Samstag, 30. März 2019

Eiswunder, Industrieapokalypse und freundliche Straßenhunde – meine Gäste im Interview

Christiane und Jonathan, kurz vor eurer Abreise nach zwei Wochen Russland nun das Abschiedsinterview mit euch… Russland ist ja kein klassisches Reiseland für Deutsche, wenn man Leute fragt, ob sie schon mal in Russland waren, dann werden wahrscheinlich die meisten mit Nein antworten. Ist es zu Recht kein klassisches Urlaubsland, oder lohnt es sich nicht eigentlich doch, hinzufahren?
Joni: Mein Gefühl ist, dass es schon als Urlaubsland im Kommen ist, zumindest unter Studenten. Alle, denen wir von der Reise erzählt haben, waren da fast schon eifersüchtig drauf, besonders auf das Ereignis Transsib. Ich finde auf jeden Fall, dass es sich als Reiseland lohnt. Der Abenteuercharakter, den viele suchen, ist allein schon wegen der Sprachbarriere vorhanden.
Chrissi: Und das langsame, lange Reisen, was viele wollen – da eignet sich Russland auch gut, zumal wir auch positive Erfahrungen mit den Menschen gemacht haben. Die klassischen Reiseländer sind natürlich „westlicher“ Natur, wo die Kultur der deutschen ähnlicher ist…
Joni: …naja, und die touristische Infrastruktur ist natürlich noch sehr ausbaufähig, für bequemes Reisen ist Russland dann doch nicht so geeignet…
Wie seid ihr mit der Sprachbarriere umgegangen?
Chrissi: Improvisatorisch… wir haben viel mit Händen und Füßen kommuniziert, da fast kein Russe Deutsch oder Englisch kann, zumindest nicht die, denen wir auf unserem Weg begegnet sind. Ein paar Brocken Russisch haben wir uns angeeignet und ansonsten hektisch im Sprachführer geblättert…
Joni: …und längere Gespräche mit Google-Übersetzer geführt, was aber auch oft missverständlich war. Wenn wir was eingekauft haben, haben wir uns den Preis zeigen lassen, das funktioniert ganz gut.
Chrissi: Wenn man will, geht es irgendwie. Mit dem Sprachführer kann man Fragen stellen, aber die Antworten versteht man dann nicht.
Joni: Tatsächlich ist es sinnvoll, das kyrillische Alphabet zu können, und so ein paar Standardsachen, zum Beispiel „ich spreche kein Russisch“, „ich verstehe nicht“ und so ein paar Höflichkeitsfloskeln.
Spontan und ohne nachzudenken – ein Erlebnis, das euch besonders beeindruckt hat?
Chrissi: Die Datsche mit Banja und Filzstiefeln und im Winter grillen!
Joni: Eisgrotten und zugefrorener Baikal! Buddhisten, Straßenhunde, Goldzähne…
Auf der Datsche habt ihr ja so richtig die russische Gastfreundschaft erlebt…
Chrissi: Genau, mit vielen Dingen, die wir bei Dir nicht erlebt haben, da Du natürlich Deutscher bist und Dein Deutschsein hierher mitbringst…
Joni: …und keinen Alkohol trinkst…
Chrissi: …mit vielen Toasts, wobei es viele Regeln zu beachten gibt, jeder Toast hat irgendwie seine Legitimation, und absolut zwingend, dass die Flasche leer wird. Auch ungewöhnlich: Marmelade pur zum Tee gereicht, dann absolut klobige, aber sehr wärmende Filzstiefel; und die russische Saune, die Banja, die aus drei Räumen besteht: ein Vorraum, in dem Tee getrunken wird, der Waschraum, in dem man sich mit kaltem, lauwarmem oder warmem Wasser übergießen kann je nach Abhärtungsgrad, und der eigentliche Dampfraum.
Joni: In Deutschland würde man auch nicht alkoholisiert in die Sauna gehen!
Jetzt bitte jeder spontan ein Erlebnis, das euch befremdet hat oder sehr komisch anmutete!
Chrissi: Da muss ich erstmal nachdenken.
Joni: Da gab es mehrere Momente, aber zuerst fällt mir die Bilderausstellung im buddhistischen Tempel ein, wo wir zwar gesagt haben, dass wir die Sprache nicht sprechen, aber wir trotzdem zehn Minuten lang auf Russisch bequatscht wurden. Am Anfang haben wir noch gesagt „Ja nje ponimaju“, aber dann irgendwann sind wir doch ins Nicken abgedriftet - also mir war das sehr unangenehm.
