Samstag, 25. November 2017

Die Schreibmaschine




















Ich sah eine alte Schreibmaschine im Kopier-Kämmerchen meines Institutes. Sie stand auf dem Boden neben anderen musealen technischen Geräten, neben Polylux, Diaprojektor, verstaubten Druckern, funktionsunfähigen Scannern und großen, schweren Bildschirmen. Die altehrwürdigen Gebäude der Universität sind voller solcher Orte, durch welche schon seit Jahrzehnten kein Bewusstsein mehr gedrungen ist, wo nie aufräumende, ordnende Kräfte gewirkt haben. Ähnlich der Arbeit eines Archäologen kann man hier Schicht für Schicht die vergangenen Zeiten freilegen und sich ein Bild vom Universitätsleben vor 10 Jahren machen, von den wilden 90ern oder aus dem letzten Jahrzehnt der Sowjetunion.
Die Schreibmaschine habe ich mit nach Hause genommen. Niemand wird ihren Verlust bemerken, aber natürlich bringe ich sie irgendwann zurück. Zunächst steht sie bei uns in der Wohnung und erfreut die kleine Maja, die schon etwa ein Drittel der Buchstaben kennt und neugierig versucht, erste Wörter zu schreiben – glücklicherweise ist das Farbband noch nicht ganz ausgetrocknet! Die Zahl drei fehlt, da der russische Buchstabe für das stimmhafte s fast genauso aussieht. Das einfache, in Jugoslawien hergestellte Modell weckt Erinnerungen an meine Kindheit, als ich auf der „Erika“ meiner Eltern herumtippte und mich bei den Großeltern mit Vorliebe an eine große, schwarze Schreibmaschine setzte und Fantasietexte verfasste. Es ist erstaunlich, was von solch einem mechanischen Gerät im Digitalzeitalter für eine Faszination ausgeht; ich freue mich über den Fund im Kopier-Kämmerchen mehr, als wenn mir jemand ein neues Smartphone geschenkt hätte.
Maja geht zweimal pro Woche zur Schach-AG, und ich spiele mit ihr fast jeden Tag eine Übungspartie. Die Buchstaben a bis g auf dem Spielfeld werden auch in der russischen Schachtradition mit lateinischen Buchstaben bezeichnet. Der Schäferzug, die bekannteste und schnellste Eröffnungsfalle, heißt djetskij mat: Kindermatt.

Ich öffnete ein Päckchen aus Deutschland und förderte daraus eine Packung Knäckebrot und eine Pumpernickelbrot zutage. Einige in Deutschland selbstverständliche Lebensmittel sind in Ulan-Ude nicht erhältlich, andere nur im Edel-Supermarkt „Sputnik“ im Stadtzentrum zu Preisen, die sich hier wohl nur eine Oberschicht leisten kann, zum Beispiel eine Ecke leckersten Blauschimmelkäse für umgerechnet zehn Euro, hergestellt in Südamerika oder Moskau, da europäische Lebensmittel immer noch mit einem Embargo belegt sind. Fenchel-Anis-Kümmel-Tee wurde mir schon geschickt oder Lakritz-Süßigkeiten, für die einen sehr begehrt, von meinen Studenten und Dozenten mit einem säuerlichen „erinnert irgendwie an Medizin“ kommentiert. Umgekehrt werde ich zum Jahreswechsel Zedernnüsse, Gebirgshonig, Lärchenharz-Kaugummi, Sanddorn-Öl und Machorka-Bauerntabak mit in die Heimat bringen, vielleicht noch Mischka-Konfekt und Faulbaumpulver zum Backen.

