Dienstag, 28. März 2017

Quer über den Baikal

Der Eintritt in den Zabajkalskij-Nationalpark ist kostenpflichtig (oben). Bis Mitte April kann die Straße übers Eis befahren werden (unten)


Am Freitag, dem 24. März um 7.30 Uhr begab ich mich in einem Kleinbus in den 300 Kilometer nördlich von Ulan-Ude gelegenen Ort Ust-Bargusin. Dort, an der Küste des Baikalsees, wollte ich auf dem Eis spazieren gehen und – je nach Mitfahrgelegenheit, die sich mir bieten würde – bis an die Nordspitze der Halbinsel Heilige Nase vordringen, eventuell sogar bis zu den weit draußen gelegenen Ushkani-Inseln, die Heimat der berühmten Baikal-Robben.
Der von Ulan-Ude nach Norden führende Bargusin-Trakt ist zunächst asphaltiert, die letzten 30 Kilometer vor Ust-Bargusin sind Schotterpiste. Ich saß ganz vorn neben dem Fahrer, der einen Witz über den Straßenbau in Russland zum Besten gab.
Der Verkehrsminister holt Angebote zum Straßenbau ein.
Zuerst kommt eine chinesische Firma. „Wir bauen die Straße für eine Million!“
Dann komme eine deutsche Firma. „Wir bauen die Straße für zwei Millionen. Dreißig Jahre Garantie auf den Asphalt!“
Dann kommt der Vertreter einer russischen Firma. „Wir bauen die Straße für drei Millionen!“
„Warum denn so teuer?“, wundert sich der Verkehrsminister.
„Eine Million für dich, eine Million für mich, und für eine Million lassen wirs die Chinesen machen!“
Ich sagte, dass ich nicht direkt in Ust-Bargusin, sondern vor der Brücke aussteigen möchte, die über den Fluss Bargusin weiter nach Norden führt. „Wir Russen brauchen anscheinend irgendwie Adrenalin“, meinte der Fahrer, während der aufgewirbelte Staub eines vor uns fahrenden Geländewagens gegen die Frontscheibe stob und die Sicht zwischendurch auf Null sank. „Als es die Brücke noch nicht gab, war es viel aufregender. Im Sommer ständig eine Schlange vor der Fähre. Wie kommt man am schnellsten rüber? Wie drängle ich mich am besten vor? Jetzt haben wir eine tolle Brücke hier, na und? Total langweilig.“
Es war ein sonniger Tag mit wenig Wind und nur ein paar Minusgraden. Der Baikal linkerhand und die Taiga waren von einer dichten weißen Schneeschicht bedeckt. Von Ust-Bargusin wehte das entfernte Kreischen eines Sägewerks zu mir herüber. An der Flussmündung sah ich die Ruinen der ehemaligen Fischverarbeitungs-Fabrik. Hinter der Brücke zweigte eine kleinere von der großen Straße nach links ab, auf der ich wenig später den Eingang des Zabaikalskij-Nationalparkes erreichte: eine Schranke über dem Weg, Informationstafeln für Touristen über die schützenswerte Natur und ein Bauwagen mit zwei Nationalparkmitarbeitern, bei denen ich ordnungsgemäß 300 Rubel Gebühren entrichtete. Pro Nacht 100 Rubel, bis Montag.
So schulterte ich meinen 22-Kilo-Rucksack mit Zelt, Thermoskanne und zwei Daunenschlafsäcken und machte mich mit schwungvollen, großen Schritten auf den Weg in den Nationalpark hinein entlang der Landzunge, die die Heilige Nase mit dem Festland verbindet. Nach etwa zwanzig Minuten hielt ein Kleintransporter mit zwei grün uniformierten Männern an. Nachdem ich versichert hatte, dass ich, wie es sich gehört, den Parkeintritt bezahlt hatte, durfte ich einsteigen. Umweltministerium Russlands, Staatliche Inspektion stand auf ihren Abzeichen. Eine Weile fuhren wir auf der sandigen, von knorzligen Kiefern lose bewachsenen Landzunge genau auf die Bergwand der Halbinsel zu, bis wir im  Wald ankamen und der Weg scharf nach rechts abknickte. Nach etwa 30 Kilometern hatten die Inspekteure ihr Ziel erreicht, das nur aus ein paar Häusern der Nationalparkverwaltung bestehende Dorf Monáchovo. Ich erkannte gleich den Bauwagen wieder, in dem ich vor fast genau einem Jahr – bei meinem ersten Besuch in der Gegend – übernachtet hatte. Nach ein paar hundert Metern war die Piste auf dem Land zu Ende und führte aufs Eis hinaus.