Chrissi: Das im Konzert Leute hinter uns mitgesummt haben an einigen sehr emotionalen, tollen Stellen beim Tschaikowski.
Joni: Nee, das war beim Vivaldi…
Chrissi: …beim Tschaikowski auch…
Daran knüpfe ich gleich mal an: Ihr habt hier einiges an Kultur erlebt, Oper, Philharmonie, Auftritte in der kleinen Bahai-Gemeinde – was könnt ihr sagen, wie unterscheidet sich die russische Konzertkultur von der deutschen?
Chrissi: Da kann ich nur bestätigen, was Du ja auch schon oft geschrieben hast – nach Russland weiß man die deutsche Konzertkultur erst so richtig zu schätzen. Selbst in der Philharmonie, dem wichtigsten städtischen Konzerttraum, ist es nicht möglich, sich ganz der Musik hinzugeben, denn es herrscht immer eine leise Gesprächskulisse, natürlich im Flüsterton, aber gut hörbar, und wir haben erlebt, dass jemand ans Telefon ging. Die Leute applaudieren schon, wenn noch die letzten Töne erklingen.
Joni: Ich weiß nicht, ob das Meckern auf hohem Niveau ist, aber es gab ein paar Sachen, die ich wirklich ganz schlimm fand.
Schieß los!
Joni: Der Meister spielt Cello, ist ganz versunken in seinem Stück, und eine Frau filmt das – das ist ja schon bei uns unüblich – und schafft es dann tatsächlich, wahrscheinlich aus Versehen, die Aufnahme abzuspielen! Und dann hörte man das Cello in der Aufnahme, und der Meister hörte es wohl auch, weil die Frau in der ersten Reihe saß – er hörte sich selbst also spielen von vor dreißig Sekunden! Sie hat auch lange gebraucht, um das wieder auszumachen. In der Oper wurde aus Tetrapacks getrunken, Sechsjährige saßen vor Smartphones während der Aufführung…
Du warst ja das erste Mal in Russland, Joni. Welche der Vorstellungen, die Du von Russland hattest, wurden bestätigt und welche wurden widerlegt?
Joni: Bestätigt wurde, dass tatsächlich die wenigsten Englisch oder Deutsch sprechen. Naja, eine gewisse Grobheit ist den Leuten auch eigen, aber womit ich dann nicht gerechnet hatte, dass sich dann doch viele als sehr herzlich und nett erwiesen. Naja, und das Aussehen der Städte hatte ich mir schon ungefähr so vorgestellt, naja, so…(lacht)
Sprich es ruhig aus!
Joni: …irgendwie einfach, trist, industriell, graue Schlote… an wie vielen Fabriken wir vorbeigefahren sind, deren Schornsteine wie in der letzten postapokalyptischen Utopie da herausragen, das ist schon gruselig teilweise.
Ist es nicht auch so ein bisschen Industrieromantik? Kannst du mit dem Wort was anfangen? Gruselig, aber trotzdem irgendwie faszinierend.
Chrissi: Nee, also ich kann damit gar nichts anfangen, wenn das da so rausqualmt… Viele Stadtansichten wirken wie eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, in der einzelne Gegenstände mit grellen Farben eingefärbt wurden.
Joni: Doch, ja schon, ist was dran… Noch eine interessante Sache: ich glaube, es wird viel Wodka getrunken, aber ich habe das nie gesehen. Außer als wir es selbst praktiziert haben, habe ich nie jemanden trinken sehen.
Chrissi: Auf den Dörfern läuft immer mal jemand besoffen rum wie der, der uns fast ins Auto gelaufen wäre, aber getrunken wird wohl eher zuhause.
Joni: Es ist ja auch verboten, in der Öffentlichkeit zu trinken. Also, das Bild vom betrunkenen Russen mit der Wodkaflasche in der Hand hat sich nicht bestätigt. Alleine zu trinken scheint auch eher verpönt zu sein.
In der Öffentlichkeit wird dann umgefüllt, man trinkt den Wodka aus der Saftflasche, glaube ich, die Leute sind ja auch nicht ganz doof…Anderes Thema: Ihr seid in meinem Unterricht Studenten aus dem ersten Studienjahr begegnet, und selbst studiert ihr auch im zweiten Semester… wie war das für euch? Sind die russischen Studenten anders?