Ich fuhr mit meinen Praktikanten-Kollegen vom Lehrstuhl, Florian und Valentin, in die Steppe an den Fluss Selenga. Von einem als Schlafender Löwe bekannten Hügel schweift der Blick über das mäandrierende, eis- und schneebedeckte Flussband kilometerweit nach Süden Richtung Mongolei. Schon jetzt, Ende November, ist das Wasser fast völlig gefroren, und an den Ufern sitzen die ersten Angler neben oder in kleinen beheizbaren, mit Autos auf den Fluss heraus gezogenen Holzhütten und gehen ihrer geduldigen Beschäftigung nach. In einer Niederung zwischen zwei der felsigen Erhebungen machten wir ein Lagerfeuer. Obwohl es Minusgrade sind, brannte das trockene Holz sofort und die Flammen fraßen sich dort, wo kein Schnee liegt, zügig durch das gelbe, abgestorbene Gras, so dass wir sie hin und wieder austreten mussten.
Mein Kollege Mischa, ehemals Englischlehrer und nun Leiter des Lehrstuhles für Theologie, holte uns mit seinem Lada ab. Eigentlich hatte er mir am Morgen das Auto für den Ausflug geben wollen, doch da gerade Neuschnee gefallen war, wir mit nicht geräumten Straßen rechnen mussten und ich mich noch nicht zu den in russischen Verhältnissen routinierten Fahrern zählen kann, nahmen wir für die Hinfahrt den Minibus. Ob ich mit Benzingeld aushelfen könne, fragte Mischa am Telefon, bevor er sich zu uns auf den Weg machte. Trotz Doktortitel und Universitätsanstellung lebt er mit seiner Familie an der Grenze zur Armut, wie er meint, seine drei Kinder trinken regelmäßig Milch und bekommen Fleisch, wenn auch nicht jeden Tag, darauf ist er stolz; und natürlich hilft ihm Gott. Jetzt für den Winter hat er eine zusätzliche Heizung unter den Beifahrersitz gelegt, durch einen dicken Schlauch mit dem Motorraum verbunden. Ich musste daran denken, was mir neulich jemand über Steppendurchquerungen erzählte in Zeiten, als es noch keinen Handyempfang gab: wenn das Auto auf einer kaum befahrenen Strecke mit Motorschaden liegenblieb, im Februar bei minus vierzig, dann fingen die Leute an, die Reifen zu verbrennen, um nicht zu erfrieren, einer nach dem anderen. Ein Reifen brennt etwa fünfzehn Minuten. Wenn nach einer Stunde keine Hilfe in Sicht ist, dann gute Nacht.

Bei uns am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch hat sich zurzeit ein kleines internationales Lehrerkollektiv eingefunden. Florian kommt aus Österreich und studiert in Wien Deutsch als Fremdsprache. Mit dem charmanten Valentin aus Frankreich treffe ich mich gelegentlich zum Schachspielen. Urs aus der Schweiz , dessen typisch Schweizer Name ‚Bär‘ bedeutet, ist eigentlich hier, um Russisch zu lernen; damit ihm nicht so langweilig wird, unterrichtet er noch ein wenig. Alle singen in meinem Chor mit, wie auch Leslie und Aurelia, zwei Studentinnen aus Deutschland und Frankreich an der Historischen Fakultät – Studierende aus Westeuropa sind eine außerordentliche Seltenheit an der Burjatischen Staatlichen Universität, Ausländer kommen in der Regel aus China, der Mongolei und Südkorea.

Ich las mit Vorliebe Bücher von Europäern, die aus eigenem Erleben über Sibirien und Russland schreiben: Karin Haß, in der Taiga mit einem ewenkischen Jäger verheiratet; Werner Beck, ein Jahr in einer Jurte am Baikalsee lebend; Brigitte Reimann, die sozialistische Aufbruchsstimmung in ihrem Sibirien-Tagebuch festhaltend; Stephan Orth, couchsurfend durch Russland ziehend; Jens Mühling, sich in die chakassische Taiga zu einer Altgläubigen aufmachend; der Baltendeutsche Traugott von Stackelberg, der nach Ausbruch des ersten Weltkrieges nach Sibirien verbannt wurde; Klaus Bednarz, dessen "Ballade vom Baikalsee" die Region in Deutschland populär gemacht hat. Der Schriftsteller Christoph Ransmayr war in der russischen Arktis unterwegs; der englische Literat Colin Thubron porträtiert das Sibirien der späten 90er Jahre, und Franzose Sylvain Tesson schreibt über sein Einsiedlerjahr in einer Holzhütte am Baikal, wobei ihn im Unterschied zu allen übrigen das Trinken auszeichnet. „90%iger Alkohol für den Fall eines Wodka-Engpasses“ steht in seiner Ausrüstungsliste.