Ich goß mir einen Becher Brennnesseltee aus der Thermoskanne ein und holte eine Handvoll meiner tadschikischen Nussmischung heraus. Vor mir erstreckte sich die Tschivirkuj-Bucht, 15 Kilometer breit, am anderen Ufer erhoben sich die Berge des Bargusin-Rückens. Der Anblick der riesigen schneebedeckten Fläche blendete in der Sonne. Fast schnurgerade zog sich nach links, in nicht allzu großer Entfernung vom Ufer, die blankgefegte Eisstraße hin. Maximal 10 km/h, maximal 5 Tonnen, mindestens 70 Meter Abstand, warnten drei große Verkehrsschilder, daneben zur Abschreckung das Foto eines ins Eis eingebrochenen Autos. Mit mir legten vier Männer eine Rast ein, die jeweils einen großen Schlitten hinter sich herzogen, ein Russe und drei Bayern. Sie waren seit einer Woche unterwegs, von der Insel Olchon aus einmal quer über den See gelaufen und hatten unterwegs auf dem Eis gezeltet. Soweit würde ich es natürlich nicht schaffen – und das Zelt auf dem See aufzustellen wäre mir auch zu riskant. Lieber am windgeschützeren Ufer, wo es auch Holz zum Feuermachen gibt.
Durch den 20 Zentimeter hohen, lockeren Schnee zu stapfen ist anstrengend, auf der spiegelglatten Eispiste zu laufen allerdings nicht weniger. Gut vorwärts kam ich am Straßenrand, wo ein schmaler Streifen einer dünnen, angewehten Schneeschicht Halt bot. Links von mir zogen sich in einem Halbkreis die etwa ein Dutzend Häuser des Dorfes Katún hin, weiter in der Ferne die etwas größere Siedlung Kurbulik. Strom gibt es für die etwa 100 Einwohner nur stundenweise per Dieselaggregat oder über Solarzellen. Nach einer Weile näherte sich mir von hinten ein klappriger, kleiner Lada. Ich hielt meine Hand heraus und durfte einsteigen. Drin saßen drei ältere Burjaten, vom Landleben abgehärtete, einfache Menschen, die sich sofort hochinteresiert zeigten, nachdem sie meine Herkunft erfahren hatten.
„Heil Hitler!“ begrüßte mich der Beifahrer und lachte gutmütig. „Jaja, der Führer, eins, zwei, drei!“ Das war anscheinend das erste, was ihm zu Deutschland einfiel. Er war Jäger. „Brauchen Sie vielleicht ein Bärenfell? Wolfsfelle? Kann ich alles besorgen!“ Gern würde ich ihn einmal auf der Jagd begleiten, meinte ich, mich interessiere eher der Prozess, für Felle hätte ich jetzt unmittelbar keine Verwendung, in meinem Rucksack seien schon zwei Daunenschlafsäcke. Die drei waren unterwegs nach Severobaikalsk, 250 Kilometer nach Norden, noch am selben Abend wollten sie dort ankommen. Auf Höhe der Schlangenbucht ließ ich mich an ein paar Bretterbuden absetzen und wünschte Gute Reise.
Inzwischen war der Nachmittag schon weiter fortgeschritten, und die einsetzende Abendkühle gab einen kleinen Vorgeschmack auf die nächtlichen Minusgrade, die mich im Zelt erwarten würden. Sollte ich jetzt in die Schlangenbucht laufen und dort neben der heißen Quelle mein Quartier aufschlagen wie im letzten Jahr? Gemütlich wird es nicht und außerdem ist es verboten, wie ich am Nationalpark-Eingang erfahren hatte. Statt dessen machten mich die in zwei Reihen zu je fünf Stück aufgestellten holzwürfelartigen Hütten neugierig, an denen ich gelandet war: Unterkünfte für Eisfischer, die man für 300 Rubel pro Nacht beziehen konnte, ausgestattet mit einem kleinen Holzofen. So brachte ich die erste Nacht nicht am, sondern auf dem Baikalsee zu.
Außer dem Ofen gab es in den Hütten nur einen Tisch und zwei mit einem Stück Schaumstoff als Matratze bedeckte Pritschen. In geeignete Stücke zurechtgehacktes Brennholz konnte ich mir holen, so viel ich wollte. Die eine Seite des „Innenhofes“ der Mini-Siedlung war durch eine mannshohe Wand aus Eis-Ziegeln abgegrenzt, die einen Windschutz bildeten und auch einen Sichtschutz gegen die drei etwas weiter draußen stehenden, dreieckigen Toilettenhäuschen. Ende Februar werden die Buden hinaus aufs Eis gezogen und Mitte April wieder zurück, erfuhr ich. In den Dielenboden der Hütte waren fünf etwa 20 Zentimeter große quadratische Löcher gesägt, darunter leuchtete das blanke Eis und in diesem die runden Umrisse des Loches, durch das geangelt wurde. Innerhalb kürzester Zeit friert dieses wieder zu, so dass jeder Anger sein Loch in der über einen Meter dicken Eisschicht neu erzeugen muss – mit dem Eisbohrer eine Sache von allerdings nur einer Minute.
