Dienstag, 28. Februar 2017

Arshan



Die Ausläufer des Sajan-Gebirges im Westen Burjatiens erinnern ein wenig an die Alpen. Lässt man seinen Blick über die Gipfel und Schluchten schweifen, dann wird man allerdings das Fehlen der Zivilisation bemerken: keine Berghütten, kein Mast einer Seilbahn und keine läutende Kühe an grünen Hängen. Stattdessen: das große sibirische Schweigen.

In der letzten Woche fielen drei Feste zusammen: der Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar (eine Art russischer Männertag), Masleniza (die „Butterwoche“ vor der österlichen Fastenzeit, in der besonders viele Bliny, also Eierkuchen zubereitet und gegessen werden) sowie Sagaalgan, das burjatische Neujahresfest, das am ersten Tag nach dem ersten Neumond im Februar gefeiert wird. Die freien Tage nutzten Niso und ich für einen Ausflug nach Arshan, sieben Kleinbus-Stunden von Ulan-Ude entfernt, gelegen am Südhang eines Tunkinskije goltsý genannten Ausläufers des Sajan-Gebirges.

Arshan, 1920 gegründet, ist ein berühmter sibirischer Kurort. In dem großen Sanatorium unterziehen sich die Leute verschiedenen Heilprozeduren und trinken von den gesunden Mineralquellen, oder übernachten auch einfach nur, so wie wir. Jetzt, Ende Februar, strahlte die Sonne vom Himmel, die Vögel zwitscherten und es waren nur wenige Grad unter Null. Wir folgten dem größtenteils vereisten Bergbach Kyngarga ein paar Stunden aufwärts. An vielen Stellen bildet das Eis durchsichtige aufgewölbte Blasen, die einen Hohlraum bilden, unter dem das schnell strömende Wasser sprudelt. Nach einer Weile endet das frische Kieferngrün ringsum, und der Weg führt durch eine felsige Schlucht mit gespenstisch anmutenden, vertrockneten weißlich-grauen Stämmen eines vor vielen Jahren schon abgebrannten Waldes. Niso weigerte sich, weiterzugehen, eine gruselige negative Energie läge in der Luft. Am anderen Tag bestiegen wir in dreieinhalb Stunden den Pik Ljubwi, den Hausberg Arschans, von wo aus uns das Tunka-Tal mit den Ausläufern des Chamar-Daban-Gebirges zu Füßen lag, die die Grenze zur Mongolei bilden. Wie soll man die Schönheit der Berge aufnehmen und würdigen? Wir setzten uns eine Weile hin und schwiegen.

Unser Kleinbus auf der Rückfahrt war von besonderer Art, er hatte nämlich einen Bildschirm und eine neue Stereoanlage. Der Fahrer legte Filme ein. Meiner Bitte, leiser zu stellen oder doch lieber Musik zu wählen, wurde leider nicht stattgegeben – sonst würde er einschlafen, meinte der junge Mann am Steuer. Eingesperrt in einem kleinen Raum einer Beschallung ausgesetzt zu sein, der ich mich nicht entziehen kann, ist für mich außerordentlich qualvoll (gegen die „technischen“ Frequenzen aus Lautsprechern helfen auch Ohropax kaum). Niso schaute aus dem Fenster und meinte zu mir, sie hört eben einfach nicht hin. Schon daran gewöhnt, dass meine akustische Empfindlichkeit „keiner versteht“, hielt ich tapfer bis Ulan-Ude durch – die Eindrücke von den burjatischen Alpen sind ein Opfer wert.

Anstehen an der mineralischen Heilquelle
Rast am Bergbach Kyngarga
Wunderschön und ein wenig unheimlich: dickes Eis, unter dem der Bach sprudelt
In den "burjatischen Alpen" wächst ein "Kamelschwanz" genannter Schmetterlingsblütler
Abgebrannter Wald vor dem Hintergrund des Pik Arschan
Der Kegel eines erloschenen Vulkans im Tunka-Tal
Der buddhistische Tempel in Arschan. Links vorne der von uns bestiegene Pik Ljubwi

