Montag, 30. März 2020

Es ist unter uns


Der unsichtbare Feind ist angekommen: die Statistik meldet acht Coronavirus-Fälle in Ulan-Ude. Bildungseinrichtungen, Restaurants, Sport- und Freizeitstätten bleiben geschlossen. Putin hat ab heute eine arbeitsfreie Woche ausgerufen. Das im April geplante Referendum über eine Verfassungsänderung, die es ihm ermöglicht, auf Lebenszeit im Amt zu bleiben, wurde verschoben. Ob wohl auch die heiligste aller staatlichen Zeremonien ausfallen wird, die Parade am neunten Mai zum fünfundsiebzigjährigen Siegesjubiläum?
Das Oberhaupt Burjatiens ruft alle Bürger auf, zuhause zu bleiben und bittet auch darum, die Stadt nicht zu verlassen, um das Virus nicht in der ganzen Republik zu verbreiten. Ich muss seine Worte ignorieren und nach Jelan zu den Schwiegereltern fahren, um Frau und Kind zu holen. Niso und Maja waren eine knappe Woche auf dem Dorf. Die landestypische Ernährung, von der sie schon etwas entwöhnt sind – dreimal am Tag Fleisch im Wechsel mit Süßigkeiten und Schwarztee – hat eine ordentliche Magenverstimmung der beiden zur Folge. Entkräftet und mit Bauchschmerzen liegen sie nun im Schlafzimmer, während ich das achte und neunte Paket mit Büchern, Kleidung, Spielen und Dokumenten zum Abschicken nach Deutschland packe. Hoffentlich hat die Post geöffnet.
Mein Schwiegervater Nikolai, der in einem Milchviehbetrieb arbeitet, sattelt für Niso und mich ein friedliches weißes Pferd und lässt uns nacheinander eine Runde reiten. Los geht’s, sagt Nikolai, drückt mir die Zügel in die Hand und weist mit einer Armbewegung auf den Horizont der weiten Steppe, so weit und so lange ich wolle. Auf Pferden reiten, das habe er nach der Übersiedlung aus Tadschikistan auch nicht gleich gekonnt, in seiner Heimat sei man mehr auf Eseln unterwegs.
Meine Entsendeorganisation fordert alle Kollegen auf, gut zu überlegen, ob wir wirklich in den Gastländern bleiben wollen, wo doch der weitere Verlauf der Corona-Krise höchst ungewiss sei, oder nicht doch lieber in die deutsche Heimat zurückkehren und unseren Lehrverpflichtungen online nachkommen wollen. Russland hat allerdings inzwischen alle Flugverbindungen ins Ausland komplett eingestellt. Das deutsche Auswärtige Amt führt Rückholaktionen für Deutsche aus verschiedenen Ländern durch. Russland ist noch nicht darunter. Ehe eine vorzeitige Ausreise für mich in Betracht kommt, müssten Niso und Maja ihre bereits beantragten Visa bekommen. Schließlich wollen wir als Familie zusammen übersiedeln.
In der letzten Woche konnte ich den Arbeitsplatz noch aufsuchen. Nun ist auch dies nicht mehr möglich, die Uni ist nicht nur für Studenten, sondern auch für alle Mitarbeiter geschlossen. Am Freitag habe ich mein Büro so hinterlassen, dass es ein Nachfolger im Herbst ordentlich vorfindet, auch wenn ich es nicht mehr betreten sollte. Für alle Fälle.
Obwohl die Statistik über tausend Corona-Infizierte in Russland ausweist, ist bisher nur von zwei Toten die Rede. Man stirbt nicht an Corona hierzulande, dafür geht die Zahl der Lungenentzündungs-Opfer in die Höhe.



Mittwoch, 25. März 2020

Die wichtigste Frage: Wann?