Erfreut darüber, nicht im Zelt zu sein, heizte ich den Ofen an, dessen Bedienung sich als nicht leicht erwies: zwanzig Minuten lang erzeugte er sauna-artige Hitze, eine halbe Stunde etwa war die Temperatur gemütlich und nach einer Stunde ging er aus, wenn ich nicht nachlegte, wobei binnen kurzer Zeit Außentemperaturen herrschten, da die Hütte in keinster Weise isoliert war. Um nicht stündlich nachts aufstehen zu müssen, beschloss ich, auf den Ofen zu verzichten, hüllte mich in meine beiden Schlafsäcke und ließ mich vom Geräusch des Dieselaggregates in den Schlaf brummen, das von 18 bis 22 Uhr für elektrischen Strom sorgte.
Das Licht des anbrechenden Tages fiel durch das kleine Fenster, ich schälte mich aus meinen Schlafsäcken, entzündete den Ofen und stellte meinen mit Schnee gefüllten Aluminiumtopf darauf für den Morgentee. Die Temperatur draußen betrug gefühlte minus fünfzehn Grad, das Ufer der Schlangenbucht war in morgendlichen Nebel gehüllt, über der Ostküste der Tschivirkuj-Bucht ging gerade die Sonne auf. Die nächsten drei Stunden verbrachte ich noch in meiner Behausung, warf immer wieder Holz nach und genoss das Prasseln und Knacken meiner Wärmequelle. An der Decke wärmte ich Socken auf, zum Frühstück gab es die legendären Doshirak-Schnellkochnudeln, Lieblingspeise in den Zügen der Transsibirischen Eisenbahn. Als der Morgen in den Vormittag überging und die Sonne am blauen Himmel einen warmen Mittag versprach, machte ich mich auf den Weg.
In der Tschivirkuj-Bucht liegen einige äußerst romantisch und wunderschön anzuschauende Inselchen. Die Piste führte vorbei an der spärlich mit Lärchenwald bewachsenen Insel Golyj (die Nackte), in deren Zweigen mir hunderte Vogelnester auffielen. Ein Stück weiter standen die letzten Anglerhütten auf dem Eis, statt blankem, geräumtem Weg zieht sich danach nur noch ein schmales Band von Reifenspuren weiter nach Norden, davon zeugend, dass Verkehr hier höchst selten ist. Jetzt beginnt sie also, die echte Windnis! Ich zog meinen Beckengurt enger und schritt weiter. Eine Stunde, zehn Minuten Pause mit Rosinen und heißem Tee, wieder eine Stunde.
Ich passierte rechterhand das nächste Inselchen, Lochmatyj (die Zerzauste) genannt, links von mir die Solenenka-Bucht mit einem an eine der Kiefern am Ufer genageltes Schild „Nationalpark – Betreten verboten“. Ein langer Streifen Steilküste, dann endlich eine flache Landzunge und der Blick auf den Baikal in seiner ganzen Breite, hier etwa 50 Kilometer: das Ende der Tschivirkuj-Bucht, die Nordspitze der Halbinsel Heilige Nase. In der Ferne sah ich die legendären Ushkani-Inseln, an denen sich im Sommer die Baikal-Robben, Nerpa genannt, tummeln sollen. Ein Stützpunkt des Nationalparkes ist laut Karte dort, aber die 30 Kilometer bis dorthin waren zu Fuß an dem Tag nicht mehr machbar. Hier, am Kap Werchnoje Isgolovje  sollte End- und Umkehrpunkt meiner Tour sein, beschloss ich, wenn es hier Feuerholz gibt und eine windgeschützte Stelle, wollte ich auch die Nacht hier verbringen. Auf der Karte erinnern die Umrisse der Halbinsel Heilige Nase an einen nach unten schauenden Vogelschädel, an dessen „oberem Kopfende“ – so die Übersetzung des Kap-Namens – ich mich gerade befand.
Am Ufer stand ein kleiner Holzschuppen, ähnlich dem von letzter Nacht, nur ohne Ofen. Ich beschloss, das Wagnis einzugehen und tatsächlich bis zum Morgen zu bleiben. Ein Feuer, um mich aufzuwärmen, würde ich am Morgen und am Abend draußen machen. Ritzen in den Wänden und in der Tür könnte ich von innen mir meiner Zeltplane abdichten, so wäre es wenigstens windstill. Und zwei Schlafsäcke übereinander sollten ausreichen, egal wie kalt es wird. Eine Nacht an der Nordspitze der Heiligen Nase, umgeben von totaler Stille, nur unterbrochen von einigen Krähen- oder Rabenrufen, die nächsten paar Dorfhütten dreißig Kilometer weit weg, bis zur nächsten größeren Siedlung doppelt so weit, das war genau nach meinem Geschmack: Endlich Einswerden mit der Natur, vielleicht klappt es ja heute, vielleicht ist jetzt der Moment gekommen, einzutauchen in das Atmen der Berge, den Großen Geist des Heiligen Baikal zu verspüren und mit den Elementarwesen zu kommunizieren, die in den Steinen und Felsen wohnen. Allein mit mir und dem Weltall – der große Moment, selbst zum Weltall zu werden, wie wäre es, wenn ich jetzt auf immer Einzug hielte in den Weltenäther, niemand würde mich dabei stören, kein Motorengeräusch das Hineinlauschen in Gottes Ewigkeit trüben, kein menschengemachtes Ding die Gedanken ablenken…
