Mittwoch, 31. Januar 2018

"Warum ich ein Stipendium für Deutschland bekommen möchte"

Deutschland ist für Russen, die im Ausland studieren möchten, ungeachtet der politischen Krise ein beliebtes Ziel. In Moskau habe ich als Mitglied einer Kommission über die Vergabe von Stipendien mitentschieden. Beim Lesen der über hundert Motivationsschreiben musste ich einige Male herzlich lachen oder zumindest schmunzeln:

An der Universität nehme ich an Konferenzen, verschiedenen Wettbewerben und Sportveranstaltungen teil. Das heißt, ich bin vielseitig entwickelt, zielbewusst und kreativ. Mit solchen Begabungen kann ich die Autorität der deutschen Sprache in Massen bringen. Was gibt es da zu zweifeln?

In Russland haben wir einen Stereotyp, dass die deutsche Sprache nicht sehr schön klingt, aber ich glaube nicht an diesen Stereotyp und ich begann Deutsch gerade wegen seines Klanges zu lernen. […] Ich mag die gotische Architektur, denn die ist dunkel und majestätisch, und sie reflektiert meine innere Welt. Als ich das Lesen des Buches „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche beendete, war ich von der Idee des Übermenschen inspiriert und ich versuche immer ein guter Mensch zu sein, aber es gelingt nicht immer.

Meine Philosophie als zukünftige Lehrerin – den Kindern den Glauben an sich selbst beibringen. Und damit das Kind an seine Kräfte glaubt, muss ich selbst an mich selbst glauben. Und dazu brauche ich meine Kenntnisse in der deutschen Sprache zu verbessern.

Ich mag Bücher auf Deutsch lesen. Ein Buch auf Russisch kann für mich nicht besonders interessant sein, aber dasselbe Buch auf Deutsch kann bei mir schon Neugier erwecken.

Wie ein österreichischer Philosoph, Ludwig Wittgenstein, gesagt hat: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Das war der echte Grund für mich, warum ich eigentlich dieses Stipendium bekommen muss.

Ich möchte diese Sprachkurse besuchen, weil sie alle sehr massenattraktiv sind und in der passenden Zeit abgehalten werden.

Ich war zwar schon zweimal in Deutschland, aber das war noch während meiner Schulzeit, in der ich mich für dieses Land nicht interessiert habe.

Ich möchte sehr in Deutschland studieren. Das ist schon lange mein Traum. Während meiner ersten Reise nach Deutschland im Jahre 2008 ist mir schon am ersten Tag ein erschütterndes Ereignis passiert. Uns ist Angela Merkel auf einer Straße von Berlin begegnet! Ich war noch ein kleines Kind, aber diese Begegnung hat mich sehr stark beeindruckt. Heute betrachte ich dieses Ereignis als ein Beispiel der wahren Demokratie.

Schließlich habe ich einige Gründe, warum ich speziell in Berlin studieren möchte. Da mir viel an dem Wohl von Natur und Tieren liegt, habe ich vor einigen Jahren aufgehört, Fleisch zu essen. Berlin ist als vegane Hauptstadt in Europa bekannt. Ich würde gerne kommen, um mehr über diese Entwicklung zu erfahren.