Sieben Uhr morgens, ich werfe einen Blick auf das Außenthermometer am Küchenfenster: minus zwanzig. Es liegt wenig Schnee, die Temperatur wird gegen Nachmittag auf minus zehn angestiegen sein. Der heutige Tag verspricht zu werden wie die letzten: sonnig, klar und knackig kalt. Der sibirische Winter hat Einzug gehalten.







Samstag, 18. November 2017

Die deutsche Sprache im Wandel

Am letzten Wochenende habe ich auf einer Tagung für russische Deutschlehrer in Novosibirsk einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Die deutsche Sprache im Wandel“, dessen Inhalt ich hier kurz zusammengefasst wiedergebe – und zwar so, dass es auch für Leser interessant ist, die nicht vom Fach sind.

Wenn wir ein Wörterbuch aufschlagen und dort die deutschen Verben zählten, würden wir bemerken, dass ihr allergrößte Teil zur Gruppe der „schwachen“ Verben gehört, also die Vergangenheitsformen regelmäßig gebildet werden nach dem Muster „machen – machte – gemacht“. Nur etwa 5% sind „starke“ und unregelmäßige Verben, deren Vokal im Wortstamm sich verändert, wie es etwa bei „gehen – ging – gegangen“ der Fall ist. Nehmen wir hingegen einen beliebigen deutschen Text zur Hand, etwa aus einer Zeitung oder aus einem Roman, und zählen die dort vorkommenden Verben, so würden wir feststellen, dass etwa die Hälfte schwach und die Hälfte stark sind. Mit anderen Worten: starke Verben gibt es zwar in der deutschen Sprache viel weniger als schwache, aber die, die es gibt, werden sehr oft verwendet. Deshalb müssen sie von ausländischen Deutsch-Studenten auch gut gelernt werden.
Die drei genannten Verbformen bezeichnet man als drei „Stammformen“. Vor etwa 500 Jahren waren es ihrer nicht drei, sondern vier: ich helfe – ich half – wir hulfen – ich habe geholfen, oder auch ich werfe – ich warf – wir wurfen – ich habe geworfen und ich werde – ich ward – wir wurden – ich bin geworden. Die zwei Varianten im Präteritum wurden im Laufe der Sprachentwicklung auf eine reduziert, aus dem u in hulfen und wurfen wurde beispielsweise ein a. Bei werden hat sich ward noch als altmodische Form neben wurde gehalten: Und er ward nicht mehr gesehen!
Viele der Verben, die heute schwach sind, waren früher stark. Bellen – ball – gebollen, hieß es zum Beispiel, salzen, sielz, gesalzen und pflegen – pflog – gepflogen. Bei melken und weben existieren heute noch beide Formen nebeneinander: er molk oder melkte die Kuh, sie wob oder webte einen Teppich, ebenso bei backen: buken oder backten wir einen Kuchen? Bei Thomas Mann ist zu lesen, dass jemand etwas frug – und nicht, wie heutzutage, fragte.
Eine spannende Frage ist nun, warum Verben im Laufe der Sprachgeschichte „schwach“ werden. Eine Erklärung dafür hat mit ihrer abnehmenden Häufigkeit zu tun. Je seltener ein Wort, desto schneller schwindet in der Sprechergemeinschaft das Bewusstsein für Unregelmäßigkeiten seiner Bildung. Sielz und molk sind schwieriger zu merken als salzte und melkte. Im Laufe der Jahrhunderte wurde immer weniger gesalzen, gemelkt und gewebt – deshalb folgen diese Verben nun dem einfachen Muster wie machen – machte – gemacht.
Warum heißt es eigentlich sterbenstarbgestorben, nicht aber erbenarbgeorben? Die „Gesellschaft zur Stärkung der Verben“ betreibt im Internet eine sehr humorvolle, umfangreiche Seite und veröffentlich unter anderem Gedichte wie dieses: Es wullen Nebel durch das Tal / die Wälder war’n entloben/ verstommen war die Nachtigal / nur Stürme hor man toben.