Während ich so sinnierte, verfolgte mein Blick einen kleinen, schwarzen Punkt auf dem Eis, der sich mir von rechts kommend rasch näherte. Ehe ich selbst begriff, was ich tat, nahm ich meinen Rucksack und rannte aufs Eis hinaus, um den Fahrweg des Autos rechtzeitig vor dessen Ankunft zu kreuzen. Ein neuer, großer VW-Geländewagen, am Steuer eine Art Geschäftsmann. Ob er nicht zufällig zu den Ushkani-Inseln fahre, erkundigte ich mich. Nein, er sei unterwegs nach Olchon, aber an den Ushkanis käme er vorbei. Ich zögerte einen Moment und rief mir die Baikal-Landkarte vor das innere Auge. Olchón, das wären 150 Kilometer, einmal schräg quer über den See.
Fünf Sekunden Zeit zum Überlegen. „Gut, ich komme mit!“, sagte ich und warf meinen Rucksack auf die Rückbank.
„Anatolij!“
„Thomas, sehr angenehm!“
Der gegenseitigen Vorstellung folgte zunächst kein Gespräch, was bei der bis zum Anschlag aufgedrehten Musik auch nicht möglich gewesen wäre. Über die aufgeworfenen Eisstücke um die Landspitze herum kamen wir nur im Schritttempo vorwärts. Nach einer Weile ging es besser, die Fläche war glatt, die Reifenspuren der Vorgänger im Schnee gut erkennbar. Wie auf einer Autobahn düsten wir an den flachen Kleinen Ushkani-Inseln und an der sich wie ein Buckel aus der Ebene emporwölbenden Großen Ushkani-Insel vorbei. Nerpas sah ich leider keine.
Links von mir die Berge der Heiligen Nase von der anderen Seite, in der Ferne die Umrisse der Insel Olchon, vor mir die Eis- und Schneewüste, ein großartiges Gefühl, vor allem, wenn man im warmen Geländewagen sitzt. Nach einer Weile drehte Anatolij die Musik leiser.
„Ich fahre diesen Weg hier auch zum ersten Mal. Wo ist eigentlich jetzt die Straße?“
Irgendwie hatten sich die Reifenspuren verflüchtigt, es gab keine mehr, die in unsere Richtung führten. Ich warf einen Blick auf die Karte und schlug vor, Olchon von rechts durch das Kleine Meer zu umfahren, ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass das ungefährlicher sei und außerdem näher an der Zivilisation.
Nach einer Weile Fahrt durch die knirschende jungfräuliche Scheedecke fanden wir die Spuren wieder, folgten ihnen aber nur vorübergehend, da sie immer wieder in eine für uns unpassende Richtung abbogen. Anatolij raste mit 80 Stundenkilometern im Zickzack über den Baikal, zwischendurch musste er immer wieder fast Vollbremsungen hinlegen, da Eisscherben und Verwerfungen zu überwinden waren. An einer Stelle glänzte das einen haben Meter breite Band einer Spalte in verdächtigem Blau. „Die ist ganz frisch“, hörte ich ihn sagen, und anstatt darüberzubrettern, umfuhren wir die offene Stelle sorgfältig.
Fünfzig Kilometer bis zur nächsten Steilküste, anderthalb Kilometer unter mir der Grund des Sees, von dem mich nur ein Meter dickes Eis trennt – als die Umrisse Olchons nicht näher rücken wollten und Anatolij seinen Zickzackkurs im Affentempo fortsetzte, wurde mir etwas mulmig zumute. „Ich finde es ganz schön riskant, was Sie hier machen, und wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht eingestiegen!“, wollte ich sagen. Stattdessen entkam es meinem Mund: „Man muss sich schon sehr auf sein Auto verlassen können und den Baikal gut kennen, um solche Touren zu machen. Wenn wir jetzt hier liegenbleiben, holt uns keiner raus, und Handyempfang ist auch nicht, stimmts?“ Anatolij klopfte auf das VW-Zeichen am Steuer und zuckte die Achseln. „Ein Dank an Ihre Landsleute! Ich fahre schon mein ganzes Leben über den Baikal, nur ausgerechnet diese Strecke zum ersten Mal.“ Mir fielen die Worte des gestrigen Busfahrers zum Thema Adrenalin ein.