Donnerstag, 23. Februar 2017

Pläne

Meine Freundin Niso ist in Tadschikistan geboren und dort fünfzehn Jahre lang aufgewachsen. Seit ihrer Jugend war sie nie wieder dort gewesen. Gern würde ich mit ihr im Sommer das kleine Land nördlich von Afghanistan besuchen: das einzige der fünf zentralasiatischen „-stan“-Länder, dessen Einwohner nicht zu den Turkvölkern gehören, sondern Indoeuropäer sind mit Pamir-Gebirge, den höchsten Bergen der ehemaligen Sowjetunion und dem über siebentausend Meter hohen Pik Kommunismus – eine Landschaft, bestimmt ganz nach meinem Geschmack. Dann würden wir doch bestimmt auch ihre zahlreichen Verwandten besuchen, frage ich Niso. Sie lacht. „Meinen Vater bringen wir in große Verlegenheit, den Leuten unser Verhältnis zu erklären. In Tadschikistan gibt es nur verheiratete Frauen und Prostituierte. Andere Modelle des Zusammenlebens sind unbekannt!“ Das soll uns nicht von der Reise abhalten, dann schauen wir eben nicht beim Familienclan vorbei, schlage ich vor, und meine Freundin ist einverstanden.
Niso lernt seit einiger Zeit mit mir Deutsch. In einem kleinen Wörterbuch schlägt sie selbst Vokabeln nach und schreibt sie ab. Ich selbst habe mir aus St. Petersburg einige Russisch-Lehrbücher schicken lassen und plane, hier an der Uni eine Sprachprüfung für Fortgeschrittene abzulegen.

Vor über einem halben Jahr lud mich eine Fernstudentin ein, sie und ihre Familie in einer kleinen Siedlung im Norden Burjatiens zu besuchen, in der Nähe der Stadt Severobaikalsk, irgendwo im Nirgendwo der unendlichen Taiga. Noch immer habe ich es nicht dahin geschafft, da die 400 Kilometer Luftlinie sich als unüberbrückbare Entfernung erweisen.
Als ich im Sommer 2008 dem Baikalsee meinen ersten Besuch abstattete, entschied ich mich dafür, nicht mit der Transsibirischen Eisenbahn in das bei Touristen recht beliebte Irkutsk zu fahren, sonden auf der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) nach Severobaikalsk an das Nordende des Sees. Obwohl die Stadt wie Ulan-Ude zur Burjatien gehört, ist sie von den übrigen, südlicheren Regionen der Republik kaum zu erreichen. Eine Straße vom Bargusin-Tal nach Norden durch die Berge soll im Ansatz vorhanden sein, wurde aber nie wirklich befahrbar ausgebaut. Die Reise mit dem Zug von Ulan-Ude dauert zwei Tage und schließt einen riesigen Umweg nach Westen über Taischet ein, der Ort, wo die BAM von der Transsib abzweigt. Ein kleines Flugzeug fliegt nur einmal pro Woche von Ulan-Ude in den Norden. Bleibt der Weg über das Eis des Baikals, das ja im Winter fleißig befahren wird – doch es scheint keine offizielle Trasse in Längsrichtung auf dem See zu geben. So bleibt die Reise weiter auf meiner Wunschliste.

Zurzeit habe ich Besuch von einem Couchsurfer aus Finnland. Niklas ist ein athletischer, blonder, sehr sympathischer junger Mann und ehemaliger Ski-Leistungssportler. Er hat seine Karriere beendet und sich – auf der Suche nach einem Sinn im Leben jenseits von sportlichem Erfolgsdruck, wie er sagt – in  Helsinki in den Zug gesetzt und ist fünfeinhalb Tage nach Osten gefahren, mit einem Umstieg in Moskau. „Eigentlich wissen wir Finnen fast nichts über Russland, obwohl es unser großer Nachbar ist. Früher gab es Kommunismus, und der war schlecht. Damit erschöpfen sich die Kenntnisse. Und die Meinungen über Russland sind sehr negativ, das ist das Ergebnis unserer Medienpropaganda.“ Finnland gehörte vor der Oktoberrevolution über 100 Jahre lang zum russischen Zarenreich, kämpfte im zweiten Weltkrieg auf der Seite der Faschisten und hatte dann eine Art Mittlerstellung zwischen den beiden Blöcken im Kalten Krieg inne.
„In gewisser Weise erinnern mich die Wälder hier schon an meine Heimat“, meint Niklas, „aber alles, was von Menschen gebaut ist, sieht komplett anders aus. Die Häuser sind irgendwie roh von außen, wenig einladend. Und Straßenhunde gibt es in Finnland überhaupt keine.“