 
Ab heute stellt die Burjatische Staatliche Universität auf Fernunterricht um. Alle Studenten bleiben zuhause und die Lehrkräfte sind angehalten, Aufgaben in ein Online-Portal einzustellen. Da Veranstaltungen mit über fünfzig Teilnehmern verboten sind, haben auch Opernhaus und Philharmonie geschlossen. Die Schulferien, die am Montag begonnen haben, wurden bis Mitte April verlängert. Da die Coronavirus-Welle in Russland wohl erst ganz am Anfang steht, ist zu vermuten, dass das Schuljahr bis zum Sommer gelaufen ist und die Bildungseinrichtungen nicht mehr öffnen werden. „Die wichtigste Frage: Wann? Burjatien erstarrt in Erwartung des Coronavirus“, titelte bereits Ende letzter Woche etwas reißerisch eine große Lokalzeitung. Bis jetzt sind aus der Baikalregion noch keine Fälle gemeldet, wohl aber aus anderen sibirischen Städten.
Auf der Post habe ich die ersten Umzugspakete nach Deutschland geschickt. Ein Zehn-Kilo-Paket per Luftpost kostet etwas über dreitausend Rubel. Im Zuge der Krise ist der Kurs zum Euro um über zehn Rubel auf etwa eins zu fünfundachtzig gefallen.
Eigentlich wollte ich mit den Pässen von Niso und Maja demnächst zum deutschen Konsulat nach Novosibirsk fliegen, um die Visa für die Übersiedlung hineinkleben zu lassen. Die Internet-Liste der genehmigten Visaanträge ist jedoch verschwunden mit einem Hinweis, von persönlichen Vorsprachen zurzeit abzusehen. Im Moment ist also gar nicht klar, wie die beiden ihr Visum für den für Anfang Juli geplanten Umzug nach Deutschland erhalten können.
Der deutsche Generalkonsul aus Novosibirsk wendet sich in einer Mail an seine Landsleute und fordert dazu auf, Ruhe zu bewahren und auf bewährte und seriöse Informationsquellen zu vertrauen. Ebenso versendet der deutsche Botschafter aus Moskau einen Rundbrief. „Unser Gastland Russland ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gemäß offizieller Statistiken von bestätigten COVID-19-Infektionen noch in geringerem Maße betroffen – allerdings in den letzten Tagen mit stark steigender Tendenz“, schreibt er. „Wir wissen, dass diese Herausforderung vorübergehen wird, aber wir wissen nicht, wie lange es noch dauern wird. Und wir wissen nicht, wie intensiv die Menschen wo betroffen sein werden.“
Kurz nachdem ich im Jahre 2015 nach Ulan-Ude zog, stand Deutschland im Zeichen der Flüchtlingskrise. Jetzt, fast fünf Jahre später, ist die geplante Rückkehr überschattet von der weltweiten Coronavirus-Pandemie.