Dienstag, 30. Januar 2018

Osh

Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 3

Ich sitze auf einer Parkbank in Osh, unweit des Berges Suleiman-Too. Was für eine ungewöhnliche Stadt: ein Berg in der Mitte, mit zackigen Felsen, in deren Höhlen man herumkriechen kann, ein Netz von Trampelpfade über den Hängen und angeblich jahrtausende alte gemeißelte Felszeichnungen. Die markante Silhouette des Suleiman-Too-Berges diente Handelsreisenden auf der alten, durch das Ferghana-Tal verlaufenden Seidenstraße als Orientierungsmarke. Der biblische König Salomon könnte hier begraben sein, heißt es; heute ist der Ort Unesco-Weltkulturerbe, was bisher noch niemanden dazu veranlasst hat, die alten Petroglyphen vor neuen Schmierereien zu schützen, von denen sie manchmal kaum zu unterscheiden sind. 20 Som Eintritt kostet es an der Kasse; Kassiererin Gulmira hatte mich neugierig gefragt, ob die Mauer in Berlin noch steht und ob wir in Deutschland in der Schule auch über Adolf Hitler sprechen. Ich sitze nun also auf der Parkbank, als ein Mädchen sich neben mich setzt und auf Englisch fragt, ob sie nicht ein wenig mit mir reden dürfe? Sie bereite sich gerade auf eine Englisch-Olympiade vor und brauche noch ein bisschen Übung im Sprechen. Ich unterhalte mich eine halbe Stunde mit der Elftklässlerin Elisa; sie fragt, wie lange es dauert, um Deutsch zu lernen, weil ein Studium in Deutschland viel weniger kostet als zum Beispiel in den USA.
Dann taucht Bilal auf, ein Mitarbeiter des Osh Guest House, wo ich übernachte und mit dem ich eigentlich verabredet war. Wir brechen zum Stadtbummel auf.

Kirgistan ist ein sehr junges Land – überall große Mengen junger Leute, das Durchschnittsalter beträgt 26; die Menschen sind viel gesprächiger als beispielsweise die zurückhaltenden Burjaten, auch in der Stadt ist es nicht schwer, mit jemandem in Kontakt zu kommen. Als erstes führt mich Bilal in das mächtige sowjet-neoklassizistische Gebäude der Osher Staatlichen Universität: während ich die beeindruckende Säulenfassade fotografiere, berichtet er mir, wie viel die Prüfungen kosten und dass man schon ganz ordentlich ein paar Scheine hinlegen muss, um Bestnoten zu bekommen. Ich plaudere ein wenig mit Murubat Usmanova, der Direktorin des Zentrums für Deutsche Sprache; ein Deutsch-Muttersprachler unterrichtet auch hier, sozusagen ein Kollege von mir.

An allen Straßenecken wird frischer Popcorn verkauft. Bilal erklärt mir, woran man Kirgisen von Usbeken unterscheiden kann – zwischen beiden Volksgruppen war es 2010 in Osh zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Hier im Ferghana-Tal, dem kulturellen Zentrum Mittelasiens, sorgen die künstlichen Grenzziehungen der unabhängig gewordenen Sowjetrepubliken nach dem Wegfall von Moskau als Ordnungsmacht immer wieder für Spannungen. Auf dem riesigen Basar probiere ich Kurut: weiße, sehr salzig schmeckende Bällchen aus einer Art getrocknetem Joghurt. Zigaretten werden zum Preis von 4 Som das Stück auch einzeln verkauft –ein Feuerzeug liegt bereit zum sofortigen Anzünden – und lakritzfarbene Stangen in kleinen Plastiktütchen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Naswaj, Kautabak, dessen mäusekotgroße Kügelchen man sich zwischen Zunge und Zahnfleisch oder unter die Zunge klemmt (in Russland ist der Verkauf von Naswaj seit einigen Jahren verboten).

Beim Warten auf den Flug von Osh nach Moskau komme ich mit dem Usbeken Umar ins Gespräch, der zu seinem Arbeitsplatz, einer Schmelzkäseherstellungsfabrik, aufbricht. Was ich in Kirgistan mache? Urlaub? Urlaub heißt doch Strand, Sonne und Hotels mit guter Bedienung, so wie in der Türkei! Ach so, die Berge, ja, stimmt… Wer einen harten Alltag hat, sucht im Urlaub Komfort und Sicherheit; wer aus dem gesättigten und bequemen Deutschland kommt, möchte Abenteuer und freut sich über Unvorhergesehenes, so wie ich, der eigentlich nach Tadschikistan wollte und statt dessen nun etwas über Kirgistan erzählen kann - dank eines verpassten Anschlussfluges in Istanbul.

