Über die Flüchtlingskrise in
Europa wird in den russischen Medien oft auf eine für die Migranten negative
Weise berichtet. „Stimmt es, dass moslemische Flüchtlinge jetzt in Deutschland
überall Plakate aufhängen: Wer nicht an Allah glaubt, den bringen wir um“,
fragte mich neulich eine Studentin. Das war vielleicht ein Einzelfall, versuche
ich dann meistens zu erklären, Deutschland ist ein reiches Land, in einer globalisierten
Welt können wir nicht vor dem Elend anderer die Augen verschließen, und so
weiter. „Ihr solltet sie alle auf Schiffe packen und nach Amerika schicken“,
schlug einer der Wächter in meinem Institut vor, „die sind schließlich mit
ihrer Nahost-Politik schuld an der Krise“ – eine in Russland sehr weit
verbreitete Ansicht.
Für meine Dienstreise nach Novosibirsk
entschied ich mich für den Zug, da es keine Direktflüge von Ulan-Ude aus gab
und ich auf das Umsteigen und Herumsitzen an Flughäfen keine Lust hatte. Spät abends
bestieg ich den aus Wladiwostok am anderen Ende Russlands kommenden Zug 007.
Mein Plazkartny-Waggon erwies sich als einer von der alten Generation: die
Toiletten an beiden Wagenenden öffneten sich nach unten direkt auf die Gleise,
30 Minuten vor und nach jeder größeren Stadt werden sie verschlossen, „Sanitäre Zone“ nennt sich das. Es gab keine Klimaanlage, dafür konnte man das
Fenster im Vorraum ein Stück öffnen. An den Steckdosen stand „Nur für
Rasierapparate“ wie ein aus alten Zeiten herüberwehender Gruß, als es noch
keine Handys gab.
Ich hatte Platz eins – gleich
nach Betreten des Wagens die untere Pritsche links, das erste der offenen Abteile, direkt hinter
Zugbegleitern und Heißwasserkessel. Die beiden auf der anderen Seite des Ganges
längs gelegenen Schlafplätze waren nicht verkauft und dienten als Ablage für
schwere Bettwäsche-Säcke. Mir gegenüber saß ein junger Mann mit südlicher
Hautfarbe, breitem Gesicht und einem für Moslems typischen Käppchen auf dem
Kopf, der mich sofort erwartungsvoll in nicht ganz korrektem Russisch mit
deutlichem Akzent begrüßte. „Endlich wieder ein Nachbar, dann ist es nicht so
langweilig!“ Ich war todmüde und bat ihn darum, mit seiner Lebensgeschichte bis
morgen zu warten. Nachdem der Zugbegleiter wie üblich die Durchschrift meines
Tickets einkassiert und die eingeschweißte Bettwäsche ausgeteilt hatte, bezog
ich Matratze und Kopfkissen, streckte mich mit dem Kopf zum Fenster hin aus,
bedeckte mich mit dem Laken und ließ mich von den rhythmischen Stößen der Räder
in den Schlaf schaukeln.
Am nächsten Tag lernte ich meinen
Abteilnachbarn kennen. Der junge Usbeke arbeitete in Wladiwostok als
Friedhofsgräber und Taxifahrer und war unterwegs in seine Heimat nach
Samarkand, zu Frau und Kind. Ein einfacher, sympathischer Mensch, der mir
sofort seinen Tee, Brot und Smetana anbot – nach dem Ende unseres gemeinsamen
Mittagessens blickte er mich schelmisch an und schnippste sich mit zwei Fingern
seitlich an den Hals.
Ich schüttelte den Kopf.
„Überhaupt nicht?“ fragte er.
„Nie“, antwortete ich.
Daraufhin schaute er sich kurz
um, ob auch niemand vorbeikam, holte dann eine kleine Wodkaflasche aus der
Tasche, legte den Kopf in den Nacken und trank schnell ein paar große Schlucke.
Ehe ich mich versah, war die Flasche schon wieder in der Tasche verschwunden.
Der Usbeke grinste. „Ein bisschen
darf man schonmal. Wenn gerade keiner guckt. Sonst kann man bestraft werden.“
Unterdessen hatte der Zug
Taischet erreicht, wo in östliche Richtung die BAM von der Transsib abzweigt.
Jede Station, wo der Zug länger als zwei Minuten hält, wird von den Passagieren
sehnsüchtig erwartet, darf man doch meistens aussteigen und kann auf dem
Bahnsteig rauchen, sich die Beine vertreten und die Lebensmittelvorräte
auffrischen. Ich kaufte für 100 Rubel einen Becher dunkelrote, saure
Moosbeeren. Weiter ging die Fahrt Richtung Krasnojarsk vorbei an wundervoll
orange und gelb glänzenden Birken und Lärchen vor dem Hintergrund sattgrüner
Kiefernwälder. Ein Mann versuchte mir zu erklären, wie ich aus der Ferne die
normalen Kiefern von den sibirischen „Zedern“ unterscheiden kann, die die
leckeren „Zedernnüsse“ (Pinienkerne) liefern.
Am nächsten Morgen wachte ich wie
üblich um 6 Uhr auf und ärgerte mich, dass es noch zwei weitere Stunden lang
stockfinster draußen war, weshalb ich bei meiner Morgenlektüre auf
Handybeleuchtung angewiesen blieb. Nachdem wir am Vortag zwei Zeitzonen durchquert
hatten, musste die Sonne den Zug erstmal wieder einholen und ich meine Uhr zwei
Stunden zurückdrehen.
Um 6:45 Moskauer Zeit (Angabe auf
Ticket und Fahrplan), 11:45 Uhr Baikal-Zeit (meine innere Uhr) und 9:45 Uhr
Ortszeit erreichten wir Novosibirsk, die größte Stadt Sibiriens. Meinem
usbekischen Nachbarn standen zwei weitere Reisetage nach Süden bevor, mir 30
Minuten Fußweg zum Hostel.
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Ruinen in der Taiga |
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Verpflegung im Zug |
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Bettwäsche-Säcke im gegenüberliegenden Abteil |