In Ulan-Ude darf Alkohol ab 21 Uhr abends nicht mehr verkauft werden. Wer trinken will, findet aber trotzdem Wege. Ein Ausdruck an  der Fensterscheibe der Straßenbahn informiert über 54 Tote in der Stadt Irkutsk im Dezember 2016, die dadurch ums Leben kamen, dass sie ein Bademittel als Alkoholersatz einnahmen. Weiter ist zu lesen:
„Nach Angaben der russischen Verbraucherschutzbehörde sind im Jahre 2015 in unserem Land durch Vergiftungen an spiritushaltigen Produkten über 14000 Menschen umgekommen.
Wir bitten Sie eindringlich darum, die folgenden Mittel nicht als alkoholhaltige Getränke zu gebrauchen:
- Brennspiritus
- Eau de cologne
- Parfümerieprodukte
- Glasreiniger
- Kühlflüssigkeit
- Bremsflüssigkeiten und anderes“

Der sibirische Winter ist völlig anders als der deutsche. Ein typischer Wintertag hier, das heißt blauer Himmel, strahlende Sonne, knirschender Schnee und Minusgrade, ob fünf, zehn oder zwanzig, ist egal, wenn man sich bewegt, fühlt es sich nicht kalt an. Am letzten Sonntag lief ich mit Niso und ihrer Freundin Olga wieder ein Stück auf der zugefrorenen Selenga entlang, einschließlich einer kleinen Bergbesteigung und einem Lagerfeuer, um Körper und Geist dynamisch zu erhalten. Wunderbares Sibirien!

Niso beim Deutschlernen
Märchenhaft schön: das Ufer der Selenga 

Montag, 13. Februar 2017

Entlang der Selengá

Die erste Studienwoche dieses Frühjahres-Semesters liegt hinter mir. Ich unterrichtete sieben Doppelstunden. Gestern rief mich eine Kollegin an und teilte mir mit, dass sie sich den Arm gebrochen hat, weshalb ich in der nächsten Woche drei ihrer Doppelstunden mit übernehme. Da es in der Gruppe des zweiten Unterrichtsjahres ist, die ich sehr mag und bei denen mir das Unterrichten leicht fällt, mache ich es gerne. Als Hausaufgabe sollten sie einen Aufsatz schreiben: „Wie ich den Januar verbracht habe“ und mir diesen per Mail an meine neue, eigens dafür eingerichtete Adresse „hausaufgabenfuerthomas“ schicken. Studentin Sarjuna schreibt:
„Mit Vater und einen Onkel fuhren wir auf eine Wolfjagd. Wölfe drangen in Dörfer ein und griffe sie Schafe an. Einst begegnete ich mich selbst mit einem Wolf nachts im Bauernhof meiner Oma. Zum Glück blieben alle am Leben damals. Auf dem Jagd stießen wir auf keinen Wolf. Sie sind sehr gescheite Kreaturen. Der Onkel fing nur ein wenig Tauben. Abends spielte ich Karten mit Oma oder sah ich deutsche Filme mit Eltern. Zu meiner Verwunderung gefiel sie ihnen. So verging noch ein Monat meines Leben."