Den umgekehrten Weg vom schwachen zum starken Verb scheint winken zu gehen: statt dem richtigen gewinkt hört man oft auch gewunken, wahrscheinlich in Anlehnung von sinkensankgesunken. Bleibt abzuwarten, wann wank statt winkte erstmalig auftaucht.
Viele interessante sprachliche Phänomene sind mit dem Genitiv verknüft. Unter anderem dient er der Kennzeichnung von Besitzverhältnissen. Des Vaters Haus hat man früher gesagt, heute wohl eher das Haus des Vaters, oder – noch moderner – das Haus vom Vater, also mit der Präposition von und dem Dativ. In vielen deutschen Dialekten – nicht nur in meinem heimatlichen Sachsen – heißt es dem Vater sein Haus. Wem sein Haus eigentlich? Diese Form gilt nicht als korrekt, ist aber trotzdem außerordentlich verbreitet und hat Bastian Sick zum Titel seiner Buchreihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ inspiriert.
Das Deutsche ist eine sogenannte Klammersprache. Zusammengehörige Elemente werden weit über den Satz verteilt, und der Zuhörer oder Leser muss seine Aufmerksamkeit bis zum Schluss wachhalten, um zu erfahren, worum es eigentlich geht. Er kam gestern um 19 Uhr am Bahnhof für alle seine Freunde ganz unerwartet und plötzlich – na, wie geht es weiter? An, oder um? Ein kleines Wörtchen am Satzende entscheidet über den Gesamtsinn. Das Verb kam auf Position 2 und seine Vorsilbe an am Satzende bilden die Satzklammer, die alle übrige Information einschließt. So ist es auch, wenn wir einen Satz im Perfekt sagen: Ich habe – nun kommen alle Angaben über Ort, Zeit, mit wem und warum – und erst ganz am Ende: gesungen, gelacht oder gearbeitet. Oder auch die zahlreichen Wörter, die man zwischen ein Substantiv und seinen Artikel stellen kann: dieses ausländischen Studierenden nur schwer vermittelbare Prinzip.
Es gibt wohl auf der ganzen Welt keine Sprache, die derart „klammert“. Dieses Prinzip funktioniert nur bei Sprachen, bei denen zusammengehörende Informationen oft auf mehrere – in der Regel zwei – Wörter im Satz verteilt sind, wir nennen sie analytische Sprachen, im Gegensatz zu den synthetischen Sprachen, die alles in einem Wort komprimieren. Das Russische ist sehr viel synthetischer als das Deutsche. Wenn wir den Satz „Nachdem er gefrühstückt hat, las er die Zeitung“ übersetzen würden, könnten wir die vier Wörter vor dem Komma mit einem einzigen russischen Wort wiedergeben. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wird das Deutsche immer „analytischer“. Statt er öffnet das Fenster oder sie zerstören alles sagen wir er macht das Fenster auf und sie machen alles kaputt, statt woher kommst du und wohin geht die Reise hört man nicht selten wo kommst du her und wo geht die Reise hin, im norddeutschen Raum auch da kann ich nichts für oder da habe ich mir nichts bei gedacht.
Habt ihr schon realisiert, wie sich die Sprache verändert? Liebt ihr Erdbeereis? Und werden bei euch die Strompreise auch jedes Jahr angepasst? Viele Worte erfahren im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel. Realisieren heißt eigentlich verwirklichen, und lieben konnte man früher nur Personen oder vielleicht auch Tiere. Unter dem Einfluss des Englischen verwendet man realisieren nun auch in der Bedeutung „feststellen“, und geliebt werden auch Dinge, die man bisher nur mögen konnte. Wenn wir Preise anpassen statt erhöhen, haben wir einen Euphemismus verwendet, ein beschönigendes Wort für eine an sich weniger schöne Sache, wie auch Rückbau, Gesundheitskasse, vollschlank und Unfall mit Personenschaden statt Abriss, Krankenkasse, dick und Selbstmord auf dem Gleis.
