Samstag, 31. Dezember 2016

Sankt Petersburg

In Sankt Petersburg wohnen wir in einem kleinen, ausgesprochen gemütlichen Hostel namens „Podushka“ (deutsch „Kopfkissen“). Zu Zarenzeiten gehörten die Räume bestimmt zu einer großen Wohnung. In der Ecke unseres 4-Bett-Zimmers steht ein großer, weißer, nicht mehr genutzter Kamin. Es herrscht angenehme Ruhe, in den Gängen stehen Sofas mit Kissen, zum Frühstück gibt es ein kleines Buffet, Tee ist immer kostenlos. Vor dem Frühstück ordern wir leckeren frischen Kaffee für je 50 Rubel, und meine Mutter und Niso zeichnen auf ein Blatt Papier ihr Haus bzw. das Haus ihrer Eltern mit jeweils allem, was dazugehört: Hund, Katze, Fahrrad, Gemüsegarten, ein hoher Bretterzaun in dem einen, ein kleines transparentes Zäunchen in dem anderen Fall. Ich übersetze und erkläre und die beiden lernen sich ein wenig besser kennen – was im Alltag gar nicht so einfach ist mangels gemeinsamer Sprache.

Sankt Petersburg, das sind lange, breite, schnurgerade Straßen mit beeindruckenden hohen Fassaden von Wohnhäusern aus dem vorvorigen Jahrhundert. Um die U-Bahn zu benutzen, kauft man für 35 Rubel eine Metallmarke, die man in einen Schlitz wirft, um durchs Drehkreuz zu gelangen. Das Gedränge in der Petersburger Metro ist genauso verrückt wie in Moskau, die Bahntunnel noch deutlich tiefer, über 2 Minuten steht man an manchen Stationen auf der Rolltreppe. An einigen Stationen ist der Bahnsteig zu den Gleisen hin abgeschlossen; nach dem Halt des Zuges öffnen sich Türen, die sich genau auf Höhe der Metrotüren befinden – so wird garantiert niemand aufs Gleis geschubst.

Das Winterpalais, die Peter-und-Pauls-Festung, eine riesige Moschee, die Auferstehungskirche an der Stelle, wo Alexander II. im Jahre 1881 einem Anschlag zum Opfer fiel – für meine drei Begleiterinnen war es der erste Besuch in Russlands zweiter Hauptstadt. Niso flog einen Tag vor uns ab, um rechtzeitig zur Neujahresfeier wieder in Ulan-Ude zu sein. Während ich sie zum Flughafen begleitete, besuchten Mutter und Schwester die Bilderausstellung des Russischen Museums. Wie auch in der Tretjakov-Galerie ist die „Diskriminierung von Ausländern“ beim Eintritt inzwischen abgeschafft; es gilt ein einheitlicher Preis, für Russen allerdings mit Ermäßigungsmöglichkeiten.

Bei der gemeinsamen Hinfahrt ins Museum mit dem Taxi zahlten wir 205 Rubel. Ich instruierte  Mutter, für den Rückweg etwa dreihundert einzuplanen. Wie sie mir dann erzählte, wollte der Taxifahrer sich beim Einsteigen auf keinen Preis festlegen – und verlangte dann nach Ende der Fahrt zweitausenddreihundert.
Fünfhundert, sagte meine Mutter.
Tausend, meinte der Taxifahrer.
Fünfhundert. Mutter blieb hart.
Dann hole ich die Polizei, meinte der Taxifahrer.
Bitteschön, sagte meine Mutter unbeirrt.
Der Taxifahrer nahm den angebotenen 500-Rubel-Schein und warf die beiden Touristen, die sich so gar nicht übers Ohr hauen lassen wollten, fluchend aus seinem Auto.

Ein geschlossener Bahnsteig in der Petersburger U-Bahn (oben). Dachrinnen enden in Petersburg (wie auch in Moskau) einfach oberhalb des Bürgersteiges (unten)
Die Auferstehungskirche (oben). An der vereisten Neva vor der Ermitage (unten)

Donnerstag, 29. Dezember 2016

Moskau





27. Dezember: Staatstrauer in Russland, die Flaggen sind auf Halbmast gehängt. Über dem Schwarzen Meer ist ein Flugzeug abgestürzt mit fast hundert Menschen an Bord, Mitglieder des wichtigsten russischen Armee-Musikensembles. Meine Mutter und Schwester kommen erst am Abend in Moskau an, mit einem Tag Verspätung. Die Annullierung des Aeroflot-Fluges Dresden-Sheremetjevo am Vortag könnte mit der Katastrophe in einem Zusammenhang stehen. Niso und ich treffen in Moskau Mascha, die den Dirigenten des Ensembles kannte und bei ihm ein Probespiel hatte. Wir begleiten sie zum Blumenablegen vor dem Probensaal. Ein Meer von roten Rosen und Nelken, eine betroffene, schweigende Menschenmenge, das Fernsehen.