Chrissi: Natürlich auffallend war, dass sie sehr viel jünger sind als wir, zwischen 16 und 20, wohingegen sie bei uns zwischen 18 und 55 sind, der Durchschnitt so Ende 20, Anfang 30. Das hat sich natürlich im Verhalten geäußert, dass sie sehr schüchtern sind, viel Respekt vor dem Lehrer haben, sich nicht so profilieren oder aus sich rausgehen. Sie schreiben still mit, wenn Du was gefragt hast, wurde die Antwort kaum verständlich geflüstert, manche sagen gar nichts. Bei dem ersten Kurs war mein Eindruck, dass die Leute eigentlich gar keine Lust haben, dort zu sein, also völlig unmotiviert… aber das wirkte wohl nur so.
Joni: Ja, das wirkte wohl nur so, die wollen schon Deutsch lernen… Was eigentlich alle gesagt haben, war, dass sie ihre Stadt scheiße finden. Wenn man sie gefragt hat, was gefällt euch an Ulan-Ude, dann haben alle gekichert und den Kopf geschüttelt. Die wollen weg und den Westen kennenlernen und dafür lernen sie Deutsch. Es war jedenfalls interessant, den Unterricht kennenzulernen, ich glaube, sie können Dich gut leiden, Du giltst als cooler Dozent…
Woran meint ihr das gemerkt zu haben, dass sie mich gut leiden können?
Joni: Sie lachen, wenn Du was Lustiges sagst!
Chrissi: Was wahrscheinlich schon ganz mutig ist für sie. Im Unterricht wirkte es überhaupt nicht so, als hätten sie an uns Interesse, aber hinterher wollten alle ein Foto machen und das wurde gleich auf Instagram gepostet, das fand ich irgendwie befremdlich. Warum macht man ein Foto mit uns, wenn man kein Wort mit uns gewechselt hat? Sehen wir jetzt so exotisch aus?
Naja, nicht direkt exotisch, aber ein bisschen anders schon, Du mit entblößten Schultern und Joni mit Mütze heute – auf dem Foto erkennt man euch sofort als Ausländer, würde ich sagen. Ist ja auch nicht tragisch… Der Mut der Studenten hat nicht gereicht für ein lockeres Gespräch, aber er hat gereicht, um zu fragen, ob sie ein Foto machen dürfen. Ein erster Schritt immerhin. Was waren denn noch richtig schöne Erlebnisse?
Chrissi: Was mich richtig überrascht hat – es gibt ja viele Straßenhunde hier, aber die sind alle sehr freundlich und zurückhaltend. Sie haben Hunger und kommen an, und wenn man ihnen dann was abgibt, sind sie damit auch zufrieden und betteln nicht. Sie halten sich in der Nähe, aber betteln nicht. Nie hatte ich vor einem Angst. Sie lassen sich streicheln und sind alles andere als gefährlich.
Joni: Ich fand gut, dass es wenig andere Touristen gab – als Deutscher stört man sich im Ausland ja gern an anderen Deutschen zum Beispiel. Und wohl deshalb, weil wir oft die einzigen Touris waren, schienen viele Einheimische interessiert an uns und haben auch oft gelächelt.
Was würdet ihr Leuten raten, die eine Russlandreise planen, wie sollte man sich vorbereiten?
Joni: Etwas, das man auf keinen Fall tun sollte, großes Fettnäpfchen…
Chrissi: …nicht schneuzen vor anderen Leuten!
Joni: Das war wirklich dumm, das hätten wir wissen können. Leute, putzt euch nicht in Russland die Nase, das wird wohl als extrem eklig wahrgenommen.
Habt ihr denn ablehnende Reaktionen erlebt?
Chrissi: Komischerweise nicht so sehr, niemand hat gelacht, uns angestarrt oder was gesagt.
Joni: Die Leute haben sich wohl still in sich reingeekelt. Wir haben das Schneuzen im Zug wirklich die ganze Zeit durchgezogen…
Chrissi: Es lohnt sich wirklich, so weit in den Osten zu fahren, ich kann die Transsibirische Eisenbahn auch empfehlen, weil man dann natürlich auch ein ganz anderes Gefühl für die Entfernung bekommt. Es wird sich morgen sicher auch falsch anfühlen, so schnell wieder in Moskau zu sein. Ist zwar nicht so spektakulär, vier Tage im Zug, und es ergeben sich zwangsläufig Begegnungen, auch wenn man sie gar nicht sucht.
