische Taufe werde von der russisch-orthodoxen Kirche nicht anerkannt, weil keine Salbung mit Öl erfolgt und kein richtiges Untertauchen ins Wasser stattfindet. Deshalb müsse, wer den orthodoxen Glauben annehmen wolle, sich eigentlich noch einmal umtaufen lassen.
Nachdem wir uns schon verabschiedet haben und ich bereits im Bett liege, kommt Andrej noch einmal hereingelaufen. Mit vor Enthusiasmus leuchtenden Augen zitiert er auf Russisch Nietzsche, was dich nicht umbringt, macht dich stärker, ob ich ihm das einmal auf Deutsch aufschreiben könne?

So verbrachte ich eine warme Nacht im Posolsker Männerkloster. Posól bedeutet Botschafter. Die Gründung des Klosters hat mit der Geschichte der russischen Erschließung Sibiriens zu tun. Im Jahre 1650 wurde hier ein russischer Botschafter überfallen und ermordet, der sich – so die Überlieferung – auf dem Weg in die Mongolei befand, um dem mongolischen Khan mitzuteilen, dass sein Wunsch, sein Reich unter die Schutzherrschaft des russische  Zaren zu stellen, erfüllt werde. Dies war Anlass zur Gründung einer Festung und eines Klosters an dieser Stelle. In der russischen Geschichtsschreibung ist selten von Eroberungen die Rede, dafür gern von kleinen Völkern, die um Aufnahme in das schützende, starke Zarenreich bitten. -

In Ulan-Ude auf dem Weg zwischen Bahnhof und meiner Wohnung komme ich an großen Plakaten vorbei: „Ich bin Bürger Russlands. Ich zahle Steuern.“ Und hundert Meter weiter: „Zahlen Sie für die Wärme! Eine warme Stadt – gut. Schulden und Kälte – schlecht.“ In der Straßenbahn gibt es Aushänge: „Zahlen Sie Ihre Heizrechnung und erhalten Sie einen Bonus!“ In der Welt, aus der ich komme, ist das Bezahlen von Steuern und Wohnnebenkosten wohl eher die Regel als die Ausnahme – aber zum Glück gibt es der Welten mehr als nur eine.

"Zahlen Sie für die Wärme!", steht auf einem Plakat, das die Zahlungsmoral der Bevölkerung anheben soll (oben). Das Posolsker Männerkloster war am Wochenende in dichtes Schneetreiben gehüllt (unten).


Der große Ofen im Heizraum versorgt die Klosteranlage mit kostbarer Wärme (oben). Mein Zimmerkollege hat sich über dem Kopfende seines Bettes Ikonen aufgestellt (unten).

Dienstag, 15. November 2016

Eine Nacht im Frauenkloster



Oben: Das Sretensker Frauenkloster liegt in dem winzigen Dörfchen Baturino. Unten: Bei -15 Grad ist das Lagerfeuer ein Segen

Oben: Der Priester (ganz links), die Äbtin und die Nonnen versammeln sich am Sonntag nach dem Gottesdienst im Speisesaal. Unten: In der Männerunterkunft wurde mir das Bett links oben zugeteilt.
Oben: Die Arbeiter wohnen in einem Holzhaus noch aus der Zarenzeit. Unten: In der klostereigenen Schreinerei werden Souvenirs hergestellt.
Oben: Die hochmoderne computergesteuerte Fräse fertigt die Holzkreuze ganz ohne menschliches Zutun. Unten: Die Kolchosruine im Ort zeugt davon, dass es einmal bessere Zeiten gab.

Gerade haben Niso und ich die frische Milch getrunken, die uns Mutter Olga zum Abschied unseres Klosterbesuches geschenkt hat. „Dick und lecker, man schmeckt, dass die Kuh erst vor Kurzem gekalbt hat!“, meinte Niso, die auf dem Dorf aufgewachsen ist und sich in solchen Dingen auskennt.