Ulan-Ude in diesem Februar: stabile minus 15 Grad, viel Sonne und blauer Himmel, trocken und fast windstill, eine dünne, feste Schneedecke, nicht selten Glatteis auf den Wegen. Über der Stadt liegt ein leichter Brandgeruch vom Heizen zehntausender Öfen in den kleinen Holzhäusern, den ich aus irgendeinem Grunde sympathisch finde, der sich für mich geradewegs mit Gemütlichkeit verbindet.
Am Zentrum Ulan-Udes vorbei fließt die dort etwa einen halben Kilometer breite Selenga, die aus der Mongolei kommt und den längsten und wasserreichsten Zufluss des Baikalsees darstellt. Gestern lief ich auf dem vereisten Strom aus dem Dunstkreis der Stadt heraus zwanzig Kilometer flussaufwärts. Oft folgte ich dabei bereits ausgetretenen Schlitten-, Ski- oder Fußspuren, an manchen Stellen setzte ich meine Füße als erster in den herrlich knirschenden Schnee. Zwei Zelte auf dem Eis, ein Angler vor seinem Loch, ein paar Autos – ansonsten hatte ich die Selenga an diesem Sonntag für mich allein. Meistens ging das Vorwärtskommen zügig, an manchen Stellen musste ich breite Gürtel aufgeworfenen Eisschollenbruchs überqueren. Ein endlos langer Güterzug ratterte etwas oberhalb an einer steilen Uferstelle vorbei - parallel zum Fluss verläuft hier die Bahnstrecke in Richtung der mongolischen Hauptstadt Ulan-Bator. An einer Stelle am Ufer mit Sträuchern und kleinen knorzligen Bäumen machte ich ein Lagerfeuer; das trockene Holz brennt auch im Winter wunderbar. Endpunkt meiner Tour war die Eisenbahn- und Autobrücke südlich von Ulan-Ude, an deren einer Seite zwei bronzene Rentiere von einem Felsen in die bergige Landschaft schauen.
Etwa fünfzehn Gehminuten von meiner Wohnung entfernt, direkt an den Gleisen der nach Osten führenden transsibirischen Eisenbahn, befindet sich ein langgestrecktes hölzernes Gebäude mit der Aufschrift Баня. Innen sieht es alt und ranzig aus, in der Umkleide stank es nach Lackfarbe, eine unfreundliche alte Dame lief zwischen den nackten Männern umher, im Waschraum herrschte funzeliges Halbdunkel. Dann aber der Dampfraum, das Herzstück einer Banja: die alle Poren durchdringende, wunderbare Hitze und der herrliche Geruch der Веники aus Eichen- oder Birkenlaub, Reisigbesen, mit denen sich die Leute die Haut abschlagen - nach fünf Stunden Fußmarsch genau das Richtige!

Die Mongolen planen schon seit einigen Jahren, die Selenga für ein riesiges Wasserkraftwerk anzustauen. In Russland macht man sich Sorgen, dass die verringerte Wassermenge des Flusses das ökologische Gleichgewicht des Baikalsees stören könnte.

Drei verschiedene Wjeniki für die Banja: aus Birken-, Tannen- und Eichenlaub

Mittwoch, 1. Februar 2017

Eisige Wunderwelt Olchon

Seit ein chinesischer Sänger vor etwa drei Jahren ein Lied über die Liebe am Baikal herausbrachte, ist Sibiriens berühmtester See zu einem beliebten Ziel für Touristen aus dem Reich der Mitte geworden. An der Wasserenge, die die Insel Olchon vom Festland trennt, bietet sich am frühen Nachmittag ein erstaunliches Bild: eine Schlange von über hundert in dicke Daunenjacken gehüllte Chinesen mit großen Rollkoffern, die die etwa zwei Kilometer lange Strecke über das vom Wind fast blankgefegte Eis zurücklegen. Da das ununterbrochen hin- und herfahrende Luftkissenboot nur eine geringe Kapazität hat, haben sie entschieden, nicht zu warten, und lassen sich von ihrem Fußmarsch auch durch Sturm und Kälte nicht abschrecken. Sie kommen, geben Geld aus und fahren nach ein paar Tagen wieder, den Einheimischen auf diese Weise zu einem guten Wintereinkommen verhelfend. Was wäre, wenn sie blieben? Zum ersten Mal wird für mich anschaulich, was gemeint ist, wenn Russen die Sorge äußern, Sibirien und den Fernen Osten aufgrund der sehr ungleichen Bevölkerungsverteilung allmählich an China zu verlieren. Vielleicht wird es ja hier bald eine Brücke geben, frage ich einen der herumstehenden Busfahrer. "Dann bin ich der erste, der sie sprengt!", lautet seine Antwort. "Wir brauchen hier nicht noch mehr Massenansturm. Die Ökologie der Insel ist empfindlich genug."