Der Suleiman-Too-Berg mitten in der Stadt Osh (oben); Kassiererin Gulmira setzt fürs Foto extra ihren Kalpak auf, die traditionelle kirgisische Kopfbedeckung (unten)
Jeder ist für den Erhalt des Weltkulturerbes selbst verantwortlich - oder eben auch nicht: Petroglyphen unter modernen Schmierereien (oben); Eliza bereitet sich auf eine Englisch-Olympiade vor (unten)
Zigaretten sind auf dem Markt auch einzeln erhältlich, die schwarzen Stangen sind Kautabak (oben); mit Murubat Usmanova und Bilal im Zentrum für Deutsche Sprache an der Universität Osh
Salzige Joghurtkügelchen (Kurut) auf dem Basar in Osh

Montag, 29. Januar 2018

Auf dem Pamir-Trakt durch die asiatische Schweiz

Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 2

Kirgistan ist die „Schweiz Zentralasiens“, heißt es, von Tadschikistan sagt man dasselbe – beide Schweizen werden ihrem Namen gerecht, was di e Schönheit der Berge betrifft. Der westliche Besucher genießt die ästhetische, weite und wilde Landschaft und erfreut sich an den niedrigen Preisen. Doch von Schönheit allein kann keiner leben; die meisten der fünf Millionen Einwohner des kleinen Landes von etwa zwei Drittel der Fläche Deutschlands kämpfen damit, im Alltag über die Runden zu kommen und haben sich in sehr einfachen Verhältnissen eingerichtet. Auf der Fahrt von Bishkek nach Osh sitzen zwei soeben aus Moskau heimgekehrte Kirgisen neben mir im Auto. In der russischen Hauptstadt verdienen sie im Sägewerk 40000 Som, umgerechnet 500 Euro, für Moskau wenig, für sie genug, dass es sich lohnt, die Familie zu verlassen und von außerhalb zu versorgen. Es gibt kaum gut bezahlte Arbeit im eigenen Land. Seit 2015 ist Kirgistan Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, weshalb die jungen Männer kein Visum brauchten und unkompliziert in Russland eine Arbeitsgenehmigung bekamen.

Vollgestopft mit Gepäck und sechs Passagieren auf drei engen Sitzreihen schraubt sich unser Pkw einen dreieinhalb Kilometer hohen Pass empor, so hoch wie der höchste Berg Burjatiens. Zwischen den Städten verkehrende Busse gibt es kaum; inwieweit die Autos offiziell verkehren oder sich nur gerade jemand etwas dazuverdienen möchte, ist nicht ersichtlich; wenn der Fahrgastraum voll oder fast voll ist, geht es los, irgendwann am Morgen oder Vormittag. Hinter dem Pass erwartet uns eine in eine dichte Schneedecke eingehüllte Märchenlandschaft, es scheint die Sonne und ist windstill, vielleicht ein paar Minusgrade, kein Vergleich mit den Härten des sibirischen Winters.
Am Toktogul-Stausee, dem größten seiner Art in Zentralasien, überholen wir einen radfahrenden Italiener – jetzt im Winter ein seltener Anblick, im Sommer ist die Strecke beliebt bei europäischen Extrem-Radlern. Im Süden Kirgistans, wo die Straße ins dicht besiedelte Ferghana-Tal hinabführt, verschwindet der Schnee völlig. Ich muss umsteigen, um weiterzukommen und komme neben einer hübschen, sonnengebräunten Kirgisin zu sitzen, die ein kleines pausbäckiges Kind auf dem Schoß hält. Kindersitz und Gurt sind kein Thema, der Fahrer überholt ungeduldig, so dass ich viel Gelegenheit habe, unseren Gegenverkehr direkt von vorne zu studieren, bevor in letzter Sekunde ausgewichen wird. Der etwa zweijährige Nachwuchs hat eine Packung Kaugummi zur freien Verfügung in der Hand und erbricht sich nach einer kurzen Weile. Ich reiche der Mutter ein Taschentuch und deute vorsichtig an, dass Pfefferminzkaugummis vielleicht keine optimale Kleinkindnahrung seien, außerdem würden vom Zucker auf die Dauer die Zähne schwarz. Die junge Frau nimmt diese neue Information interessiert zur Kenntnis und will ihrem Kind die Packung wegnehmen, worauf es schreit, sie zurückbekommt und zusätzlich noch mit einem Filmchen auf dem Smartphone beruhigt wird.