Dienstag, 17. März 2020

Quarantäne und Knochen. Ein Besuch bei den Russlanddeutschen in Sakamensk




Obwohl das Corona-Virus in Sibirien noch nicht angekommen ist, sind in unserer Apotheke die Masken und Desinfektionsmittel schon ausverkauft. Flüge zwischen Russland und Deutschland sind nur noch über den Moskauer Flughafen Scheremetievo möglich. Wer aus besonders betroffenen Ländern wie Deutschland in die russische Hauptstadt einreist, muss sich für zwei Wochen in seiner eigenen Wohnung in Quarantäne begeben und darf nicht zur Arbeit oder zum Studium gehen, ein Erlass, der im Moment (morgen kann alles anders sein) nur Moskau betrifft und nicht für diejenigen gilt, die in eine andere Stadt weiterreisen. Meine Entsendeorganisation rät allen in Russland tätigen Kollegen, auf Auslandsreisen zu verzichten und sich in die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes eintragen zu lassen.
An zwei Abenden der Woche bin ich im Haus der Völkerfreundschaft, um mit einer sehr kleinen Gruppe von Russlanddeutschen zu singen und Deutschunterricht zu veranstalten. Als Stalin nach Kriegsausbruch die Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan verbannte, kamen einige Tausend von ihnen auch nach Burjatien und hier vor allem ins Dschidlag nach Sakamensk, um dort als Zwangsarbeiter der Trudarmija Wolfram und Molybdän abzubauen. Viele ihrer Nachfahren sind in den neunziger Jahren in die historische Heimat nach Deutschland zurückgekehrt, aber nicht alle. Mit etwas Mühe kann man in Burjatien noch alte Menschen aufspüren, die selbst deutschsprachig in der Wolgaregion aufgewachsen sind.
Zusammen mit Vitalij bin ich unterwegs nach Sakamensk, einer 11000-Einwohner-Siedlung am Ende eines entlegenen Tales südlich des Chamar-Daban-Gebirges, etwa 400 Kilometer von Ulan-Ude entfernt. Der Vierzigjährige (genau mein Jahrgang), der auch meinen Deutschunterricht und den Chor besucht, arbeitet im Komitee für interethnische Beziehungen und die Entwicklung bürgerlicher Initiativen in der Verwaltung des Präsidenten der Republik Burjatien und hat das Thema Russlanddeutsche für sich entdeckt, da seine Frau von ihnen abstammt. „Ich verehre die Deutschen“, sagt er, „so ein tolles Volk!“ Acht Jahre lang hat er selbst in Sakamensk gelebt und freut sich darauf, mit mir auf den Spuren zu wandeln, die sie dort hinterlassen haben.
Auf der Hinfahrt im fast zwanzig Jahre alten Toyota Kluger mit Rechtslenkung kommen wir an in dichten Rauch gehüllten Feldern vorbei, auf denen sich hunderte Meter lange Flammenfronten durch den ausgetrockneten Bewuchs vorwärtszüngeln. „Die Bauern brennen die Flächen ab, damit das neue Gras schneller durchkommt. Eigentlich sollte jemand daneben stehen und das Feuer kontrollieren, aber wen kümmerts?“ Dann spricht Vitalij über seine Arbeit. „Bürgerliche Initiativen? So etwas gibt es eigentlich gar nicht. Eigene Initiative ist unerwünscht. Wer etwas Ernsthaftes machen will, kriegt Knüppel zwischen die Beine geworfen. Korrupte Bürokraten steuern alles von oben und zahlen den Leuten lächerliche Kopeken. Ich bin Leitender Spezialist, und was verdiene ich? Siebenundzwanzigtausend. In diesem Jahr haben sie zweihundert aufgeschlagen. Ob ich denn immer noch unzufrieden wäre, fragen sie. Ja, unzufrieden! Durdóm!“ Das letzte Wort, zu deutsch Irrenhaus, kann man hier des Öfteren hören.