Mit Niso, die aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, spaziere ich um den Kreml. Vor dem Aleksandrowskij-Garten ist ein neues, gigantisches Denkmal aufgetaucht: der bronzene Fürst Wladimir mit einem riesigen Kreuz in der Hand erinnert an die Annahme des Christentums in der Kiewer Rus im Jahre 998. Wie üblich studiere ich fasziniert den neuen Metro-Plan. Eine neue (freilich oberirdische) Ringlinie ist fertiggestellt, weit außerhalb der bisherigen Ringlinie verlaufend. Die Stationen werden auch auf Englisch angesagt. Einige U-Bahn-Züge sind bunt beklebt mit Gesichtern von Leuten, die an der Aktion „Aktiver Bürger“ teilgenommen haben. Es gibt AIDS-Aufklärungsplakate, Lautsprecheransagen fordern dazu auf, Leuten zu helfen, denen „die Benutzung der Metro Schwierigkeiten bereitet“. Offiziell zugelassene Musiker in der Station Kurskaja, die auf einem roten Teppich spielen. Touristeninformationsstände. Kostenloses W-LAN in der U-Bahn. Der Aeroport Zhukovo, ein vierter Flughafen, wurde eröffnet. Das Modernisierungstempo ist atemberaubend, es ist ein anderes Moskau als das, das ich auf meiner ersten Russlandreise vor über 10 Jahren kennenlernte.

Schneematsch liegt auf den Straßen, die Temperaturen sind um die null Grad. Mutter und Schwester fragen sich, wozu sie ihre wärmste Kleidung mitgebracht haben, die einzupacken ich ihnen geraten hatte. Zu viert fahren wir zur Christus-Erlöser-Kirche, dem zentralen orthodoxen Sakralbau mit einer riesigen goldenen Kuppel, und laufen von dort zur Tretjakov-Galerie, wo wir fünf Stunden verbringen und doch nur weniger als die Hälfte aller Bilder besichtigen: Kramskojs Unbekannte und Christus in der Wüste, Shiskins fotografisch genaue Naturbilder (allen voran das mit den vier Bären), Lewitans lichtdurchflutete Flusslandschaften, Vereshagins Schlachtenbilder aus der orientalischen Wüste, Aiwasovskijs Meeresgemälde, Iwan der Schreckliche mit seinem von ihm erschlagenen Sohn von Repin, das weltberühmte Dostojewskij-Porträt von Perow.

Am nächsten Tag besteigen wir den Sapsan, der uns von Moskau nach Sankt Petersburg bringt. Der Sapsan, benannt nach der am schnellsten fliegenden Falkenart, ist der russische ICE: gebaut von Siemens, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h. Im Unterschied zur Deutschen Bahn werden die auf den Namen ausgestellten Zugtickets und die Pässe vor dem Einsteigen kontrolliert, wie bei russischen Fernzügen immer üblich. Die Strecke zwischen den beiden größten russischen Städten kostet 2000 Rubel (30 Euro) und wird in 4 Stunden zurückgelegt, mit zwei Zwischenhalten von einer Minute Dauer, vor denen die Passagiere aufgefordert werden, nicht auszusteigen, wenn sie noch nicht am Ziel sind.




Montag, 26. Dezember 2016

Auf nach Westen

23. Dezember: Als ein Großteil der russischen Bevölkerung vor dem Fernseher die jährliche große Pressekonferenz verfolgt, auf der Präsident Putin mehrere Stunden lang die Fragen von Journalisten aus aller Welt beantwortet, gebe ich mit Pianistin Nina ein Konzert bei uns am Institut. Fauré, Schubert und Grieg, vierzig Minuten lang, man darf die Leute nicht mit zu viel klassischer Life-Musik überfordern. Artiger Applaus der etwa 20 anwesenden Studenten und Dozenten.