In der deutschen Sprache werden mit Vorliebe Wörter aus anderen Sprachen entlehnt. Vielen dieser Wörter, wie zum Beispiel Kampf, Plan, Oper oder Parlament merken wir heute nicht mehr an, dass sie eigentlich aus dem Lateinischen, Französischen, Italienischen oder Englischen stammen. In den letzten Jahrzehnten wurde das Deutsche mit Anglizismen geradezu überflutet. Der eher konservative Verein für deutsche Sprache veröffentlicht auf seiner Internetseite einen sogenannten Anglizismen-Index und bewertet die aus dem Englischen kommenden Wörter: verdrängen sie unnötigerweise ein deutsches Wort, wie es bei shoppen statt einkaufen oder downloaden statt herunterladen der Fall ist, oder sind sie eine sinnvolle Ergänzung? Letzteres ist wohl bei jobben, chatten und googeln der Fall, was man sonst umständlich als „nebenbei arbeiten“, „sich im Internet unterhalten“ und „etwas per Google suchen“ umschreiben müsste. In Russland benutzt man meist eine andere Suchmaschine, man würde yandexen und nicht googeln. Auch simsen für SMS-schreiben ist schon nicht mehr aktuell, heute wird gewhatsappt und – wohl mehr in Russland als in Deutschland – gevibert.
Schon vor 200 Jahren bemühte sich Johann Heinrich Campe darum, Fremdwörter einzudeutschen. An die eigentlich nicht deutschen Worte Soldat, Kultur, Pause und Mumie haben wir uns inzwischen gewöhnt. Campes Eindeutschungsvorschläge Menschenschlachter, Geistesanbau, Zwischenstille und Dörrleiche konnten sich nicht durchsetzen.
Typisch für unsere Sprache sind sogenannte Modalpartikeln, kleine Wörtchen, die etwas über die Haltung des Sprechers zu der im Satz gemachten Aussage mitteilen – in der Umgangssprache entscheiden sie über den oft ganz wesentlichen „Unterton“. Er ist ja heute nicht zu Hause… Ersetzen wir ja durch doch, halt und eben, schwingt jeweils etwas anderes mit: „Wie du weißt“ (ja), „das solltest du wissen“ (doch) und „das kann man nicht ändern“ (halt und eben). In den letzten Jahren finden sich die Modalpartikeln auch in Deutsch-Lehrbüchern für Ausländer wieder.
Für die höfliche Anrede verwendet man im Deutschen die dritte Person Plural, im Russischen oder Französischen die zweite: statt „Haben Sie einen Wunsch“ heißt es wörtlich übersetzt „Habt ihr noch einen Wunsch?“ Etwa vom 12. bis zum 19. Jahrhundert hat man es im deutschsprachigen Raum genauso gemacht, darüber hinaus gab es noch die Ansprache in der dritten Person der Einzahl: Möchte er vielleicht noch etwas trinken? Heute gibt es in manchen Bereichen eine inflationäre Benutzung des du, nicht nur IKEA duzt seine Kunden, auch viele Moderatoren im Radio ihre Hörer. Außerdem existiert das sogenannte „Hamburger Sie“ mit der Kombination „Sie + Familienname“: „Kommen Sie mal zu mir, Thomas“, so wurde ich in der Uni von den Dozenten angesprochen; das „Kassiererinnen-Du“ (eine Kollegin zur anderen: „Frau Müller, weißt du, wie viel die Tomaten kosten?“), das „Berliner Er“ („Hat er denn ooch n Fahrausweis dabei?“) und der „Krankenschwester-Plural“ („Heute bleiben wir schön im Bett!“).