Südlich der Stadt Osh beginnt der eigentliche Pamirskij Trakt, die bis Dushanbe führende, in westlichen Reiseführers auch Pamir-Highway genannte HochstraßeM41, von den Sowjets durch das Pamir-Gebirge unweit der Grenzen zu China und Afghanistan gebaut; das 1932 fertiggestellte Projekt wurde als bauliche und ideologische Meisterleistung gefeiert, weil damit entlegenste Gebiete an die Zivilisation angeschlossen wurden. Mit ihren über vier Kilometer hohen Pässen ist es die am zweithöchsten gelegene Verkehrsader weltweit überhaupt.
Einen ersten Stopp möchte ich in der Siedlung Gultsha einlegen. Ein geöffnetes Gästehaus gibt es nicht, aber ein junger Mann telefoniert für mich herum und findet schließlich eine Familie, die bereit ist, mich aufzunehmen. Während ich die im Hof stehenden Kästen einiger dutzend Bienenvölker betrachte und einen an der Mauer angebrachten Aushang gefördert durch die Schweizerische Eidgenossenschaft und die Aga-Khan-Foundation lese, ist Staubsaugergeräusch aus dem Haus zu hören. Wenig später werde ich in das extra für mich aufgeräumte Schlafzimmer gebeten, die Familie hat sich in Küche und Wohnzimmer zurückgezogen. Da die Mutter kein Russisch spricht und der Vater außer Haus ist, läuft die Kommunikation über die 13jährige Tochter Nargisa, die es ausgezeichnet beherrscht. Sie erklärt mir, dass der angenehme Geruch in meinem Zimmer vom Räuchern mit Isirik (Steppenraute) kommt. In dem kleinen verputzten Lehmziegel-Haus gibt es kein fließendes Wasser; mit Erstaunen nehme ich die aus der Wand baumelnde 220-Volt-Steckdose mit freiliegenden blanken Drähten zur Kenntnis.
Beim abendlichen Blättern in meinem Tadschikistan-Reiseführer stoße ich auf die Information, dass der von mir anvisierte Grenzübergang nach Tadschikistan bei Karomik für Touristen gesperrt ist. Bleibt der Umweg über den Grenzbergang am Kisil-Art-Pass, was auch heißten würde, den Pamir-Trakt in seiner vollen Länge entlangzufahren. If you are ok with a 16-hours-drive, you can even do it in 3 days, lese ich im Internet – es wird also knapp, denn in vier Tagen geht mein Rückflug von Dushanbe. Ich beschließe, 1000 Som (12 Euro) für die Übernachtung zu geben – zuvor ausgehandelt war kein bestimmter Betrag – und schultere am nächsten Morgen meinen Rucksack.