An den Lada Niva gewöhnt, komme ich mir im Toyota-Geländewagen vor wie in einem Flugzeug und gestehe Vitalij, dass ich noch nie am Steuer eines Fahrzeugs mit Rechtslenkung und Automatikgetriebe gesessen habe. „Das können wir ändern“, ruft mein Freund, und flugs tauschen wir die Plätze. An einer Ansammlung von in die Steppe gestreuten Erdhügeln machen wir halt. „Ein ehemaliger Truppenübungsplatz“, sagt Vitalij, und schon streunen wir durch Gräben und verfallene Baracken und fotografieren ein nicht mehr vorhandenes Gebäude, von welchem lediglich das Pissoir übrig geblieben ist. Mir kommt die Ahnung, dass wir ein interessantes Wochenende verbringen werden. Zumindest verbindet uns das Interesse am Herumstrolchen in Ruinen.
In Sakamensk sind wir zu Gast im Haus von Lena Iwanowna und Vladimir Alexandrowitsch, Vitalijs Schwierereltern. Vladimir ist ein lebensfroher alter Mann, dem man innere Heiterkeit und Ausgeglichenheit anmerkt, welche die Musik der Seele schenkt: er unterrichtet an der Musikschule Bajan (das russische Knopfakkordeon) und Balalaika. Sein Vater war russischer Kosake und seine Mutter Deutsche. Ihre Sprache wurde allerdings in der Familie mit den Kindern nie gesprochen. Nach dem Krieg war nicht die Zeit dafür. Die korpulente Lena war Kindergärtnerin. Lebenslang an den Lärm großer Gruppen gewöhnt, hält sie keine Stille aus und hat den Fernseher im Dauerbetrieb. An beiden Abenden heizt Wladimir für uns die Banja. Ich peitsche Vitalij mit einem Eichenlaub-Besen den Rücken aus und höre nach drei Minuten entkräftet auf. „Dem Deutschen wird eher die Hand müde, als dass der Russe was merkt“, sage ich. „Könnte man glatt einen Witz draus machen.“
Vitalij zeigt mir die Stelle, wo früher in Baracken zweitausend Wolgadeutsche gelebt haben und die im Volksmund nur Berlin genannt wurde. Heute sind dort von Müll umwehte Ruinen. Ich setze mich in das Wrack eines Moskwitsch-400 von Ende der vierziger Jahre, erster PKW für den Massenbedarf in der UdSSR der Moskauer Nachbau eines Opel Kadett K-38, nachdem Teile des Rüsselsheimer Opel-Werkes als Reparationsleistung an die Russen gingen. Wir fahren vorbei am visionär in die Ferne blickenden Lenin mit roter Digitalanzeige „noch 59 Tage bis zum Sieg“ und einem wuchtigen Panzerdenkmal. Sakamensk war einst der wichtigste Lieferant von Wolfram im Land, kriegswichtig für die Legierung von Panzerstahl. Das Wolfram-Molybdän-Kombinat wurde in den 90er Jahren geschlossen und überragt heute als gigantische Ruine die Stadt. Mein Freund packt seinen Fotoapparat aus und veranstaltet ein Fotoshooting: Thomas mit Apokalypse-Flair, zu seinen Füßen ein sowjetischer Schutzhelm.
Unweit des ehemaligen Eingangs in einen unterirdischen Schacht ein an die Felsen gemaltes rundes Emblem mit Lenin und Stalin, daneben die UdSSR-Sichel. „Mit diesem Werk hat sich wohl ein als Zwangsarbeiter schuftender Künstler die Freiheit erarbeitet“, erklärt Vitalij.
„Hier muss ja unglaublich schwere Technik im Einsatz gewesen sein“, sage ich und weise auf die riesigen Betonwände und Aufschüttungen am Schachteingang.
„Welche Technik?“ Vitalij senkt die Stimme. „Handarbeit, mein Lieber, alles Handarbeit.“
Ich wühle im Schutt und hebe ein paar interessant glänzende kleine Kristalle auf.
„Pass auf, was du da zutage förderst. Sakamensk ist auf Knochen erbaut!“
Das Lenin-Stalin-Emblem glänzt, als ob jemand ganz kürzlich die Farbe erneuert hat. „Alte Kommunisten gibt es viele hier, und sie mögen mich nicht, weil ich offen über das spreche, was hier los war. Kommunismus ist wie Faschismus, nur in anderem Gewand!“
Ob er denn nicht auch die guten Seiten der Sowjetunion sähe?