Zwei Tage später: in einem alten UASik-Minibus, wegen seines Äußeren Bulka (Semmel) genannt, fahren wir vor der Küste von Olchon entlang zum Nordende der Insel. Da das Eis bereits über einen halben Meter dick ist, gilt es als sicher befahrbar, auch wenn das Katastrophenschutzministerium die Eiswege offiziell noch nicht eröffnet hat. „Wenn die Verkehrskontrolle kommt, erfahren wir das vorher und machen die Tour über das Festland“, meint Fahrer Sergej zu mir. Warum es sich aber lohnt, vor der Küste zu fahren, wird schon beim ersten Foto-Stopp deutlich: jeden Winter entsteht hier eine fantastisch-bizarre, wunderschöne und geradezu surreale Welt aus Eisschollen, Eiszapfen und gar nicht mit Worten zu benennenden Eisgebilden. Außer Niso und mir ist noch eine Gruppe chinesischer Touristen dabei. Da diese kein Russisch können und der Fahrer kein Englisch, fällt mir die Rolle des Übersetzers zu.
„Wie lange dauert die Pause?“, gebe ich die Frage der Chinesen an den Fahrer weiter.
„Solange, bis alle erfroren sind und wieder hier drin sitzen!“, meint Sergej humorvoll.
Meine Mitreisenden sind mit riesigen Kameras und 10-Zentimeter-Objektiven ausgestattet, an der Rückseite ihrer Smartphones kleben kleine Säckchen mit einem Eisenpulver, das durch Reaktion mit Sauerstoff Wärme erzeugt und so den Akku warmhält. Begeistert strömen alle aus, um das Eismärchen festzuhalten. Schneidender Wind, minus fünfundzwanzig Grad. Ein Meer aus aufgebrochenen Schollen liegt vor uns, einige davon leuchten in blauer Farbe, ein Effekt, der wohl entsteht, wenn Schnee gefriert. An der Steilküste gähnen metertiefe, mit riesigen Eissäulen zugehangene Grotten. Das Eis, auf dem wir laufen, ist teilweise spiegelblank, Risse und Luftbläschen lassen seine Tiefe erahnen. Gelegentlich stößt man auf bis zu einer Fußlänge breite Risse, die aber wenige Zentimeter tiefer als die übrige Fläche wieder zugefroren sind.
In meine Daunenjacke und den ein halbes Kilo schweren, von Mutter gestrickten Wollschal gehüllt, bewege ich mich durch die surreale Landschaft und komme mir vor wie auf einem anderen Planeten. Zum Fotografieren muss ich einen Handschuh ausziehen. Nach zwei Fotos beißt die Kälte in meine Hand, und mit schmerzverzerrtem Gesicht stecke ich sie zurück in den Handschuh. Nach zehn Minuten ist die Gruppe komplett im warmen Bus versammelt.

45 Kilometer lang ist die Strecke übers Eis vom Dorf Chuzhir entlang der Küste an die Nordspitze der Insel, genannt Miss Choboj, die ihren burjatischen Namen Reißzahn von einer gigantischen, fast senkrecht aufgestellten Felsplatte bekommen hat. Links von uns erstreckt sich das Maloje Morje, das Kleine Meer, das die Insel Olchon (ch wird wie in „ach“ ausgesprochen) vom Festland und von den Bergen des Primorskij-Bergrückens trennt. „Bei denen ist alles im Smog versunken“, meint Sergej und deutet auf meine Mitreisenden, „die sind gekommen, um sich mit frischem Sauerstoff zu bevorraten!“ Auf dem Rückweg fahren wir vorbei an weidenden Yaks ein Stück übers Festland. Der Westen Olchons ist fast baumfrei und ich habe das Gefühl, mich irgendwo hoch oben im Gebirge zu befinden.
In Khuzhir, dem mit 1350 Einwohnern größten Ort Olchons, gibt es eine kleine Musikschule. Deren Leiterin Oksana hat mich eingeladen, vorbeizukommen und mit meinem Cello für die Kinder eine Masterklass – der russische Terminus für Workshop – durchzuführen, im Gegenzug bekommen meine Freundin und ich kostenlose Unterkunft und Verpflegung. Bis 2005 hatte Khuzhir keine dauerhafte Stromversorgung und keinen Handyempfang. An zwei Abenden nehmen wir unser Abendessen wegen eines Stromausfalls bei Kerzenschein zu uns.
„Wissen Sie, wir sind hier ein bisschen abgeschnitten von der Zivilisation. Bach und die europäische Klassik, das ist für die Schüler alles graue Theorie. Aber wenn Sie als lebendiger Vertreter dieser Kultur hier vorbeikommen – das wird ein besonderes Ereignis!“ Ich erzähle etwas über Leipzig und seine Komponisten, spiele ein paar Stücke aus den Bachsuiten und lasse dann die Kinder selbst probieren, Töne auf dem Cello zu erzeugen. Das Interesse ist groß - erwartungsgemäß kommt dabei allerdings nur quietschiges Gekratze heraus. Die meisten der Kinder lernen Klavier. „In den ersten Jahren klingt ein Streichinstrument meistens schrecklich“, beruhige ich die Schüler, „es ging bei mir nur mit viel Geduld und weil meine Eltern auf regelmäßiges Üben bestanden haben. Das gilt eigentlich für jedes Instrument.“ 