Endlich fuhren wir ins Maloje Morje ein, das die Insel Olchon vom Festland trennt, und waren nicht  mehr die Einzigen auf dem Eis: vor der Küste gab es ein gewisses Verkehrsaufkommen, wahrscheinlich Touristen, die die Schönheiten der winterlichen Steilküste bewundern. Ich erkannte alle die Plätze wieder, die ich auf meiner Reise mit Niso im Februar schon bestaunt hatte: das Kap Chobój mit der fast senkrecht aufgestellten Felsplatte etwa oder die wie ein Raubtier im Wasser liegende Löweninsel. Ein Schlittschuhfahrer kam uns entgegen und ein Fahrradfahrer, der einen Schlitten hinter sich herzog.
Der Geschäftsmann – unklar, ob er wirklich einer war – wollte noch bis Irkutsk weiterfahren. Ich ließ mich am Ufer vor der Siedlung Charantsý absetzen. Das Ende einer dreistündigen Baikal-Überfahrt, knappe Abschiedsworte, der VW-Geländewagen düste davon.
Also jetzt Olchón. Egal, was du planst, es kommt anders – das ist Russland.
Die vier Mitfahrgelegenheiten auf meiner Tour vom Nationalpark-Eingang bis hierher waren jeweils auch die ersten Autos gewesen, die angehalten hatten, kam mir in den Sinn, während ich meine Schritte über den sandigen Steppenboden dorthin lenkte, wo ich die Dorfmitte von Charantsy vermutete. An einem einsamen Eiswanderer im Winter, der die Hand ausstreckt, fährt man nicht einfach so vorbei – eine schöne Erfahrung! Mit seinen halb und ganz zerfallenen graue Hütten, davon einige mit schönen, blau lackierten Fensterläden fand ich Charantsý eher trostlos. „Bildungsministerium der Russischen Sowjetrepublik – Grundschule“, stand auf einem verblichenen Schild an einer zugenagelten Tür, „Hier wohnt der Veteran des Großen Vaterländischen Krieges Kopylov Aleksey Wasiljewitsch“, war an einer anderen Stelle zu lesen. Kühe standen auf dem Weg herum, bellende Hunde begleiteten mich. Einen merkwürdigen Kontrast bildeten die scheinbar wahllos auf die Hügel um die marode Ortsmitte herum in die Landschaft gebauten nagelneuen, oft noch nicht fertiggestellten Ferienhäuser – offensichtlich gibt es im Sommer doch ein gewisses Touristenaufkommen. Ich konnte mich wieder nicht dazu überwinden, mein Zelt aufzustellen und übernachtete als einziger Gast im einzigen geöffneten Gästehaus.
Der Sonnenaufgang am nächsten Morgen trieb mich wieder nach draußen. Durch ein lichtes Wäldchen von alten, knorzeligen, meterdicken Lärchenbäumen ging ich an die Küste, vorbei an einem geheimnisvollen Gebilde von in mehreren Kreisen sorgfältig aufgestellten Steinen. Wohl zum letzten Mal in diesem Jahr betrat ich das Eis des Baikals und atmete die Klarheit des schneebedeckten Maloje Morje mit den Bergen des Baikal-Rückens am Westufer ein. Auf dem Rückweg ins Gästehaus schlenderte ich versehentlich wohl durch ein Grundstück und spürte plötzlich eine feuchte Hundeschnauze an meiner Hand. Völlig geräuschlos schnappte das Tier nach meinem Handschuh. Ich versuchte mir einzureden, ich hätte keine Angst und wir spielten zusammen „Handschuhe apportieren“, wobei ich mich zielstrebig der Unterkunft näherte. Das Schweigen des Hundes irritierte mich außerordentlich. Wenn sie bellen, beißen sie nicht, heißt es, und wenn sie nicht bellen?
Einmal täglich sammelt ein Kleinbus in Charantsy und dem benachbarten Chuzhir Fahrgäste ein und fährt in fünf Stunden nach Irkutsk, von der Insel aufs Festland diesmal nicht mit Umstieg in ein Luftkissenboot wie noch im Februar, sondern auf einer offiziell vom Katastrophenschutzministerium sogar für Busse freigegebenen Trasse auf dem Eis. In Irkutsk entschied ich mich gegen die Weiterfahrt mit dem Nachtzug, sondern nahm den nächsten Kleinbus. Die ersten zwei Stunden führte die Straße über viele Windungen zum Baikal hinab, die der Fahrer in einem derartig verrückten Tempo hinlegte, so dass mir kotzübel wurde. Während der insgesamt siebenstündigen Fahrt war kollektives Schauen einer russischen Krimiserie angesagt.
So kam es, dass ich in drei Tagen den 600 Kilometer langen Baikalsee einmal etwa in der Mitte durchquerte und halb umrundete. Am Montag, dem 27. März um 1 Uhr nachts erreichte ich Ulan-Ude.
Die Baikal-Überquerung: von der Halbinsel Heilige Nase (rechts) bis auf die Insel Olchon (links)