Joni: Sprachlich sollte man sich vorbereiten, das kyrillische Alphabet lernen… Und auch ohne den Vergleich zu haben, würde ich eine Reise an den Baikalsee nicht im Sommer, sondern im Winter empfehlen. Allein diese Eisgebilde! Das hätte ich nie geglaubt! Ich dachte, der Baikal ist zugefroren, und dann ist das wie ein Parkteich in Leipzig, da ist eben Eis. Aber nein, da kommt erstmal ein drei Meter hoher Rand mit Höhlen und Eiszapfen nach oben und unten plus ineinander verschachtelte Eisschollen mit klarem Eis, wo man zwei Meter runtergucken kann… Also, klare Empfehlung an dieser Stelle.
Worauf freut ihr euch am meisten, wenn ihr wieder in Deutschland seid?
Chrissi: Ich freue mich auf weiches Klopapier.
Joni: Ich freue mich auf weniger Sprachbarrieren und so ein paar Essens-Dinge, die wir hier nicht hatten.
Obwohl die vegane Ernährung ja auch hier geklappt hat.
Joni: Ja, aber es waren schon regelrechte Exkursionen, um Milchalternativen zu finden. Es ist schon deutlich schwieriger als in Deutschland. Und passierte Tomaten gab es nicht. Es gab nur Tomatenmark, aber nicht mal das war besonders gut. Dafür gab es auf dem Markt eine riesige Auswahl an Trockenfrüchten und Nüssen, was uns sehr gefreut hat.
Danke euch für das Gespräch und einen guten Rückflug morgen!

Meine Schwester Christiane und ihr Freund Jonathan im Gespräch mit Studenten in Ulan-Ude


Mittwoch, 27. März 2019

Über die Bedeutung des Essens


Je öfter ich mit guten Freunden oder lieben Verwandten unterwegs bin, desto mehr wird mir die herausragende Funktion des Essens klar. Früher, noch romantisch und verträumt in die Welt schauend, dachte ich, das Reiseglück wäre für alle vollkommen, wenn die Natur erhaben, die Kultur lehrreich und die Gesprächsthemen tiefgründig seien; Banalitäten wir die Nahrungsaufnahme würden sich schon immer irgendwie von selbst regeln. Inzwischen bin ich mir der zentralen, gruppenzusammenhaltenden und stimmungsrettenden Bedeutung bewusst, die das richtige Essen zur richtigen Zeit einnimmt.
Die sonnabendliche Fahrt mit Frau, Kind, Schwester und Schwesters Freund in mein geliebtes Bargusin-Tal steht zunächst unter keinem guten Stern. Die Hälfte der Passagiere schlafen, die andere Hälfte schweigt angestrengt. Der Fahrer trauert in Gedanken seiner Digitalkamera nach, den seine Gattin am Vortag versehentlich in den schwefligen Schlamm der Heilquelle fallen ließ. Graue Wolken hängen am Himmel. Zwischen Maximicha und Ust-Bargusin kippt er stinkendes Benzin aus dem Reservekanister in den Tank und sich dabei die Hälfte über die Hand und auf die Straße, da ein geeigneter Trichter fehlt. Beim nächsten Tankstopp am Ortseingang von Ust-Bargusin, direkt neben einer übelriechenden, rauchenden Müllkippe, deren Plastikabfälle vom Wind in alle Himmelsrichtungen verteilt werden, öffnet Christiane die Autotür und kotzt eine Runde auf die schlammige Straße – vielleicht eine Folge des gestrigen Abends, als unsere freundlichen Gastgeber auf der Datsche in Gorjatschinsk ihre Gäste in die Traditionen der russischen Gastfreundschaft einführten und uns sehr höflich und sehr bestimmt zum Trinken nötigten: jedes Glas auf Ex, und natürlich darf die Wodkaflasche nicht angebrochen stehenbleiben. Als wenig später der Asphalt endet und die Holperpiste nach Bargusin beginnt, schaue ich verstohlen in das Gesicht meiner Frau: ob sie am untypischen Röhren des Motors und den seitlich hervorquellenden Abgasen gemerkt hat, dass unser Auspuffrohr ein Loch hat und jeden Moment abfallen könnte? Ihr sonnenbrillenbedecktes Gesicht verrät keine Emotionen. Bei Bargusin gibt es kurzzeitig Asphalt, dann folgt gewellter Sandboden, über dessen Riffel der Wagen wie über ein Waschbrett rattert. Ich verkneife mir meinen Vortrag über die örtlichen Sehenswürdigkeiten, den wegen des Lärmpegels ohnehin niemand verstehen würde, und erinnere mich an Mückenterror und das Auto rammende Kühe auf der verschimmelten Bauernhofruine meines Bekannten Sergej, die jetzt irgendwo links in der Steppe hinter uns zurückbleibt.