Als wir am Samstag zeitig am Morgen nach Baturino aufbrachen, hatten wir alles dabei, um die folgende Nacht trotz leichter Minusgrade, wie ich dachte, möglichst gemütlich im Zelt zu verbringen: drei Schlafsäcke, zwei gefüllte Thermoskannen, einen Propangaskocher und diverse Pullover, lange Unterhosen und Wollsocken. Im Dorf Nesterovo, ein paar Kilometer hinter Baturino, stiegen wir nach anderthalbstündiger Fahrt mit dem Kleinbus aus. Es war halb zehn Uhr morgens, eine eisige Kälte biss uns ins Gesicht. Wir schulterten unsere Rucksäcke, ich zog meine neue Daunenjackenkapuze mit Waschbär-Pelzkragen tief ins Gesicht und wir setzen uns in Marsch. Nach wenigen Schritten begann Niso über abgefrorene Zehen zu klagen. Ich gab ihr ein Paar der legendären, von meiner Mutter selbstgestrickten Wollsocken, und nach einer Weile hatte sie sich die Füße tatsächlich warmgelaufen. Die Sonne schaute gerade über einen Hügel am Horizont, es war blauer Himmel, ringsum die Felder bedeckt mit blendendweißem Schnee. Ich schätzte die Temperatur auf minus zwanzig und beschloss in diesem Moment: die nächste Nacht werden wir wer weiß wo verbringen, aber bestimmt nicht im Zelt.

Baturino, auf halbem Wege zwischen Ulan-Ude und dem Baikalsee, ist ein Dörfchen aus drei Dutzend Häusern mit einer mächtigen, weithin sichtbaren Kirche in der Mitte; aus einigen der Gebäuden steigen dünne Rauchsäulen auf, die zwei Wege durch den Ort sind menschenleer. Was bewegt die Leute, die in den Häusern hinter den dicken Balken wohnen, wo arbeiten sie, wer geht in die Kirche? Wir sollten Gelegenheit bekommen, einen Einblick zu erhalten, doch zunächst gingen wir außen um den Ort herum, vorbei an den verfallenen Mauerresten einer ehemaligen Kolchose, auf den von mir so getauften Caspar-David-Friedrich-Hügel mit dem Holzkreuz auf dem Gipfel. Von oben schauten wir über die in erhabener Stille liegende Landschaft, von einer einzigen Straße durchzogen, von der hin und wieder das ferne Motorengeräusch eines Autos zu uns heraufdrang. Wir entzündeten ein Lagerfeuer und wärmten uns, Niso erzählte mir von ihrer kräutersammelnden und als Heilerin tätigen Großmutter, die sie eigentlich in ihre Kunst einweihen wollte, doch der Krieg in Tadschikistan und die Auswanderung nach Russland kamen dazwischen.

Die prächtige, weiß gekalkte Kirche mit den meterdicken Wänden in Baturino gehört zum Sretensker Frauenkloster. Mit einem Kloster verbindet man wohl in Westeuropa ein Gebäude mit einem Säulengang und die Zugehörigkeit zu einem Orden, Johanniter etwa, Benediktiner oder Dominikaner. Bei den Klöstern der russisch-orthodoxen Kirche gibt es weder das eine noch das andere. Eine der schwarz gekleideten Nonnen, die im Vorraum saßen und Kerzen und Souvenirs verkaufen, fragte ich nach Übernachtungsmöglichkeiten: wir würden gern um 17 Uhr den Gottesdienst besuchen, müssten dann aber bis morgen bleiben können. Nach einem Telefonat mit der Äbtin (Iguminja) teilte die Nonne mit, dass unser Wunsch erfüllt werden kann: die Frau kommt ins Frauen-Gästehaus und ich in die Arbeiter-Unterkunft. Wir sind eigentlich zusammen, meinte ich etwas unsicher… Kopfschütteln. Ich verstand: hier ist ein Kloster, da gelten besondere Regeln. 