Ein leidiges, aber wichtiges Thema ist der geschlechtergerechte Sprachgebrauch. Warum sollten wir nicht von Ansprechpartnern, Lehrern, Kollegen, Kundenbetreuung und Fußgängerweg sprechen? Damit sich die emanzipierten deutschen Frauen nicht ausgeschlossen fühlen, sagen wir Ansprechperson, Lehrkraft, Kollegium, Kundschaftsbetreuung und Fußgängerweg. Einige gehen so weit, das Pronomen man durch ein klein geschriebenes mensch oder frau ersetzen zu wollen. Studenten, die früher mit ihrem Studentenausweis im Studentenheim wohnten,  haben heute einen Studierendenausweis und wohnen im Studierendenheim. Ursprünglich war ein Studierender mal jemand, der gerade studiert. Studenten tun das bekanntlich nicht immer. Können in einer Kneipe biertrinkende Studierende sitzen?
Seit dem Sommer dieses Jahres gibt es einen neuen Großbuchstaben im deutschen Alphabet – das Eszett. Damit fällt nun die Frage weg, ob ein Herr GROSSMANN, der ein Formular in Großbuchstaben ausfüllt, eigentlich GROßMANN heißt – denn nun darf er das auch so schreiben; nur auf meiner Tastatur gibt es ihn noch nicht. Die Wandlungen der deutschen Schrift und der Rechtschreibung ist ein weiteres spannendes Thema. Jahrhundertelang war der deutsche Sprachraum „zweischriftig“: deutsche Texte schrieb man in gebrochener Schrift, oft Fraktur genannt; lateinische Texte und Fremdwörter in deutschen Texten mit der heute noch üblichen lateinischen Schrift. Im Jahre 1941 verbot Hitler per Erlass die Frakturschrift, an den Schulen wurde das geschriebene Sütterlin nicht mehr gelehrt. Andere Völker konnten Fraktur nicht lesen und Kriegsgefangene gedruckte Anweisungen nicht entziffern - das erschwerte natürlich die geplante Weltherrschaft.
Warum schreiben wir so, wie wir schreiben? Warum nicht – wie es lautgetreu wäre – Hunt, geen und Miite, Fater, Kaze und Tema? Kinder, die nach dem unstrittenen Prinzip „Schreiben nach Gehör“ unterrichtet werden, würden es vielleicht so machen. In der geschriebenen Sprache spielt jedoch viel mehr als nur die Aussprache eine Rolle. Das Deutsche gilt als eine sehr „leserfreundliche“ Sprache; ohne dass man sich dessen meistens bewusst ist, enthält das geschriebene Wort dadurch, dass es so und nicht anders geschrieben wird, eine Menge an Zusatzinformationen über seine Bedeutung und Herkunft. Eine genormte deutsche Rechtschreibung gibt es seit 1901. 1996 sollte sie reformiert werden, was derartige Proteste hervorrief, dass man sich an eine Reform der Reform machte, die schließlich 2006 abgeschlossen war. Im Bereich der s-Schreibung gibt es nun mehr Klarheit: nach langem Vokal Eszett wie in Straße, nach kurzem zwei s wie in Kuss. Chaos hingegen herrscht bei der Getrennt- und Zusammenschreibung. Kennenlernen oder kennen lernen, sitzen bleiben oder sitzen bleiben, Leid tun oder leidtun, nach Hause oder nachhause? Oder ist beides möglich? Insgesamt hat die Reform der allgemeinen Akzeptanz der orthografischen Norm eher geschadet und damit das Gegenteil erreicht als das, was sie eigentlich sollte. Viele haben erst durch das Hin- und Her um die richtige Schreibung gemerkt, dass Orthografie nichts gottgegebenes, sondern auch nur menschengemacht ist, und sehen sich dadurch bestärkt in ihrer Haltung „Ich schreibe sowieso, wie ich will“.