„Die gab es auf alle Fälle. Verglichen mit dem, was die heutigen Machthaber anstellen. Krugom worowstwó!“ Eine verbreitete Phrase, etwa zu übersetzen mit „ringsum Diebstahl“.
Bis 1953 schufteten im Sakamensker Dschidlag tausende Zwangsarbeiter: russische Strafgefangene und Wolgadeutsche. Eine von ihnen, die 93jährige Mechthilde Hoppe, war 1943 siebzehn Jahre alt und hat nicht direkt im Bergwerk, sondern im Holzeinschlag gearbeitet. Bei unserem Besuch spreche ich mit ihr nur Deutsch. Sie versteht fast alles, was ich sage, antwortet aber meistens auf Russisch, in einem ungewöhnlichen gesanglichen Tonfall, der die Ausländerin verrät. Bereitwillig zeigt sie ihr Trudowaja Knizhka, das Arbeitsbuch, bis heute in Russland ein wichtiges Dokument, in welchem die Arbeitsjahre im Dschidlag verzeichnet sind, und eine spätere, eng mit Schreibmaschine beschriebene Liste über Vergünstigungen im öffentlichen Leben, festgelegt nach dem „Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“: kostenloser Nahverkehr, fünfzig Prozent Rabatt auf den Strompreis, kostenlose Zahnprothesen.
Wie sie es geschafft habe, so alt zu werden?
„Ich habe nie geraucht, keinen Wodka getrunken und wenig Fleisch gegessen. Und musste immer schwer arbeiten“, sagt Mechthilde.
Was sie über Stalin denke? Von Vitalij weiß ich ihre Antwort schon. Aber ich möchte sie nochmal hören, um der Authentizität willen.
„Wissen Sie, ich hege keinen Groll. Ein guter Führer. Es herrschte Disziplin und Ordnung. Nicht so wie heute!“
Sagt eine Frau, die viertausend Kilometer zwangsumgesiedelt wurde.
„Stalin konnte ja nicht überall sein. Vielleicht wusste er von den Zuständen hier gar nichts.“
Mechthilde holt eine Jacke mit einem halben Dutzend Orden hervor, Held der Arbeit, Veteran des Großen Vaterländischen Krieges und so weiter. An der Parade am neunten Mai wird sie mit Stolz teilnehmen, hat sie doch damals im Hinterland kriegswichtige Arbeit geleistet. Noch 59 Tage bis zum Sieg!
Sakamensk liegt nur wenige Kilometer von der Mongolei entfernt.  Vor der Reise musste ich mir deshalb eine Genehmigung zum Betreten der Pogranitschnaja sona, des Grenzgebietes, besorgen. Fast ein wenig schade, dass der Kontrollposten unbesetzt war und ich sie niemandem vorzeigen konnte. Vielleicht sollte ich ja gleich hierbleiben, bis die Coronavirus-Welle vorbei ist, scherze ich am letzten Abend.
„Wir könnten zusammen auf die Jagd gehen“, meint Vladimir und holt eine Waffe aus dem in die Wand geschraubten Safe. Jedes Jahr kommt jemand von der Polizei vorbei und prüft ihre ordnungsgemäße Aufbewahrung.
„Du kannst schonmal üben“, sagt Vitalij, greift nach seinem – genehmigungsfrei benutzbaren und deshalb frei herumliegenden – Luftgewehr und geht mit mir nach draußen. Gemeinsam schießen wir abwechselnd in die in der Dämmerung weiß schimmernde Tür des Klohäuschens. Hundegebell und Sternenhimmel über der Taiga. Hier kommt so schnell kein Virus hin. Vielleicht aber auch doch.
„So etwas gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht“, wird mir mein Vater am nächsten Tag am Telefon erzählen und von den Zuständen in Deutschland berichten, wo das öffentliche Leben mehr und mehr lahmgelegt wird.
Vladimir öffnet eine Bodenklappe in der Küche, steigt in den podpólje genannten Kellerraum und gibt mir saure Gurken und einen großen Sack Kartoffeln mit auf die Rückreise. Wenn die Globalisierung zusammenbricht, werden vielleicht die Selbstversorger diejenigen sein, denen es plötzlich am besten geht.