Am Fuße der „Sächsisches Schloss“ genannten Felsformation, am Rande einer Weidefläche vor Beginn der Holzhäuser des Dorfes Suvo, parke ich den Wagen und fordere zum Aussteigen auf. Die Sonne ist hervorgekommen. Zögerlich schälen sich meine Mitreisenden aus dem Auto und hocken sich neben die Decke, die ich flugs daneben ausgebreitet habe. Thermoskannen, Obst und Nüsse stehen bereit, mit kochendem Wasser werden Doshirak-Nudeln aufgebrüht, süßes Halwa macht die Runde. Nach wenigen Minuten mischen sich Laute zufriedenen Schmatzens und genüsslichen Schlürfens in das friedliche Geräusch des über die karge Steppe pfeifenden Frühlingswindes. Ein heiteres Gespräch kommt in Gang. Der Tag ist gerettet. Mit gefüllte Mägen und geschmeichelten Gaumen begeben wir uns den Hang hinauf in das elbsandsteingebirgeähnliche Felsenparadies, Jonathan und Christiane geben sich einen Kuss, Niso breitet die Arme im Wind aus und Maja spielt mit mir Fangen. 


Freitag, 22. März 2019

Janzhimá, Kutschigér und Kurbulík

Der Familienausflug ins Bargusin-Tal beginnt mit einer festgefrorenen Handbremse. Erst nachdem beide Hinterräder, eins nach dem anderen, abgenommen und die Bremstrommeln mit heißem Wasser übergossen wurden, können wir die Fahrt antreten. Wahrscheinlich war es nicht so intelligent, überlege ich mir, während wir uns die gewundene Straße zum Baikal über den Pychta-Pass hinaufwinden, am Tag zuvor die Autowäsche aufzusuchen. Bei den derzeitigen Temperaturen in der Stadt um die null Grad ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas einfriert, die Türschlösser zum Beispiel oder eben die Handbremse.
Zweihundert Kilometer weiter nördlich am populären kamen‘ tscherepacha, dem „Schildkrötenstein“, gibt es einen Zwischenstopp am See, dessen Eis mit der ganzen Palette seiner winterlichen Phänomene auf uns wartet. Um überhaupt hinauszukommen in das weiße Paradies, müssen zunächst einige bis zu drei Metern hohe, sanft gerundete Eis- und Schneeberge überwunden werden (sokuj), die sich jedes Jahr zu Anfang des Winters bilden, wenn die Wellen immer wieder an das erste Eis am Ufer schlagen und es damit höher und höher wachsen lassen. Dahinter dann ziehe ich die kleine Maja auf einem Plastikschlitten am Auto-Abschleppseil über geheimnisvoll schillernde spiegelglatte Flächen mit feinen weißen Lufteinschlüssen, anhand derer wir ihre Dicke von über einem Meter erkennen. Hundert Meter weiter ein langer Streifen zu Schollen aufgeworfenen Eisbruchs (torosy), einige dessen zehn- oder zwanzig Zentimeter dicken Eisplatten eine auffällig schimmernde bläuliche Farbe haben (goluboj ljod). Durch die weite, überwiegend weiße Fläche ziehen sich kilometerlange handbreite Linien grauer oder bläulicher Farbe: Spalten, die sich mit Donnergrollen einmal geöffnet hatten, durch die das Wasser gluckernd von unten heraufgequollen war und die wenige Minuten später schon wieder vereisten. Am Ufer, auf der seezugewandten Seite der runden Hügel schließlich noch grottenartige Höhlen mit von unten und oben gewachsenen armdicken Eiszapfen
Wir packen Thermoskannen und Butterbrote aus und veranstalten unter strahlender Wintersonne und blauem Himmel ein Picknick auf dem See. Die von uns gewählte Stelle erfreut sich einiger Beliebtheit: vor unseren Blicken fahren Leute Schlittschuh, chinesische Touristen zücken ihre Selfie-Sticks und weiter draußen fahren Jeeps parallel zur Küste entlang. Von dem populären Felsen in Gestalt einer Schildkröte ist nichts zu sehen. Er verbirgt sich unter einem der Schnee- und Eisberge, unter welchem, weiß keiner so genau.