Die erste Nacht verbrachte ich in einer beheizbaren Anglerhütte
Durch die Löcher im Dielenboden kann geangelt werden, nachdem man mit dem Eisbohrer ein Loch in die einen Meter dicke Eisdecke gemacht hat (oben). Schneeschmelzen für den Morgentee (unten)
Sonnenaufgang über der Tschivirkuj-Bucht (oben). Das Inselchen Golyj ("die Nackte") (unten).
Von der Insel Golyj fällt der Blick auf die Anglerhütten in der Bucht (oben). In den Lärchen gab es hunderte Vogelnester (unten).
An der Nordspitze der Heiligen Nase war End- und Umkehrpunkt meiner Tour - dachte ich zumindest eine Weile (oben). In den Ferne waren die legendären Ushkani-Inseln zu sehen (unten).
Unerwartet fand ich mich vor der Küste der Insel Olchon wieder
Die Siedlung Charantsy (oben), in der ein Veteran des Großen Vaterländischen Krieges wohnt (unten)
Verblichener Gruß aus Sowjetzeiten: die ehemalige Grundschule (oben). Blick über das Maloje Morje mit gehemímnisvollen Steinkreisen am Ufer (unten)
Die Eispiste führt an der Küsten Olchons entlang weiter nach Chuzhir mit dem berühmten Schamanenfelsen