Reste eines ehemaligen Truppenübungsplatzes auf dem Weg nach Sakamensk (oben). Bauern brennen Felder ab, damit das neue Gras schneller durchkommt (unten)
Vitalij, dessen Frau wolgadeutsche Vorfahren hat, die nach Sakamensk zwangsumgesiedelt wurden (oben). Ein Flugzeug der Sanaviazia bringt einen Kranken in die Stadt (unten)
Ein Kunstwerk am Felsen in der Nähe des Stolleneinganges (oben). Im Bergwerk wurde kriegswichtiges Wolfram abgebaut, heute ist der Schachteingang verschüttet (unten)




Eine Digitalanzeige zählt die bis zur Siegesfeier am 9. Mai verbleibenden Tage (oben). Vitalij und Vladimir mit Balalaika und Bajan in der Musikschule (unten)
Im Gespräch mit der 93jährigen Wolgadeutschen Mechthilde Hoppe, die mit 17 Jahren nach Sakamensk zwangsumgesiedelt wurde und im Dzhidlag gearbeitet hat. Sie wollte sich ausdrücklich mit mir fotografieren lassen. Selbst war sie nie in Deutschland.
Das Trudovaja Knizhka, das Arbeitsbuch, zeugt von ihren Zeiten im Lager (oben). Zu jedem russischen Dorfhaus gehört ein Kellerraum zum Lagern von Lebensmitteln (unten).
Der Safe mit der Jagdwaffe ist fest in die Wand geschraubt und wird regelmäßig von der Polizei kontrolliert (oben). Vitalij fotografierte mich gern an verschiedenen skurrilen und interessanten Orten (unten)