Eine Fahrtstunde weiter nördlich, durch den Wald und immer an der Küste entlang erreichen wir Ust-Bargusin, wo die Straße das Ufer verlässt und ins Bargusin-Tal hinein abbiegt. Bis auf ein paar Kilometer Schotterpiste bei Maximicha, die gefühlt schon seit Jahren gebaut und niemals fertig gebaut wird, ist die Strecke hervorragend asphaltiert, so hervorragend, dass es mir nicht gelingt, die vorgeschriebenen neunzig Stundenkilometer nicht zu überschreiten. Ein paar Tage später werde ich eine SMS auf mein Handy erhalten, dass 290 Rubel von meinem Konto abgebucht wurden, die Strafe für Geschwindigkeitsüberschreitungen von 20 bis 40 Stundenkilometern einschließlich fünfzig Prozent Rabatt für schnelles Bezahlen.
Ulan-Ude liegt vierhundert Kilometer hinter uns, vor uns in der Abendsonne der farbenfrohe buddhistische Tempel Janzhima, hinter dem die Gipfel des Bargusin-Bergrückens in die Höhe ragen. Es wird kalt. Wir quartieren uns in eines der auf der anderen Straßenseiten liegenden Gästehäuser ein, Maja streichelt drei süße Wolfshund-Welpen (wolkodav), deren burjatischer Besitzer uns anbietet, einen kostenlos mitzunehmen, worauf die Kleine mir verspricht, fortan immer doppelt so lange Klavier zu üben, wenn ein Hündchen ab jetzt bei uns wohnen dürfe. Am Morgen begeben wir uns auf dem mit Holzdielen ausgelegten Weg hinter dem Tempel in den Wald hinein bis hin zu einem überdachten Felsen, um den herum zehntausende farbige Tücher in die Bäume geknotet und verschiedene Schreine zum Opfern von Münzen, Konfekt und Gebäck aufgestellt sind. Hier, in Gestalt einer Zeichnung an diesem Stein, ist im Jahre 2005 die Fruchtbarkeitsgöttin Janzhima zutage getreten; der Tempel ist seitdem Wallfahrtsort für Gläubige, vor allem solche mit Kinderwunsch.
Am nächsten Tag holpern wir über die sandige Straße am westlichen Talrand weiter nach Norden, dort, wo die Strecke von weißem Asphalt, sprich Schnee bedeckt ist, reist es sich angenehm ruhig, wo nicht, hören wir kleine und große Steine von unten gegen das Auto schlagen und ich bedauere, keinen Geländewagen zu haben. Maja liest Nimmerklug im Knirpsenland, ein sowjetischer Kinderbuchklassiker, den es auch in der DDR in deutscher Übersetzung gab, und möchte zwischendurch Kopfrechenaufgaben gestellt bekommen, um sich nicht zu langweilen, Addition und Subtraktion im zweistelligen Bereich. Am frühen Nachmittag erreichen wir das Dorf Kutschiger und finden Unterkunft an der dortigen heißen Heilquelle.
Am Fuße eines locker mit Fichten bewachsenen Berghanges stehen drei schäbige Holzhütten, aus deren angelehnten Türen Wasserdampf quillt. Unter ihnen fließen die Arme eines sich verzweigenden und trotz des Schnees ringsum nicht gefrierenden Bächleins hindurch. Schwefelgeruch liegt in der Luft. Bei meinem letzten Besuch im Sommer vor zweieinhalb Jahren drängten sich hier die heilungsbedürftigen Kurgäste, jetzt sind wir hier die einzigen. In jeder der Hütten gibt es einen Vorraum zum Umkleiden und den eigentlichen Baderaum mit dem viereckig eingefassten heißen Wasserbecken. Da sich im Winter niemand darum kümmert, die Türen geschlossen zu halten, dringt von außen immer wieder kalte Luft ins Innere, wo die durch das Wasser transportierte Erdwärme aufsteigt; der Wasserdampf kondensiert an Wänden, Bänken und Eingängen und erzeugt ein schier unglaubliches optisches Spektakel an den groteskesten nur denkbaren meterhohen Eiszapfen und Kristallgebilden. Ein Anblick wie auf einem anderen Planeten, auf dem andere physikalische Gesetze gelten. Ich zwänge mich durch die unbenennbaren Figuren der Eisstadt hindurch und steige in das Becken, dessen schwefelstinkendes Wasser gerade so warm ist, dass ich nicht friere – und trotzdem um mich herum der Eindruck, als bin ich im Inneren eines Tiefkühlfachs; ein zehnminütiges Bad im Schweigen einer sibirischen Heilquelle, das surrealste meines Lebens.