24. Dezember: Deutschland steht auf und bereitet sich auf den wichtigsten Abend des Jahres vor. In Ulan-Ude ist es schon Nachmittag, Nina und ich wiederholen unser Konzertprogramm, diesmal in der Wohnung von Tatjana Stepanovna, einer aristokratischen alten Dame, welterfahren (in diesem Jahr ist sie zum Tangotanzen nach Argentinien geflogen) und vornehm; sie versieht jedes unserer Stücke mit einer kleinen musikhistorischen Einleitung und erinnert das Publikum an die Tradition der Petersburger Musikalischen Salons. Ein paar gute Freunde sind eingeladen, nach einer Teepause werden wir gebeten, den ersten Satz der Grieg-Sonate zu wiederholen. 

25. Dezember: Die Geschenke sind ausgepackt, die Weihnachtsgans verdaut. Mitternacht im weihnachtlichen Deutschland heißt Morgendämmerung in Sibirien – Niso und ich stehen an der Registrierungsschlange am Flughafen. Flug S7-116 wird uns in sechseinhalb Stunden nach Moskau bringen, für meine Freundin der erste Besuch in der russischen Hauptstadt und die erste Flugreise seit ihrer Kindheit überhaupt. -

In der russischen Presse stehen viele Merkwürdigkeiten über Deutschland. „Die Idee, die DDR wieder zurückzuholen, gewinnt an Bedeutung“, war vor einiger Zeit in der Argumenty nedely zu lesen, als ob man so etwas tatsächlich diskutieren würde. Nicht weniger Seltsames schreiben deutsche Zeitungen über Russland. Beim Aufräumen fiel mir ein Stapel von Artikeln aus der ZEIT in die Hände, die ich in diesem Jahr gelesen und aufgehoben hatte. Mögliche Wahlfälschungen bei den Dumawahlen werden beschrieben, die dann am Wahltag überhaupt nicht stattfinden; ein erfolgloser oppositioneller Abgeordneter wird auf der Suche nach Wählerstimmen begleitet ( „Hinter Putins Fassaden“, 15.9.). Die Moskauer Korrespondentin sucht „authentische Oppositionelle“ und ist traurig darüber, dass die „Opposition nicht opponiert“. Es kann doch nicht sein, dass eine überwiegende Mehrheit im Volk eine Partei und einen starken Präsidenten unterstützt! („Warum wird Putin so geliebt?“, 1.9.) Man bemitleidet ein Meinungsforschungsinstitut, das aufgrund einer neuen Gesetzgebung nun dazu gezwungen ist, öffentlich anzuzeigen, dass es mit ausländischen Geldern arbeitet ( „Der ausländische Agent“, 27.10.). In einem dreiseitigen Dossier werden mit Bewunderung und offensichtlicher Anteilnahme die Aktionen eines Geistesgestörten geschildert, der sich mit seinen Hoden (!) an den Roten Platz nagelt, um gegen vermeintlichen „Staatsterror“ zu protestieren  („Dieser Mann will ins Gefängnis“, 9.6.), was mich an die Diskussion um Pussy Riot erinnert: Leute, die im öffentlichen Raum Schwachsinn veranstalten und dafür zur Verantwortung gezogen werden, feiert die deutsche Presse und erhebt sie geradezu zu Helden gegen das autoritäre „System Putin“. Warum? Es gibt viel spannendere Dinge, die man über das größte Land der Erde schreiben könnte, als dort immer nur die eigenen westlichen Werte zu suchen und sie nicht zu finden.  

Auftritt mit Pianistin Nina an meinem Institut (oben) und in einer Prvatwohnung in der Art eines "Musikalischen Salons" (unten)
Eisblumen vor meinem Bürofenster, auf der andern Straßenseite die Hauptpost, die ich in der letzten Zeit öfters traurig mit leeren Händen verließ, vergeblich nach Mutters Paket aus Deutschland fragend

Mittwoch, 21. Dezember 2016

Milonga mit Mascha

Normalerweise bereite ich zuhause kein Fleisch zu. Neulich habe ich eine Ausnahme gemacht und leckeres, aromatisches Schafsfleisch gekocht. Niso sagt, ihr tadschikischer Vater würde ein Mittagessen ohne Fleisch nicht mal anschauen, das wäre für ihn kein Essen. – Außerdem haben wir zusammen Kompott zubereitet: Vogelbeeren, die ich im Herbst auf dem Markt gekauft und tiefgekühlt hatte, mit braunem Zucker eine Weile aufgekocht. Kompott in Deutschland heißt: gezuckerte Früchte im eigenen Saft. Kompot in Russland bedeutet: süßer Fruchtsaft mit ein paar Früchten darin.