Um 17 Uhr begann es vom Kirchturm zu läuten, zunächst rhythmische, einzelne Schläge an einer großen Glocke und dann ein helles Gebimmel aus vielen kleineren Glocken, wie man es in Westeuropa nicht kennt. Die Zeremonie dauerte drei Stunden; ich hielt es nicht aus, so lange zu stehen und setzte mich zwischendurch immer wieder auf die eigentlich für Alte und Gebrechliche vorgesehene Bank. Auch in einem Frauenkloster ist der Priester (Batjuschka) natürlich ein Mann. Die Sprache der Liturgie ist das nicht nur für mich, sondern wahrscheinlich für die meisten Russen größtenteils unverständliche Altkirchenslavisch. Im vorderen Teil des Kirchenraumes standen die 15 Nonnen (Inokiny) und Nonnenanwärterinnen (Poslushnitsy), die sozusagen in der Probezeit sind. Zwischendurch sangen zwei helle Frauenstimmen, eine davon Mutter Olga, die mich bei meinem letzten Besuch in den Speisesaal eingeladen hatte. Sie sind getauft?, fragte mich eine der Nonnen, als sich die Schlange zur Kommunion bildete. Dann kommen Sie! Ich schaute aufmerksam auf die Gläubigen vor mir, um keine Fehler zu machen, und wiederholte genau, was sie taten: sich bekreuzigen, die große goldene Bibel küssen und mit der Stirn berühren, dann zum Priester treten, der mit Öl und einem Pinsel ein Kreuz auf die Stirn zeichnet, und den Ärmelaufschlag seines mit goldenen Ornamenten verzierten Gewandes küssen, und schließlich von einem Tablett eine kleine Brotscheibe, die Hostie, nehmen.

Nach der Kommunion verließ ich mit den Brüdern den Gottesdienst, um in der Trapeznaja, dem Speisesaal, das Abendbrot einzunehmen. Draußen war es schon stockdunkel. Die Brüder sind die beim Kloster arbeitenden Männer. Dicht zusammengedrängt saßen wir an der langen Tafel vor jeder seinem Glas Tee und löffelten eine Suppe, eher wortkarge, vom Leben gezeichnete Kerle; draußen vor dem Fenster schauten Dunkelheit und Minusgrade herein, konnten uns aber nichts anhaben. Es ist ein Unterschied, ob man in einer deutschen Großstadt oder in einem sibirischen Dorf einen Teller heiße Suppe löffelt. Damit die heiße Suppe entsteht und auf den Tisch kommt, ist in letzterem Falle sehr viel mehr Aufwand erforderlich, und um zu überleben, ist sie in Sibirien sehr viel notwendiger. Neben mir ein hagerer Mann mit aufmerksamem Blick, der sich mir als der Traktorist vorstellte. Und dieser Taugenichts da gegenüber, das ist unser Künstler, der malt die Ikonen, scherzte er. Selber Tagenichts, entgegnete der Ikonenmaler und lachte. Er hatte einen eleganten Anzug an mit Krawatte und strömte eine leichte Wodkafahne aus. Er mag es, zu trinken, erklärte mir der Traktorist. Aber ich mag das manchmal auch. Das ist eben unsere russische Krankheit.

Das Haus, in dem die Brüder wohnten, ist bestimmt aus dem vorletzten Jahrhundert, ein Holzhaus aus dicken Balken mit den klassischen russischen, blau lackierten Fensterläden. Die Tür muss man kräftig aufstoßen – in einem Dorf, wo jeder jeden kennt, wird nicht abgeschlossen – dahinter dann einen schweren, von oben herabhängenden Teppich zur Seite schieben. Ein riesiger, weiß gekalkter Ofen teilt den Raum in zwei Hälften, der Durchgang rechts neben ihm ist wieder mit Teppichen und Folien abgehängt. Danach steht man im Schlafraum: 3 Doppelstock- und ein einfaches Bett dicht zusammengestellt, in den Ecken Ikonenbilder, in der Mitte auf einem Schrank der Fernseher. Ich fand es bemerkenswert, mit wie wenig Privatraum die Leute auskommen. Mir wurde ohne große Worte eines der oberen Betten zugewiesen und Bettwäsche gegeben. Auf engem Raum mit vielen unbekannten Leuten sein ist eine Erfahrung, die ich schon oft in Russland gemacht habe; jede Fahrt mit dem platskartnyj wagon gehört dazu. Einfach und authentisch sein hilft mir dabei, mich schnell und unkompliziert ins Kollektiv einzufügen, nicht zu klug und zu viel reden, ein paar interessierte Fragen stellen, aber auch nicht zu neugierig nachbohren. Wer weiß, was für eine Vergangenheit die Leute haben, dachte ich, umsonst entschließt sich wohl keiner zu einem Leben als Klosterbruder. Abends verschwanden meine Zimmerkollegen zur Lesung eines Gebetes (pravilo) ins Nachbarzimmer. Ich sei wohl Katholik wie alle Deutschen, fragte mich der junge Mann im Bett unter mir. Die Hälfte bei uns sind Lutheraner, meinte ich stark vereinfachend, aber der Gott ist ja wohl der gleiche bei allen Christen… Beifälliges Nicken.