Von Ulan-Ude nach Olchon gelangt man in weniger als einem Tag; eine nächtliche Zugfahrt nach Irkutsk, dann weiter mit dem Kleinbus, mit einem Umstieg vor der Insel, da Linienbussen die Fahrt über das Eis nicht gestattet ist. Man legt die Strecke entweder zu Fuß zurück oder besteigt das kleine Luftkissenboot, das einen ans andere Ufer bringt – fünf Minuten Fahrt für saftige 5 Euro, wobei der Preis offensichtlich nur für Feriengäste gilt. „Ich bin kein Tourist, ich arbeite“, sage ich möglichst akzentfrei, dabei auf mein Cello weisend, und wurde an Bord gewunken, ohne zahlen zu müssen. Im Bus zahle ich für das Cello einen dritten Sitzplatz, da ich nicht möchte, dass es als Gepäckstück aufs Dach geschnallt wird.
Niso und ich übernachten in Nikitas Homestead in einem gemütlichen Blockhaus mit zwischen die Balken genageltem Seil, damit die Isoliermasse nicht herausquillt. Ein riesiger weißgekalkter Ofen spendet Wärme. Als sich im Zimmer unangenehmer Ofengeruch breitmacht, kommt ein tadschikischer Arbeiter zu uns und verschmiert ein paar Risse mit Lehm; Niso hat nebenbei die Gelegenheit, sich mit jemandem in ihrer ersten Muttersprache zu unterhalten.

Die Rückfahrt entwickelt sich für mich zu einer Nervenprobe, da es zu endlosen Verzögerungen beim Umstieg aufs Festland kommt – ein paar Chinesen scheinen bei der Eisüberquerung verloren gegangen zu sein – und ich die ganze Zeit befürchte, dass wir den Nachtzug von Irkutsk nach Ulan-Ude verpassen. Nach fast schlafloser Nacht im Platskartnyi wagon wieder hier angekommen, werde ich erstmal krank und lege mich mit kaltem Schweiß und völliger Entkräftung anderthalb Tage ins Bett – wohl der Preis für den eisigen Winterzauber und das stundenlange Durchgeschütteltwerden im Bus. Niso legt frisch aufgeschnittene Zwiebeln in der Wohnung aus (ein Hausmittel gegen Bakterien in der Luft, sagt sie) und tränkt mich mit vitaminreichem heißem Johannesbeersaft.

Das Luftkissenboot befördert die Touristenströme nach Olchon - viele gehen die zwei Kilometer auch zu Fuß übers Eis
Die Steilküste vor dem Dorf Khuzhir im Westen der Insel
Eingefrorene Fischkutter im Hafen von Khuzhir
Das Kleine Meer (Maloje Morje) trennt die Insel von der Westküste des Baikalsees
Das Eis ist über einen halben Meter dick und problemlos befahrbar. Manchmal tun sich Risse auf, die sofort wieder zufrieren
In Felshöhlen an der Steilküste hängt das Eis in bizarren Formen von oben herab
Ihrer Form nach Löwe (oben) und Krokodil (unten) genannte Inselchen
Die Fahrer warten geduldig, bis die Touristen in den warmen Bus zurückkehren - lange dauert es nicht
Torósy genannte Halden von riesigen Eisbruchstücken
Blaues Eis
Miss Choboj - das nördliche Ende der Insel Olchon
Risse im Eis geben einen Eindruck von seiner Dicke
Wind und minus fünfundzwanzig Grad muss ertragen, wer das Eismärchen erleben will
Das berühmteste Fotomotiv vom Baikalsee überhaupt: das Schamanenkap