Ein Wochenende später sitzen meine Schwester und ihr Freund mit im Auto. Diesmal folgen wir hinter Ust-Bargusin nicht der Hauptstraße, sondern biegen nach links ab, hinein in den Sabaikalskij Nationalpark und auf die Halbinsel Heilige Nase. Da es den ganzen März über ungewöhnlich warm war, ist der Sandweg nicht gefroren und glatt, sondern eine einzige durchlöcherte Schlammwüste. Während ich angespannt und mit leicht verkniffenem Gesicht hinter dem Steuer sitze und versuche, die Kontrolle über den Wagen zu behalten, jauchzt Maja jedesmal vor Freude auf, wenn das Auto in einer fast reifentiefen Pfütze versinkt und eine Schlammfontäne gegen die Scheiben klatscht. Nach vierzig Kilometern dann endlich passieren wir die paar Häuser von Monachowo. Mit einem Schlag hört das Rütteln auf, die Straße wird glatt wie eine deutsche Autobahn. Ich setze die Sonnenbrille auf, um das gleißende Weiß um uns herum zu ertragen. Wir sind auf dem Eis.
Während ich entspannt durchatme, ist es nun meine Frau, in deren Gesicht sich besorgte Anspannung abzeichnet. Für Niso ist es immer mit der Überwindung von Angst verbunden, aufs Eis hinaus zu gehen oder zu fahren. Erst als klar wird, was für ein winterliches Leben hier in der Tschivirkuj-Bucht herrscht, weicht ihre Sorge der Faszination. Die Straße ist von Schnee geräumt, mit Verkehrszeichen und Wegweisern versehen; Lastwagen kommen uns entgegen, im Vergleich zu denen unser Lada Samara wohl ein Leichtgewicht ist, und irgendwo in der Mitte fernab des Ufers zeichnen sich Fischerhütten als kleine Punkte ab.
In einer Bucht an der waldbedeckten Steilküste sehen wir eine Häuserzeile mit unter Schnee begrabenen Booten davor und folgen der Straße wieder an Land. Während Maja die Dorfhunde streichelt, frage ich hier im Fischerdorf Kurbulik einen seinen Kopf aus dem Fenster steckenden Mann nach einer Unterkunft. Er führt uns zu seinem Nachbarn zwei Grundstücke weiter, der uns sein schon für Gäste zurechtgemachtes Wohnzimmer anbietet. Statt Zimmertür gibt es einen Vorhang, in der Mitte ein riesiger, untypischerweise gekachelter Ofen, an den Wänden Tapeten mit Blumenmuster, ein irgendwie sowjetischer Bücherschrank. Ich freue mich, dass meine Gäste aus Deutschland ganz unverstellt ein sibirisches Dorfhaus von innen erleben. Ob es in DDR-Wohnungen auch so ausgesehen hat, möchte Christiane wissen. Ich versuche mich zu erinnern, mir kommen eher Zweifel – gut, vielleicht das Tapetenmuster…? Abends bitte ich unseren Gastgeber Alexander, der im kleinen Zimmer nebenan schläft, das stromerzeugende Dieselaggregat nicht anzustellen: wir bräuchten nach Sonnenuntergang kein Licht, zur Not hätten wir eine Taschenlampe, und als des Lärmes überdrüssige Städter genießen wir gern einen ganz stillen Abend ohne Motorenrattern im Hof. Alexander schaut uns an wie ein paar seltsame Vögel, freut sich aber dann wohl, dass er an diesem Abend Diesel sparen kann: nur für sich selbst hätte er das Aggregat ohnehin nicht angeworfen.
