Ein Moment aus meiner Potsdamer
Studienzeit vor etwa zehn Jahren ist mir gut im Gedächtnis geblieben. Es war im
Russischkurs mit Herrn Sultanov, und wir Studenten waren dazu aufgefordert,
reihum - auf Russisch – zu sagen, warum
wir uns für das Erlernen dieser Sprache entschieden haben. „Ich träume davon,
in Sibirien Deutsch zu unterrichten“, meinte ich, und alle mussten darüber ein
wenig lachen einschließlich mir selbst. Damals hätte ich nie gedacht, dass es
je möglich sein könnte, irgendwann einmal fließend Russisch zu sprechen und
russische Klassiker im Original zu lesen, und dass mein Traum vom
Deutschunterrichten in Sibirien so gründlich in Erfüllung gehen würde.
Natürlich bin ich nicht der
einzige Deutsche, den es seine Muttersprache unterrichtend nach jenseits des
Uralgebirges verschlagen hat. In jeder größeren Stadt gibt es ungefähr einen.
Fünfhundert Kilometer westlich von Ulan-Ude – in Irkutsk, fünfhundert Kilometer
weiter östlich – in Tschitá, beides Städte entlang der Transsibirischen
Eisenbahn. Während eine Besichtigung von Irkutsk zum Standardprogramm für
Transsib-Touristen gehört, steigt in Tschita kaum jemand aus dem Zug. Bekannt
ist die Stadt in Deutschland wohl nur Sibirien-Fans und Russistik-Studenten,
die mit ihrem Namen vor allem ein historisches Ereignis in Verbindung bringen:
Zwangsarbeit und Verbannung für eine Gruppe aufständischer Offiziere, der
Dekabristen, die im Jahre 1825 das Zarenregime stürzen wollten und dafür hinter
den Baikalsee verschickt wurden.
In Begleitung von Niso besuchte
ich in Tschita meinen deutschen Kollegen Frithjof, gelernter Luft- und
Raumfahrtingenieur, der irgendwann darauf kam, dass ihn soziale Prozesse und
das Arbeiten mit Menschen eigentlich mehr interessieren als die Technik.
Frithjof ist der einzige westeuropäische Ausländer in der Stadt. Im
Akademischen Auslandsamt der Transbaikalischen Staatlichen Universität, wo er
arbeitet, kann niemand Englisch, dafür spricht man Chinesisch. Deutschstudenten
gibt es wenige, das Niveau ist niedrig. Tschita ist umgeben von nackter,
hügeliger Steppe; die nach St. Petersburger Schachbrett-Vorbild angelegten
Straßen sind breit und gerade. Da das Sibirische Militärkommando hier seinen
Sitz hat, sieht man im Bahnhof viele an- und abreisende Soldaten. In einem Wojentorg genannten Kiosk werden
Fanartikel der russischen Armee verkauft: Shampoo, Lippenbalsam, Zahncreme und
sogar Mineralwasser mit Etiketten in grüner Tarnfarbe und der Aufschrift „Armee-Standard“.
In einer alten Holzkirche aus dicken braunen Balken ist das Dekabristen-Museum
untergebracht, wo man eine Kopie des Urteils gegen die Aufständischen studieren
kann. Nach dem erfolglosen Aufstand verurteilte Zar Nikolai I. die fünf
Haupttäter zum Tode durch Vierteilung. Wenig später wurde die Strafe
abgemildert und man erhängte sie lediglich. – Für Niso war der Besuch in
Tschita aus ganz persönlichem Grund interessant: hier haben sich nämlich ihre
Eltern kennengelernt.
Ich erinnere mich sehr gut an
Wowa, einen jungen Moskauer Sprachwissenschaftler, der ein Jahr lang in Ulan-Ude wohnte und mit dem ich mich
anfreundete. Wowa konnte sich in etwa zehn bis zwölf verschiedenen Sprachen
verständigen, hat sich an dem als extrem schwer geltenden Georgisch ein halbes
Jahr lang vergeblich die Zähne ausgebissen und war hier in Burjatien damit
beschäftigt, Chinesisch, Mongolisch und Burjatisch zu lernen. Vor allem
Letzteres stellt eine außerordentliche Seltenheit dar für jemanden, der von
außerhalb kommt und ist zur Verständigung auch nicht erforderlich, da alle
Burjaten Russisch können. Als Wowa erfuhr, dass ich eine Freundin habe, die aus
Tadschikistan kommt und Tadschikisch spricht, war er ganz außer sich vor
Begeisterung. „Eine tolle Sprache, ganz einfach und logisch“, meinte er,
„Verbformen, Satzbau, Aussprache, alles kein Problem!“ Unbedingt wollte er mit
Niso bekannt gemacht werden und versuchte, sich mit ihr auf Tadschikisch zu
unterhalten. Iсh versuche nun
auch selbst ein wenig, die erste Muttersprache meiner Freundin zu erlernen und
merke, dass Wowa recht hatte. Als indoeuropäische Sprache, ganz eng mit dem im
Iran gesprochenen Persisch verwandt, ist sie für meinen germanischen
Sprachverstand gut fassbar. Tadschikisch ist auf Kyrillisch geschriebenes
Persisch, die Grammatik erfreut mich durch ihre zivilisierte Logik: die Verben
haben Personalendungen, der Akkusativ wird durch eine Silbe markiert, manche
Wörter sind leicht zu merken: parodar
– Vater, modar – Mutter. Lustig sind
die aus zwei Bestandteilen bestehenden Verben, wörtlich übersetzt heißt
schlafen, lernen und sprechen Schlaf
machen, Gedächtnis nehmen und Wort werfen.
Wie funktioniert das Erlernen
einer Fremdsprache? Jedenfalls für die allermeisten Menschen wohl nicht, indem
sie Wörter auf kleine Zettel schreibe mit Übersetzung auf der Rückseite und nun
versuchen, sich systematisch jeden Tag zehn davon zu merken. Die Sprache muss
leben, muss in einem Zusammenhang verwendet werden, ich muss Wörtern wieder und
wieder begegnen in ihrer unterschiedlichen Gestalt, ich muss versuchen zu baden in der Sprachwelt, muss innerlich
begeistert sein von dem, was mir die Dinge neu offenbaren dadurch, dass sie mit
einem für mich bislang unbekannten Klang bezeichnet werden, mich an den
Gesetzen des Sprachbaues erfreuen, das Schreiben der Buchstaben genießen und
den Wunsch haben, das Land zu besuchen, in dem die Menschen so sprechen. Und
wenn man das Sprachpflänzchen in sich
geduldig und lange gießt, ohne zwischendurch ungeduldig an den Blättern zu
zerren, dann erscheinen auch irgendwann die Blüten und Früchte. So ähnlich versuche ich meine Deutschstudenten
zu motivieren - von denen es in Ulan-Ude zum Glück ein paar mehr gibt als in Tschita.
Zugfahrt vorbei an rauchenden Dörfchen (oben). Längste Eisenbahnstrecke der Welt - auf einem Wagen der Transsib prangt stolz die Kilometerangabe (unten) |
Zugzeit ist Lesezeit (oben). Auf dem Bahnhof Chilok (unten) |
Der Leninplatz in Tschita (oben). |
Noch eher er richtig begann, war er schon wieder zu Ende: ein Bild im Dekabristen-Museum illustriert den erfolglosen Aufstand gegen das Zarenregime 1825 (oben). Todesstrafe durch Vierteilung (unten) |
Blick auf Tschita vom Titov-Hügel aus. Die Stadt ist ewas kleiner als Ulan-Ude und umgeben von nackter Steppe |