Unser Sonntagsspaziergang führte uns auf die Hügel nördlich der Stadt. Von dort aus hat man einen guten Blick auf ein Pentagon genanntes, riesiges, verwinkeltes und langgestrecktes Gebäude, dessen Form von oben betrachtet an die Buchstabenreihe CCCP erinnert, Sojuz Sovjetskich Sotsialistitsheskich Respublik. Die untere Hälfte des Senkrechtstriches des „P“ fehlt allerdings – unerwartet kamen Perestrojka und das Ende des Kommunismus, der Bau wurde nicht vollendet. Unterwegs ernteten wir von schneebedeckten Sträuchern winzige Äpfelchen und lutschten sie, kaum kirschgroße Früchte, die ihr volles Aroma erst in gefrorenem Zustand entfalten.

Meine gute burjatische Bekannte Mascha weilt zurzeit in ihrer Heimatstadt Ulan-Ude, und gemeinsam mit ihr haben wir auf einer Milonga gespielt, einem Tango-Tanzabend. Geige und Cello – eine tolle Besetzung für Tangos, auch ohne Bandoneon! Mascha hatte mich in den letzten Jahren in Potsdam regelmäßig besucht, wir hatten in Stevens Tangogarten und bei Kurth und Mona auf dem Theaterschiff und im Musikpavillon am Templiner See gespielt. Erfahrung mit Life-Musik auf Tanzveranstaltungen ist hier in Ulan-Ude kaum vorhanden. Das Honorar, das uns die Tanzschule bot, war auch für hiesige Verhältnisse so lächerlich gering, dass ich es dankend ablehnte. DJ Tujana, die an dem Abend für die Musik von der Konserve verantwortlich war, meinte, man könne zu Life-Musik gar nicht richtig tanzen und wollte uns eigentlich nicht haben, was mir am Anfang ziemlich die Laune verdarb. So einen Unsinn kann wirklich nur jemand in einer kulturellen Wüste wie Sibirien erzählen. Natürlich aber waren die meisten Leute begeistert. Wie es die Regel auf einer Milonga verlangt, spielten wir Tandas (span. Reihe) aus je drei Tangos und dazwischen ein kurzes Nicht-Tango-Stück, Cortina genannt (span. Vorhang), während dem die Männer ihre Dame verabschieden und sich eine neue Tanzpartnerin suchen. - Die temperamentvolle, quirlige Mascha ist für mich eine tolle Duopartnerin, sie spielt brilliant und ohne Aussetzer und Unsicherheiten. Im Januar geht sie zurück auf ein riesiges Kreuzfahrtschiff, wo sie irgendwo in den Weiten der Karibik die Passagiere mit der Geige unterhält.

Gestern habe ich zum ersten Mal eine Studentin nach Hause geschickt. Sie war seit September nicht zum Kurs gekommen – seit April hatte man die junge Frau nicht mehr an der Uni gesehen – und nun auf einmal in der letzten Unterrichtsstunde wieder aufgetaucht. Da das russische System keine flexible Kurswiederholung zulässt, muss sie eigentlich das ganze Jahr noch einmal machen. Aber weil der Lehrstuhl Absolventen braucht, werden die Kollegen sie wahrscheinlich irgendwie durchkommen lassen. Ich finde das nicht fair gegenüber den Studenten, die die meiste Zeit über anwesend waren; es entwertet den Sinn des ganzen Uni-Betriebes.

Den für morgen geplanten Auftritt mit meinem Chor habe ich abgesagt. Als die Probe wie jeden Dienstag um 16.20 Uhr begann, waren nur sechs Leute da; innerhalb der nächsten halben Stunde kamen noch einmal so viele, die allerdings größtenteils bei den letzten Proben nicht dabei waren. Oh Tannenbaum und Stille Nacht klingen zweistimmig eigentlich sehr schön, bei uns allerdings eher furchtbar, und ich möchte mich nicht blamieren.