Im Schein der letzten Sonnenstrahlen schippt Alexander Schnee von seinem Motorboot, das von den weißen Massen fast völlig begraben ist. Sein Nachbar, der uns zu ihm geführt hatte, schaut zu und raucht dabei. „Ja, euer Hitler hat wirklich ganz schöne Scheiße gebaut“, sagt er gutmütig zu mir, wie als sinniere er über ein kürzlich vergangenes Ereignis. Und dann erzählt er von seiner Zeit bei der russischen Armee im zweiten Tschetschenienkrieg. Siebzig Mann Verluste in seinem 1500 Mann starken Regiment, das sei ziemlich wenig. Einen Monat lang habe er dann gebraucht, um vom Kaukasus in seine Heimat an den Baikal zurückzufahren und dabei begriffen, dass Russland viel zu groß sei, als dass es jemals jemand erobern könne.
Nacht in Kurbulik. Mit Jonathan und Christiane gehe ich auf die Bucht heraus zum Betrachten des Sternenhimmels. Nur in drei, vier Häusern ist Licht, das entfernte Knattern der Dieselaggregate weht zu uns herüber. Kurbulik ist nicht an das Stromnetz der Zivilisation angeschlossen, man erzeugt Elektrizität aus Diesel oder mit Solarzellen. Nur drei Familien halten hier im Winter die Stellung und noch ein paar Einzelne wie er, hatte Alexander erzählt, die anderen gehen in größere Siedlungen wie Ust-Bargusin und kommen im Sommer wieder mit all ihren Kindern und Enkeln, die dann paradiesische Ferien in der Natur verbringen. Der Mond bescheint die weiße Wüste der Tschivirkuj-Bucht, Scheinwerfer blitzen im Dunkeln auf von Autos, die sogar nachts auf der Eisstraße fahren.
Am nächsten Tag baden wir in der heißen Quelle der Schlangenbucht: zwei in Holz eingefasste Wasserbecken im Freien zwanzig Fahrtminuten nördlich von Kurbulik, neu ausgebaut mit Holzstegen, damit Besucher nicht auf den geschützten Pflanzen herumtrampeln; Umkleidekabinen daneben und Toilettenhäuschen, davor auf dem Eis ein Metallcontainer mit zwei Nationalparkmitarbeitern, die von jedem Ankommenden 100 Rubel Eintritt nehmen. Wir sind früh da und fast die einzigen. Nach dem Bad dann ein fast schon traditionelles Picknick auf dem Kofferraum unseres Lada Samara mit Thermoskannentee, Nüssen, Äpfeln und Karob-Schokolade. Jonathan und Christiane ernähren sich vegan, was mit etwas Mühe auch in Russland kein Problem ist: die beiden haben in Ulan-Ude gleich nach ihrer Ankunft ein Spezialgeschäft ausfindig gemacht, wo es Reismilch und Tofu gibt.
Wieder auf der Eisautobahn, steuern wir einen kahlen felsigen Buckel in der Bucht an, die Insel Golyj, „die Nackte“, deren Nordende berühmt für seine gigantischen Eiszapfen und –grotten ist. Wind kommt auf. Wir legen die Köpfe in den Nacken und schauen die grauschwarzen Felsen hinauf, auf denen oben kahle Kiefernstämme mit großen verlassenen Vogelnestern stehen. Das Dorf liegt weit hinter uns, das Schweigen hier wirkt ein wenig gespenstisch. Meine Frau fühlt sich unwohl und möchte nicht länger an diesem Ort bleiben. Maja rutscht selbstvergessen auf dem Eis herum und bricht die Zapfen vor den Höhlen am Ufer ab; ich muss an das rote Hinweisschild denken, welches Besucher auffordert, die Naturschönheiten doch bitte für die Nachfolgenden zu erhalten, finde aber, dass Kinder auch das Recht zum Spielen haben sollten. Nach einigem Zögern kriecht Niso dann doch mit uns in eine metertiefe, mit Schneekristallen ausgekleidete Grotte hinein, und wir sitzen eine Weile fasziniert zwischen den Eiszapfen, von allen Seiten von gefrorenem Wasser umgeben. Ein vergleichbares Schauspiel kann es an den Ozeanen nicht geben, auch nicht am Nordpolarmeer, denn Salzwasser erstarrt nicht zu solchen prägnanten, verrückten Formen, und Süßwasser wird selten zu solchen Wellen aufgeworfen in Kombination mit derartigen Minusgraden, wie hier am Baikalsee.

Wolfshund-Welpen am Tempel Janzhima, wo an einem Felsen die gleichnamige Göttin zutage getreten ist (unten)
Die Heilquelle Kutschiger am Nordende des Bargusin-Tals
Die Heilquelle in der Schlangenbucht (oben); Eisgrotten an der Insel Golyj (unten)