Donnerstag, 12. März 2020

Diplomatie und Kultur


Vor einer Weile stattete der deutsche Generalkonsul aus Novosibirsk unserer Universität einen offiziellen Besuch ab. Der Herr Generalkonsul, noch nicht allzu lange im Amt, wollte sich ein Bild machen von den Regionen seines Zuständigkeitsbereiches, zu denen ganz Sibirien und der russische Ferne Osten gehören und sich dazu mit wichtigen Persönlichkeiten und Vertretern bedeutender Einrichtungen treffen, zu denen auch die Burjatische Staatliche Universität gehört. Auf der einen Seite des Tisches saßen der einundsechzigjährige Diplomat neben seiner Übersetzerin und einem jungen Vertreter des russischen Außenministeriums, der die beiden zu allen Terminen in Ulan-Ude begleitete; ihnen gegenüber der Rektor mit einige Lehrkräften und Mitarbeitern, die gerne die Kontakte nach Deutschland intensivieren möchten und hofften, dass ihnen der Konsul dabei behilflich sein könnte.
Der hohe Gast aus Novosibirsk erkundigte sich nach dem konkreten Stellenwert von Umweltschutzfragen für die Universität, dem die deutsche Seite eine hohe Priorität einräume, da beispielsweise die Brände in der Taiga, das Abschmelzen des Dauerfrostbodens und die Verschmutzung des Baikalsees indirekt das ökologische Gleichgewicht des gesamten Planeten beträfen. Nachdem er die sehr ungefähre Antwort angehört hatte, interessierte ihn die Lage der deutschen Sprache in Burjatien, wozu der Rektor berichtete, dass es insgesamt vierhundertneunzig Schulen gäbe, von denen allerdings nur noch an zwanzig Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache angeboten würde. Auch nach den Studierendenzahlen erkundigte der Herr Generalkonsul sich ausdrücklich, woraufhin nach einigem Zögern die Lehrstuhlleiterin meinte, dass sie die Zahlen nur ungern nenne, aber es nun doch wohl tun müsse, wenn sie schon gefragt werde: nämlich gäbe es insgesamt nur etwa fünfzig Studenten der deutschen Sprache, weit weniger als etwa in den Fächern Englisch oder Chinesisch. Zum Schluss wollte der deutsche Diplomat wissen, wie es denn sein könne, dass die Burjaten als Titularnation der Republik Burjatien nur ein knappes Drittel der Bevölkerung stellen, weit weniger als Russen also, und wie es um ihr nationales Selbstverständnis bestellt sei, schließlich gehörten sie doch zum mongolischen Kulturkreis. Zu diesem Moment dauerte das Gespräch bereits länger als die vorgesehene halbe Stunde, und da es bereits mit einer ganzen Stunde Verspätung begonnen hatte, sagte der Rektor, selbst russischer Abstammung, nur kurz, dass man sich über diese große Frage sicher noch einen ganzen Tag unterhalten könne, was aber jetzt leider die Zeit nicht erlaube. In diesem Moment nun wollte er sich erheben und das Treffen beenden, was aber nicht gelang, da der Generalkonsul insistierend darauf bestand, dass er hier an einer Universität sei, wo man ihm doch eine solche Frage beantworten können müsse. Der Rektor meinte, dass natürlich viel für die Förderung der burjatischen Sprache und Kultur getan werde, und wiederholte ansonsten seine bereits geäußerte Antwort. Dann wurden die Hände geschüttelt, kleine Geschenke ausgetauscht und ein gemeinsames Foto gemacht.
Nach dem Verlassen des Gebäudes nahm mich der Generalkonsul für einen kurzen Moment zur Seite und fragte, ob es in dieser Stadt vielleicht auch irgendjemandem gäbe, der offene Antworten gibt statt ausweichender Phrasen. Erst gestern habe er ein Treffen mit einer Journalistin gehabt, die ihm auf seine Frage nach den Problemen in der Region zunächst nichts geantwortet und dann nur gesagt habe, sie wolle nicht schlecht über ihre Heimat sprechen. Ich meinte, dass in Burjatien eben keine aufgeklärte öffentliche Diskussionskultur existiere und schlug ihm ein Treffen mit meinem burjatischen Bekannten Zhargal vor, einem jungen Absolventen der Geschichtswissenschaften. Ein paar Tage später saßen wir ganz informell zu dritt in einem Restaurant, der Generalkonsul spendierte uns ein Mittagessen, welches zu genießen Zhargal allerdings kaum Gelegenheit hatte, da er auf die Fragen des Diplomaten zur Geschichte und Politik Burjatiens Antworten zu geben sich bemühte, die dieser in seinem Notizbuch festhielt. Wie beliebt das Oberhaupt der Republik und der Bürgermeister im Volke seien, wollte er wissen, und was die Burjaten über den Anschluss ihres Landes an die Russische Föderation denken würden. Zhargal erzählte von den Protesten nach den letzten Wahlen, davon, dass die meisten Menschen sehr unpolitisch seien und es keine Separatistenbewegung im eigentlichen Sinne gäbe, wohl aber eine schmale, durchaus antirussisch eingestellte burjatische Elite. Die Jahreszahl 1661 als offizielles Datum des freiwilligen Anschlusses Burjatiens an Russland wäre wohl eher eine Erfindung zur Beruhigung des Volkes; tatsächlich hätten die expandierenden Großmächte Russland und China zwischen sich eine Grenze festgelegt und die Burjaten seien eben diejenigen der mongolischen Stämme, die sich auf dem Territorium des russischen Imperiums wiedergefunden hatten, während die heutige Mongolei ein Teil Chinas wurde. Da Zhargal sich mit dem Generalkonsul auf Englisch unterhielt und meine Übersetzerdienste sich als überflüssig erwiesen, konnte ich im Gegensatz zu ersterem in Ruhe meine Teller leeressen, den Latte macchiato ausschlürfen und dabei einer Kurzzusammenfassung von dreihundertfünfzig Jahren burjatischer Geschichte lauschen. Dass der deutsche Diplomat sich tatsächlich für Hintergründe zu interessieren schien, machte ihn mir durchaus sympathisch, abgesehen von der Einladung zum Mittagessen natürlich.
Gemeinsam mit dem Gast aus Novosibirsk weilte der deutsche Boogie-Woogie-Pianist Axel Zwingenberger in Ulan-Ude und gab ein Solokonzert. Einen Tag davor bekam ich einen Anruf einer Dame von der Philharmonie mit der Bitte um Bereitstellung eines Deutsch-Studenten als Übersetzer während der Probe, worauf ich erklärte, dass ich diese Aufgabe auch gern selbst übernähme. Axel Zwingenberger hat ein fleischiges Genießergesicht mit roter Haut und dicken Lippen, halblange, fast die Augen bedeckende graue Haare, einen schwarzen Anzug und zitronenfarbene Schuhe, mit denen er beim Spielen auf den Boden trommelt. Mir erschien das, was der Pianist im anderthalbstündigen Konzert am Steinway-Flügel veranstaltete, von schwer zu überbietender Genialität. Sein Freund, der Konsul, sei auch ein fantastischer Jazz-Pianist, sagte der Künstler am Ende und bat den Diplomaten auf die Bühne, der zur großen Verwunderung aller einige Minuten lang nicht minder virtuos über die Tasten fegte.
Leider, sagte Axel Zwingenberger, als er sich nach dem Konzert von mir und meiner Frau verabschiedete, leider müsse er morgen schon weiter nach Irkutsk zum nächsten Konzert fahren und könne unmöglich viel Gepäck mit in den Zug nehmen, ob er der Dame nicht die ihm überreichten Blumen verehren dürfe? Auf diese Weise bekam Niso von einem berühmten deutschen Boogie-Woogie-Pianisten einen Strauß gelber Chrysanthemen geschenkt.
Sie könne sich nicht vorstellen, dass sich der Rektor für die Intensivierung der Kontakte zu Deutschland einsetze, meinte die Lehrstuhlleiterin ein paar Tage später zu mir. Jedenfalls habe der Generalkonsul mit seiner nachdrücklichen Art des Fragenstellens bei ihm eher einen negativen Eindruck hinterlassen.