Ein wenig ärgerte ich mich beim Einschlafen über den laufenden Fernseher. Eigentlich stand mir der Sinn nicht nach den Wahlen in Moldawien, wo es wieder einmal hieß EU oder Russland? oder nach den zwei russische Flugzeugträgern, die im Mittelmeer vor der syrischen Küste kreuzten. Doch dann machte ich mir bewusst, dass die Alternative minus zwanzig Grad im Zelt heißt und genoss die Wärme des russischen Ofens. 

Der Fernseher wurde schon am nächsten Morgen um sieben wieder eingeschaltet. Aufstehen! Um 8 Uhr begann der sonntägliche Gottesdienst, der jetzt nur zweieinhalb Stunden dauerte. Eine Zeitlang traten Gläubige einzeln zum Priester vor und flüsterten ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser etwas sprach und ihnen seine breite Stola über den Kopf legte – die Beichte (ispoved). Die Kommunion verlief diesmal anders als am Vortag. Bevor ich mir eine Hostie vom Tisch nahm, spritzte mir der Priester mit einem Pinsel in einer kreuzförmigen Bewegung Wasser ins Gesicht, dann küsste ich sein goldenes Kreuz und seine Hand. Nun gab es auch eine Predigt (propoved), in welcher der Batjuschka an die Geschichte der Klöster in Russland erinnerte. Vor der Oktoberrevolution gab es über 1200, zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges war kein einziges mehr in Betrieb. 1943 wurden die ersten Klöster wieder eröffnet, heute gibt es schon wieder über 800. 

Um 11 Uhr machten sich die Männer wieder an die Arbeit, obwohl Sonntag war. Niso und ich durften einen Blick in die Schreinerwerkstatt werfen, in der mit einer hochmodernen computergesteuerten Fräse die Holzkreuze und ähnliche Gegenstände hergestellt werden, die dann in der lavka, dem Klostershop sozusagen, zum Verkauf stehen. Der Traktorist  schrieb mir zum Abschied seine Telefonnummer auf, ich solle wiederkommen! Und Mutter Olga schenkte uns eine Flasche Milch von einer der fünf Klosterkühe. Niemand hatte uns während des Besuches nach Geld gefragt. Ich fragte, wo ich etwas spenden könne; eine Nonne zeigt mir den Spendenkasten. Zarin Katherina die Zweite war ja auch Deutsche, erzählt sie mir, und sie hat fünf Jahre in Russland gelebt, bevor sie den orthodoxen Glauben angenommen hat. Also, beeilen Sie sich nicht, hören Sie darauf, was die Seele Ihnen sagt.

Eine Weile standen Niso und ich draußen im Schneetreiben und betrachteten das Dekabristen-Grab neben der Kirche. Ein gewisser Shimkov war nach dem missglückten Aufstand gegen die Monarchie 1825 hierher verbannt worden. Der Ort Baturino hatte früher wohl mal eine derartige Bedeutung, dass sogar der deutsche Sibirienforscher Müller auf seiner Exkursion vor knapp 300 Jahren von ihm berichtete. Dann studierten wir die exakt geometrischen Eiskristalle, die die landenden Schneeflocken auf unseren Daunenjacken hinterließen. Wenig später kam der Bus zurück in die Stadt.