Gelegentlich skype ich mit meinem Bruder Michael in Leipzig. Der Zeitunterschied von 7 Stunden macht es möglich, dass wir uns dann miteinander unterhalten, wenn wir uns beide am wohlsten fühlen: er um Mitternacht, ich nach dem Aufstehen um 7 Uhr morgens. Man könnte sagen, die Entfernung von achttausend Kilometern ist unserer brüderlichen Kommunikation sehr förderlich.

Micha (oben) und Mascha (unten)
Das "Pentagon" genannte, riesige Gebäude im Form der Buchstaben "CCCP" (vom Betrachter aus auf dem Kopf stehend)
Blick auf den buddhistischen Dazan auf dem Kahlen Berg (oben), Kirschgroße Äpfel (unten)

Samstag, 17. Dezember 2016

Straßenverkehr in Ulan-Ude

Der größte Teil des öffentlichen Nahverkehrs erfolgt in Ulan-Ude, wie in den meisten anderen russischen Städten auch, mit Kleintransportern von der Größe eines Fiat Ducato oder Ford Transit. Sie werden Marschrutkas genannt, was in vielen Reiseführern mit Sammeltaxi übersetzt wird. Treffender finde ich die Bezeichnung Kleinbus, da sie auf einer festgelegten Route fahren und nur an Haltestellen anhalten.
Eine Kleinbusfahrt in Ulan-Ude kostet 20 Rubel (ca. 30 Cent). Es gibt keine Fahrkarten, keine Tarifzonen und keinen Rabatt für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie z.B. Studenten. Im Fahrgastraum hängt ein Schild „Oplata pri východe“ – Bezahlen beim Aussteigen. Der Fahrer hält seine Hand hin und man übergibt 20 Rubel, möglichst passend, wenn nicht, dann hat er schon das Wechselgeld auf einen 50- oder 100-Rubel-Schein in Portionen sortiert bereit. Von Stadt zu Stadt kann sich das unterscheiden; in anderen russischen Städten muss beim Einsteigen bezahlt werden. Wenn der Kleinbus an einer Haltestelle halten soll, muss man rufen „Na astanóvkje, pozhaluista“ – an der Haltestelle, bitte. Manchmal ruft der Fahrer als Antwort nach hinten „charashó“ – gut; meistens antwortet er nicht und der Fahrgast geht davon aus, dass er es verstanden hat. Wenn niemand aussteigen will, werden Haltestellen nicht angefahren, es sei denn, dort steht jemand und gibt durch Winken zu erkennen, dass er einsteigen will.
An den meisten Haltestellen ist nicht zu erkennen, von welchen Buslinien sie bedient werden. Fahrpläne gibt es keine. Selten gibt es eine Tafel mit den Intervallen, in denen sie verkehren, zum Beispiel Linie 97 von 10-16 Uhr alle 10-15 Minuten, von 16-20 Uhr alle 10-12 Minuten und von 20-22 Uhr alle 15-20 Minuten. In den letzten Monaten sind einige neue Haltestellenhäuschen aufgetaucht, an denen der Name auch auf Englisch steht und die eine Anzeige mit digitaler Laufschrift haben, die jedoch oft nicht funktioniert.
In Ulan-Ude gibt es vier Straßenbahnlinien. Der Netzplan ist im Wesentlichen ein großer Ring mit ei paar Abzweigungen. Jede Straßenbahn besteht aus einem Wagen. Die Fahrt kostet 15 Rubel. Fahrkarten werden vom Schaffner verkauft, der immer mitfährt, durch den Wagen läuft und sich merkt, wer schon einen Fahrschein gekauft hat und wer noch nicht. Es existieren keine Fahrkartenautomaten. Selten steigen Kontrolleure ein und kontrollieren, ob auch jeder beim Schaffner eine Fahrkarte gekauft hat. Auf einem Schild steht eine Telefonnummer, die man anrufen soll, wenn der Schaffner einem zwar die 15 Rubel abgenommen, aber keinen Fahrschein gegeben hat. Die Namen der Haltestellen werden von einem Lautsprecher durchgesagt, in manchen Wagen wird noch ein Band abgespielt, auf dem eine Stimme in Windeseile historische Informationen herunterrasselt („Nächste Station: Städtisches Krankenhaus. Das städtische Krankenhaus nahm seine Tätigkeit am achtundzwanzigsten August neunzehnhundertsechsunddreißig auf und entwickelte sich bald zur führenden Gesundheitseinrichtung der Stadt. Zum Wohle der Bevölkerung arbeiteten und forschten hier…“). Die Straßenbahnwagen sind alt und dickbauchig, die sich zwischen Gleisen und Auto-Fahrbahn befindlichen Haltestellen sehr schmal und ohne Absperrung zur Fahrbahn hin; zwischen vorbeirasenden Autos und Straßenbahn verbleibt gerade mal ein Meter.
