Freitag, 2. Oktober 2015

Transsib



Über die Flüchtlingskrise in Europa wird in den russischen Medien oft auf eine für die Migranten negative Weise berichtet. „Stimmt es, dass moslemische Flüchtlinge jetzt in Deutschland überall Plakate aufhängen: Wer nicht an Allah glaubt, den bringen wir um“, fragte mich neulich eine Studentin. Das war vielleicht ein Einzelfall, versuche ich dann meistens zu erklären, Deutschland ist ein reiches Land, in einer globalisierten Welt können wir nicht vor dem Elend anderer die Augen verschließen, und so weiter. „Ihr solltet sie alle auf Schiffe packen und nach Amerika schicken“, schlug einer der Wächter in meinem Institut vor, „die sind schließlich mit ihrer Nahost-Politik schuld an der Krise“ – eine in Russland sehr weit verbreitete Ansicht.

Für meine Dienstreise nach Novosibirsk entschied ich mich für den Zug, da es keine Direktflüge von Ulan-Ude aus gab und ich auf das Umsteigen und Herumsitzen an Flughäfen keine Lust hatte. Spät abends bestieg ich den aus Wladiwostok am anderen Ende Russlands kommenden Zug 007. Mein Plazkartny-Waggon erwies sich als einer von der alten Generation: die Toiletten an beiden Wagenenden öffneten sich nach unten direkt auf die Gleise, 30 Minuten vor und nach jeder größeren Stadt werden sie verschlossen, „Sanitäre Zone“ nennt sich das. Es gab keine Klimaanlage, dafür konnte man das Fenster im Vorraum ein Stück öffnen. An den Steckdosen stand „Nur für Rasierapparate“ wie ein aus alten Zeiten herüberwehender Gruß, als es noch keine Handys gab.
Ich hatte Platz eins – gleich nach Betreten des Wagens die untere Pritsche links, das erste der offenen Abteile, direkt hinter Zugbegleitern und Heißwasserkessel. Die beiden auf der anderen Seite des Ganges längs gelegenen Schlafplätze waren nicht verkauft und dienten als Ablage für schwere Bettwäsche-Säcke. Mir gegenüber saß ein junger Mann mit südlicher Hautfarbe, breitem Gesicht und einem für Moslems typischen Käppchen auf dem Kopf, der mich sofort erwartungsvoll in nicht ganz korrektem Russisch mit deutlichem Akzent begrüßte. „Endlich wieder ein Nachbar, dann ist es nicht so langweilig!“ Ich war todmüde und bat ihn darum, mit seiner Lebensgeschichte bis morgen zu warten. Nachdem der Zugbegleiter wie üblich die Durchschrift meines Tickets einkassiert und die eingeschweißte Bettwäsche ausgeteilt hatte, bezog ich Matratze und Kopfkissen, streckte mich mit dem Kopf zum Fenster hin aus, bedeckte mich mit dem Laken und ließ mich von den rhythmischen Stößen der Räder in den Schlaf schaukeln.

Am nächsten Tag lernte ich meinen Abteilnachbarn kennen. Der junge Usbeke arbeitete in Wladiwostok als Friedhofsgräber und Taxifahrer und war unterwegs in seine Heimat nach Samarkand, zu Frau und Kind. Ein einfacher, sympathischer Mensch, der mir sofort seinen Tee, Brot und Smetana anbot – nach dem Ende unseres gemeinsamen Mittagessens blickte er mich schelmisch an und schnippste sich mit zwei Fingern seitlich an den Hals.
Ich schüttelte den Kopf.
„Überhaupt nicht?“ fragte er.
„Nie“, antwortete ich.
Daraufhin schaute er sich kurz um, ob auch niemand vorbeikam, holte dann eine kleine Wodkaflasche aus der Tasche, legte den Kopf in den Nacken und trank schnell ein paar große Schlucke. Ehe ich mich versah, war die Flasche schon wieder in der Tasche verschwunden.
Der Usbeke grinste. „Ein bisschen darf man schonmal. Wenn gerade keiner guckt. Sonst kann man bestraft werden.“

Unterdessen hatte der Zug Taischet erreicht, wo in östliche Richtung die BAM von der Transsib abzweigt. Jede Station, wo der Zug länger als zwei Minuten hält, wird von den Passagieren sehnsüchtig erwartet, darf man doch meistens aussteigen und kann auf dem Bahnsteig rauchen, sich die Beine vertreten und die Lebensmittelvorräte auffrischen. Ich kaufte für 100 Rubel einen Becher dunkelrote, saure Moosbeeren. Weiter ging die Fahrt Richtung Krasnojarsk vorbei an wundervoll orange und gelb glänzenden Birken und Lärchen vor dem Hintergrund sattgrüner Kiefernwälder. Ein Mann versuchte mir zu erklären, wie ich aus der Ferne die normalen Kiefern von den sibirischen „Zedern“ unterscheiden kann, die die leckeren „Zedernnüsse“ (Pinienkerne) liefern.
Am nächsten Morgen wachte ich wie üblich um 6 Uhr auf und ärgerte mich, dass es noch zwei weitere Stunden lang stockfinster draußen war, weshalb ich bei meiner Morgenlektüre auf Handybeleuchtung angewiesen blieb. Nachdem wir am Vortag zwei Zeitzonen durchquert hatten, musste die Sonne den Zug erstmal wieder einholen und ich meine Uhr zwei Stunden zurückdrehen.
Um 6:45 Moskauer Zeit (Angabe auf Ticket und Fahrplan), 11:45 Uhr Baikal-Zeit (meine innere Uhr) und 9:45 Uhr Ortszeit erreichten wir Novosibirsk, die größte Stadt Sibiriens. Meinem usbekischen Nachbarn standen zwei weitere Reisetage nach Süden bevor, mir 30 Minuten Fußweg zum Hostel.
Ruinen in der Taiga
Verpflegung im Zug
Bettwäsche-Säcke im gegenüberliegenden Abteil