Sonntag, 5. November 2017

Bajangol

Der Baikal-See ist der größte Alpensee der Erde (fast so lang wie das adriatische Meer und größer wie Tirol) und wird von den anwohnenden Tungusen auch das „heilige Meer“ genannt, weil sie Gebete an dasselbe richten und Opfer geloben, um sich eine günstige Überfahrt zu sichern. Obwohl wegen der häufig auftretenden Stürme schwierig zu beschiffen, ist der Baikal-See doch ein sehr wichtiges Glied im dem Verkehrsleben zwischen China und Rußland (namentlich im Winter, wenn er von Mitte December bis in den April gefroren ist).
Man kann die Bevölkerung von Russisch-Asien in Eingeborne und Eingewanderte eintheilen. Die ersteren, theils dem tatarischen, theils dem finnischen Sprachstamme angehörig, scheiden sich in verschiedene Stämme, welche alle Nomaden sind, und von Jagd, Fischfang und ihren Rentierherden leben. Sie sind größtentheils noch Heiden. Die Eingewanderten sind theils freie Colonisten (darunter viele Deutsche), welche in den Städten leben, teils russische Verbrecher; die schwersten sind zu lebenslänglicher Arbeit in den Bergwerken verurtheilt; andere werden zur Urbarmachung des Landes verwendet, oder sie müssen eine bestimmte Quantität von Pelzen an die Regierung abliefern.
Aus: Lehrbuch der vergleichenden Erdbeschreibung, Wien 1882

Gorjatschinsk

Ein stürmischer Herbstabend am Baikalsee: schwere Wellen mit weißen Schaumkronen rollen dem sandigen Strand entgegen und schlagen zerstiebend an kleinen und größeren schwarzen Geröllbrocken nach oben. Die Steine sind von einer dünnen Eisschicht eingeschlossen, glitzernde Eiszapfen hängen nach unten. In etwa zwei Monaten, wenn die Bewegung des Wassers einer meterdicken, befahrbaren Eisdecke gewichen ist, werden sich hier mannshohe gefrorene Auftürmungen gebildet haben.
Wir unternahmen einen Ausflug nach Gorjatschinsk, wo auf dem Gelände eines wohl sibirienweit bekannten Sanatoriums eine heiße Quelle der Erde entspringt, in deren heilendem Schlamm die Kurgäste mit nackten Beinen spazieren. Zuletzt war ich im letzten Sommer mit Mutter und Schwester hiergewesen.  Der Baikalstrand mit seinen Dünen und knorzligen Lärchen ist an dieser Stelle besonders romantisch. Am nächsten Morgen lag das Wasser still und friedlich vor unseren Augen, die gerade aufgegangene Sonne beschien die Steilküste der Insel Olchon am anderen Ufer. Zum ersten Mal sahen Niso, Maja und ich die Nerpa genannten Baikalrobbe: zwei tote, frisch an den Strand gespülte Exemplare ohne jede Zeichen äußerer Verletzungen. Aus der Zeitung erfuhren wir später von einem rätselhaften Massensterben, das größte der letzten 30 Jahre. Baikalrobben halten sich hauptsächlich an den für Besucher nicht ohne weiteres zugänglichen Ushkani-Inseln auf. Bis heute gilt als ungeklärt, wie die Robben aus dem Weltmeer in den See gelangen und sich hier an das Süßwasser anpassen konnten.