Mittwoch, 22. März 2017

Einkäufe



Vor einiger Zeit kaufte ich in einem kleinen Obst- und Gemüseladen in der Nähe ein. Der Verkäufer hatte eine südländische Hautfarbe und sprach Russisch mit merklichem Akzent. Wir tauschten uns über unsere Herkunftsländer aus. Es erwies sich, dass er aus Aserbaidschan kommt. „Oh,“ rief ich erfreut, „im letzten Sommer war ich ganz bei Ihnen in der Nähe, in Armenien. Schöne Gegend, der Kaukasus!“ Ohne auf meine freudigen Reiseerinnerungen zu reagieren, legte der Verkäufer die von mir gewünschten Äpfel aus Krasnodar, Birnen aus Argentinien und Aprikosenkerne aus Usbekistan auf die Waage. Nach Verlassen des Geschäftes fiel mir ein, dass  Aserbaidschaner nicht unbedingt begeistert sind, wenn sie von Armenien hören, schließlich befinden sich beide Länder offiziell im Kriegszustand. Nun, der Mann wird es einem Deutschen nicht verübeln, wenn der nicht so genau weiß, wer im Völkergemisch des Kaukasus mit wem gut kann und wer nicht.

Als ich mich neulich in einem anderen Gemüsegeschäft mit Kartoffeln versorgen wollte, war die Verkäuferin hinter dem Tresen auch aus Asherbaidschan. Ich kannte die Frau sogar – zusammen mit ihrem Sohn Tural hatte sie mich im Büro aufgesucht.
„Thomas von der Universität! Sie kommen wie gerufen! Mein Sohn hat da noch einige Fragen an Sie… Sie wissen ja, er ist Flugzeugingenieur, jetzt will er noch in Deutschland studieren… Er lernt seit ein paar Wochen Deutsch, nimmt Einzelunterricht… Kann Tural sich da jetzt schon bewerben? Wohin muss er denn im Herbst die Dokumente schicken?“
Zuerst müsse er ziemlich gut Deutsch oder Englisch können, ehe er sich an einer deutschen Uni bewirbt, das geht nicht ganz so schnell, meinte ich und verlangte fünf Kilo Kartoffeln.
„Mein Sohn wollte auch erst Englisch lernen, aber ich habe ihm gesagt, Deutsch, nur Deutsch! Dann bewirbt er sich also noch nicht im Herbst?“
Technische Studiengänge könne man durchaus auch auf Englisch bei uns studieren, klärte ich sie auf und bat um das Wechselgeld, auf den 100-Rubel-Schein verweisend, den ich ihr hingelegt hatte.
„Ach was, Sie müssen nicht zahlen! Tural kommt nächste Woche zu Ihnen ins Büro, dann helfen Sie ihm weiter, ja? Er arbeitet jetzt vorübergehend bei den Wasserwerken, und naja, ich stehe jetzt hier, eigentlich bin ich Mathematiklehrerin…“
Gerne würde ich Ihren Sohn beraten und ihm zeigen, was es so für Möglichkeiten gibt in Deutschland, antwortete ich, aber natürlich könne ich ihm keinen Studienplatz verschaffen.
„Hier, nehmen Sie noch ein paar Mandarinen dazu! Mein Sohn wird Sie nächste Woche anrufen!“ Mit kostenloser Verpflegung ausgestattet trat ich den Heimweg an.

Der Nüsseverkäufer heute in der großen Halle des zentralen Marktes verkaufte mir eine leckere Nussmischung, Herkunft: Tadschikistan. Ob er denn auch von dort käme, wollte ich wissen. „Ja“, gab er mit unsicherer Stimme zur Antwort und senkte den Blick. „Toll, meine Freundin kommt von dort!“, rief ich und nahm gleich noch ein zweites halbes Kilo dazu.
Nach der kleinen Begegnung beim Nüssekauf erinnerte ich mich an einen Artikel in der „Moskauer Deutschen Zeitung“ (MDZ) über einen tadschikischen Arbeitsmigranten in Moskau. Viele Bewohner der ehemaligen kaukasischen und zentralasiatischen Sowjetrepubliken arbeiten in Russland, wo die wirtschaftliche Situation immer noch vergleichsweise besser ist, und schicken das Geld nachhause zu ihrer Familie. Manche, wie Niso, sind schon seit Jahrzehnten hier und gut integriert. Andere werden als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen und ein wenig wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Mehr als 10% aller Tadschiken leben in Russland, schreibt die MDZ, ihre Geldüberweisungen in die Heimat machen 36% des tadschikischen Bruttoinlandsproduktes aus.

Sonntag, 12. März 2017

Blumen, Bürokratie und Bonbons



Der Frauentag am 8. März ist in Russland ein arbeitsfreier Feiertag. Am Vorabend wollte ich in einem 24 Stunden geöffneten großen Pflanzenladen eine Rose für meine Freundin kaufen und fand mich in einer langen Männerschlange wieder: Blumen zu schenken ist an diesem Tag für die Herren ein Muss. In den Fachgeschäften Ulan-Udes sind die Schnittblumen in einer eigens klimatisierten, durch Glas vom übrigen Verkaufsraum abgetrennten Abteilung untergebracht. In meiner Wohnung hatte ich bisher überhaupt kein Glück mit Zimmerpflanzen: ob Alpenveilchen, Christusdorn oder Elefantenfuß – nichts hält sich länger. Lediglich meine Palmenstecklinge von der Krim stehen unverwüstlich, noch.

Die beiden Projekte für Studenten, die ich neben dem Unterrichten regelmäßig betreibe – Chor und „Deutscher Abend“ – setze ich auch in diesem Semester fort, mangels Teilnehmern allerdings hart an der Grenze zur Nichtexistenz: zu den wöchentlichen Chorproben kommen mit Mühe zehn Leute zusammen, und zum letzten Deutschen Abend kamen ganze vier. Warum? Denen, die kommen, macht es Spaß und alle versprechen stets, beim nächsten Mal wieder dabeizusein. „Es wird Zeit, dass du Deine deutsche Toleranz abstellst und zum russischen Totalitarismus übergehst“, meinte Zhargal zu mir, ein junger Burjate, dessen Traum vom Studium in Deutschland leider nicht geklappt hat. Er ist einer der wenigen zuverlässigen Chormitglieder. „Wenn Deine Studis nicht zum Chor kommen, gibt’s keine gute Note im Unterricht. Ohne Erscheinen beim Deutschen Abend keine bestandene Prüfung, fertig. So geht das in Russland. Mit deiner westlichen Höflichkeit kommst du nicht weiter!“ Ich versuche es dennoch. Es müsste doch möglich sein, Menschen durch Begeisterung zu gewinnen und nicht durch Druck. 