Im Zentrum gibt es viele Fußgängerüberwege, oft an unlogischen Stellen (z.B. 50 Meter hinter einer Ampel). Die weißen Zebrastreifen auf dem Asphalt sind oft kaum noch zu erkennen. Damit Autofahrer dort anhalten, muss man einfach die Fahrbahn betreten, sozusagen in den laufenden Verkehr hineingehen – kurz vor einem kommen die Wagen dann abrupt zum Stehen; ich habe auf diese Weise gelernt, was für kurze Bremswege Autos doch haben können, wenn es darauf ankommt. 
Ampeln haben oft eine Anzeige mit rücklaufenden Sekunden, wie lange man noch warten muss – eine gute Idee, die das Warten subjektiv erleichtert. Fußgängerampeln „zum Drücken“ sind nicht verbreitet. Auf dem Weg von meiner Wohnung zum Arbeitsplatz überquere ich täglich die von mir so getaufte „Mörderkreuzung“. Auch nachdem die Ampel schon auf Grün geschaltet hat, rasen in den ersten zwei Sekunden noch Autos an den Fußgängern vorbei, die oft schon einen halben Schritt vorwärts gemacht haben; manchmal hupen sie dazu. Ob das daran liegt, dass die Übergangsphase zwischen Grün für die Autos und Grün für die Fußgänger zu kurz ist, habe ich noch nicht ermittelt.
Im Straßenverkehr geht es deutlich rabiater und rücksichtsloser zu als in Deutschland, auch wenn sich da in den letzten Jahren in Russland einiges getan hat; die Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitungen sind so hoch, dass sie tatsächlich weh tun. In der Stadt fahren die meisten Menschen inzwischen angeschnallt; Taxifahrer reagieren nicht mehr beleidigt, wenn man sich anschnallt (ob man denn an ihren Fähigkeiten, zu fahren, zweifeln würde?), sondern bitten die Passagiere im Gegenteil darum. Eine Taxifahrt kostet umgerechnet etwa soviel wie eine Straßenbahn- oder Busfahrt in einer deutschen Großstadt.
Die Anzahl von Autos, die sich an Werktagen durch das Zentrum von Ulan-Ude wälzt, lässt nicht vermuten, dass Burjatien eine der ärmeren Regionen Russlands ist. Früh und abends gibt es oft Stau. Es dominieren japanische Marken, oft mit Steuer auf der linken Seite, aber auch alte klapprige Ladas oder deutsche Fabrikate kommen vor. An der Tankstelle heißt es: erst bezahlen, dann tanken. Das Benzin ist dreimal billiger als in Deutschland; Diesel und Benzin kosten etwa das Gleiche.
Ich habe es noch immer nicht geschafft, mir einen Internationalen Führerschein zu besorgen und bin deshalb hier noch nicht unter die Autofahrer gegangen, obwohl ich schon Lust hätte, mir einen Wagen auszuleihen und über Land durch die Steppe zu fahren. Seit meinem letzten Deutschlandaufenthalt vor einem halben Jahr bin ich auch kein Rad mehr gefahren. Als Fortbewegungsmittel in der Stadt sind Fahrräder praktisch unbekannt.
Die Statistik sagt: im Jahre 2015 gab es in Russland über 23000  und in Deutschland etwa 3500 Verkehrstote. Die Anzahl an zugelassenen Pkws ist in beiden Ländern etwa gleich hoch, die Zahl der Unfälle mit Verletzten aber in Deutschland größer – ein Hinweis darauf, dass die hohe Zahl der Verkehrstoten in Russland auch mit der schlechteren medizinischen Versorgung zusammenhängen kann.
Eine Marschrutka an der Haltestelle "Sowjetplatz", im Hintergrund das Lenindenkmal und aus Eisblöcken geschaffene Kunstwerke