Im Bargusin-Tal

Ein frostiger Abend mit Sternenhimmel und minus 10 Grad im Bargusin-Tal: wir lehnten uns an den prasselnden, weiß gekalkten Ofen in Tante Maschas von frischen Farben glänzendem Holzhaus und genossen die lebendige Wärme. Diesmal hatte Niso und mich eine Reise in das kleine burjatische Dorf Bajangol geführt, in das abgelegene, von drei Seiten bergumschlossene Bargusin-Tal im Norden Burjatiens. Besucherunterkünfte gibt es hier keine, Touristen nur höchst selten; zum Glück lernten wir noch im Kleinbus die rüstige, drahtige Burjatin Maria kennen, die uns gerne als ihre Gäste aufnahm für zwei Nächte.
Als gebürtiger Sachse weckte eine Sächsisches Schloss oder Suvinisches Sachsen genannte Felsformation im Bargusin-Tal nahe der Ortschaft Suvó mein besonderes Interesse. Vielleicht hat einer der deutschen Sibirien-Forscher des 18. Jahrhunderts sich an die Sächsische Schweiz bei Dresden erinnert gefühlt und ihr deshalb diesen Namen gegeben? Tatsächlich ähneln die aus der Steppe emporragenden Gesteinsnadeln und –brocken an das heimische Elbsandsteingebirge.
Als wir in Bajangol waren, wurde im zentralen Klubhaus gerade  das 90-jährige Jubiläum der Kolchose „Karl Marx“ gefeiert. Die Kolchose gibt es längst nicht mehr, die Felder liegen überwiegend brach. Tante Mascha hat ihr Leben lang in der Landwirtschaft gearbeitet, jetzt stehen ihre Ställe hinter dem Haus leer. Durch die körperliche Tätigkeit ist sie abgehärtet und jung geblieben, die 58 Jahre sah man ihr nicht an.  Jeden Morgen aufstehen und ans Werk, auch wenn es zwei Monate lang im Winter um die minus 40 Grad sind.
Zwei junge Burjaten, die auf ihren Pferden den staubigen Weg dahingaloppierten, wollten unbedingt von mir fotografiert werden. Sie hätten noch nie einen Touristen gesehen, der zu Fuß hier entlanggeht! Vom Wodka waren sie bestens gelaunt; den Wunsch, mit ihnen zu trinken, konnte ich ihnen leider nicht erfüllen.

Außer den Nerpas kommt in der Republik auch die Bevölkerung um. Die Region ist in die Spitzenposition der Selbstmord- und Alkoholismus-Statistik aufgerückt.
Schockierende Daten zu Todesursachen wurden vom Gesundheitsministerium veröffentlicht. Die Statistik zeigt, dass Burjatien den zweiten Platz aller russischen Regionen in der Selbstmordrate belegt. Tragisch ist, dass auf diese Weise arbeitsfähige Bürger von 18 bis 44 Jahren ihr Leben beenden.
Um Stress abzubauen, greifen die Leute oft zum Glas. Das ist ein sicherer Schritt zum nächsten Elend – dem Alkoholismus. Burjatien ist auch hier führend. Der Chefarzt des Republikanischen Drogenbehandlungszentrums Andrej Micheev teilte mit, dass unsere Republik zu den am meisten trinkenden des Landes gehört. 2016 wurde ein Rating der nüchternsten russischen Regionen erstellt. Burjatien belegt Platz 79 von 85.“

Aus: Zeitung Molodezh Burjatii, 1.11.2017

Das burjatische Dorf vor dem Hintergrund des Bargusin-Bergrückens (oben) mit dem frisch gestrichenen Haus von Tante Mascha (unten), in dem wir Unterkunft fanden
Die Felsen des Suvinischen Sachsen im Bargusin-Tal
Am Strand von Gorjatschinsk
Eine tote Baikalrobbe (Nerpa) (oben), an der heißen Heilquelle (unten)