Nebenbei beschäftigen mich verschiedene bürokratische Themen, interessante und weniger spannende. Bei welchem Finanzamt mache ich als Deutscher ohne festen Wohnsitz in Deutschland meine Steuererklärung? Darf ich an den Bundestagswahlen teilnehmen? Wie bekommt man als Russe am besten ein deutsches Visum? Wenn ich Niso im Sommer meine Heimat zeigen möchte, dann muss diese Frage gelöst werden. Das für ganz Sibirien und den russischen Fernen Osten zuständige deutsche Konsulat befindet sich in Novosibirsk (anderthalb Eisenbahntage von Ulan-Ude entfernt). Wer nur ein Visum für einen Kurzaufenthalt braucht, kann dieses – ein für viele Länder Europas gültiges Schengen-Visum – in einem Visa-Zentrum in Irkutsk beantragen (einen halben Eisenbahntag entfernt). Persönliches Erscheinen ist unabdingbar, um Fingerabdrücke abzugeben, zumindest vor dem ersten Visum. Für die deutsche Seite ist die sogenannte Rückkehrwilligkeit ein wichtiges Kriterium: der Antragsteller muss zeigen, was ihn in seiner russischen Heimat hält: Wohneigentum, eine gut bezahlte Arbeit, kleine Kinder – nicht dass er etwa in Deutschland zu bleiben beabsichtigt. Wer eine touristische Reise plant und sich von keinem Bekannten einladen lässt, muss eine Hotelbuchung vorzeigen.
Deutschland steht in dem Ruf, bei der Erteilung von Schengen-Visa strenger als andere europäische Länder zu sein. Wer besonders schlau sein möchte und das Hotelzimmer nur pro forma bestellt, die Buchung aber nach der Visaerteilung annulliert, muss damit rechnen, dass ihm am Flughafen trotzdem die Einreise verweigert wird, weil die Gültigkeit der Reservierung überprüft wird. Viele Russen beantragen deshalb ein Schengen-Visum in einem anderen europäischen Land und reisen dann zum Beispiel über Österreich, Spanien oder Tschechien nach Deutschland ein, was keinen kümmert, aber eigentlich nicht legal ist: das Land, welches das Schengenvisum ausstellt, sollte auch Hauptreiseziel sein.
Im letzten Jahr hatte ich auf einem Treffen mit Kollegen in Novosibirsk den Leiter der dortigen Visaabteilung kennengelernt. Was der sagte, macht wiederum Mut: „Wir haben kein Interesse daran, das Verfahren zu verkomplizieren und versuchen, die Visa so unbürokratisch und schnell wie möglich zu erteilen. Unsere Ablehnungsquote beträgt nur 2,5 Prozent, das ist extrem wenig.“ Wenn das nicht Hoffnung gibt! Gern würde ich im Sommer mit meiner Freundin direkt über Berlin einfliegen, ohne zuvor eine Runde durch Tschechien oder Spanien drehen zu müssen.

Wenn mir Verwandte aus Deutschland ein Päckchen schicken, dann kann dieses recht lange unterwegs sein. Auf Bücherpakete, die mir an den Arbeitsplatz gesendet werden, warte ich auch schon einmal ein halbes Jahr. Die Post von Sibirien nach Deutschland ist schneller, in der Regel sind die Sendungen nach drei Wochen da. Neulich habe ich für meinen Bruder ein Geburtstagspäckchen  gepackt. „Schokolade, Bonbons, Tabak“, schrieb ich wahrheitsgemäß auf die kleine grüne Zollerklärung. „Tabak verschicken wir nicht, genauso wie Wein und Nüsse“, wies mich die Postbeamte barsch ab. „Habe ich aber schon oft gemacht“, meinte ich und gab ihr die Sendung mit einem neu ausgefüllten Zettel, auf dem nunmehr „Schokolade und Bonbons“ stand.
 „Jetzt müssen Sie den Tabak auch herausnehmen!“ Die Annahme wurde verweigert.
„Arbeiten Sie beim Zoll oder was?“ Ich war genervt. Am nächsten Tag gab ich das Päckchen bei einer anderen Mitarbeiterin auf.