Der Taldyk-Pass auf dreieinhalb Kilometern Höhe ist atemberaubend; ein Denkmal erinnert an den sowjetischen Erbauer in den 30er Jahren. Mit langsamer Geschwindigkeit donnern Schwerlasttransporter die steilen Serpentinen auf und ab. Die Strecke ist ausgezeichnet asphaltiert, das Werk von Chinesen, wie mir meine Mitfahrer erklären; China hat ein großes Interesse an funktionierenden Verkehrsverbindungen Richtung Westen und sich deshalb um den Ausbau der Strecke gekümmert. In Sary-Tosh reiche ich dem Fahrer 200 Som und steige aus. Wer sich in Kirgistan an die Straße stellt, wird schnell jemanden finden, der einen mitnimmt; am Ende ist es üblich, etwas dafür zu zahlen.
Die Nachmittagssonne scheint hell und durchdringend auf die schneebedeckte Hochebene. Hinter mir liegen die kleinen, weiß gekalkten Häuser von Sary-Tosh, aus deren Schornsteinen dünne Rauchfahnen aufsteigen; in den mit Lehmziegeln errichteten Ställen daneben ducken sich Kühe, Pferde oder Schafe aneinander. In einiger Entfernung ragt der in eisiges Weiß gehüllte Bergrücken des Transalaigebirges in die Höhe, ein Teil des Pamirs, der hier Kirgistan von Tadschikistan trennt, und in diesem der Pik Lenin, einer von fünf Siebentausendern der UdSSR und von diesen der angeblich am leichtesten zu besteigende. Nachdem es mir gelungen ist, eine Horde Kinder abzuschütteln, die dem auffälligen Touristen – um diese Zeit ein seltener Anblick – hinterherliefen, daj konfeti (Gib Süßigkeiten!) riefen und sich dann mit Vergnügen fotografieren ließen, liegt Stille über der winterlichen Einöde, nur unterbrochen vom auf- und abschwellenden Dröhnen der Schwerlasttransporter. Aus dem vor mir an der Weggabelung gelegenen Gebäude, offensichtlich ein Kontrollposten, kommt ein uniformierter junger Mann heraus, mustert mich neugierig und winkt dann, ich solle mal hereinkommen. Teetrinken!
Aus Deutschland? Der junge Polizist gießt mir Tee ein und zeigt auf seinem Handy Bilder von seinen deutschen Freunden, als diese in Kirgistan waren. Offensichtlich freut er sich über die Abwechslung meines Besuches, da seine Aufgabe, die Gewichtskontrolle der vorbeifahrenden Trucks – maximal 44 Tonnen sind erlaubt – nicht allzu spannend ist. Nach Tadschikistan wolle ich fahren, über den Kysyl-Art-Pass? Da bestünde wenig Hoffnung, drei oder vier Autos pro Tag führen dort lang, und die seien auch bis oben hin beladen. Ich lasse mir noch einmal genau zeigen, welcher der in der Ferne thronenden Gipfel der Pik Lenin ist und versuche seinen neuen Namen auszusprechen, der auf meiner tadschikischen Karte verzeichnet ist: Pik Abuali ibni Sino, 7134 Meter, benannt nach einem tadschikischen Gelehrten, der im Westen als Avicenna bekannt ist. Davon habe ich ja noch nie gehört, meint der Polizist, unser Präsident hat festgelegt, dass er Pik Manas heiße. Ob ich Manas kenne, den kirgisischen Volkshelden? 

Es scheint, jedes benachbarte Land hat den Grenzgipfel nach seinem eigenen Helden getauft; ein neuer Lenin, der alle eint, ist nicht in Sicht. Eine Weile stehe ich noch an der Weggabelung herum, betrachte die sich den Bergen nähernde Sonne und verabschiede mich von der Vorstellung, auf dieser Reise noch bis Tadschikistan zu gelangen. Zum Glück hat mein Smartphone auch hier oben Internet, so dass ich einen neuen Rückflug ab Osh buchen kann. Langsam setzt die Abendkälte ein, in Anbetracht der Jahreszeit und Höhe sind die Temperaturen trotzdem geradezu gemütlich. Zurück in Sary-Tosh, steuere ich gerade auf ein Gästehaus zu, als mich ein junger Mann aus einem Auto heraus anspricht. Eingeritzt in den Schmutz seiner noch nie gewaschenen Heckscheibe annonciert er sein Gewerbe: Taxi Kairat und eine Telefonnummer sind dort zu lesen. Ich solle mal einsteigen, hier im Hotel koste die Übernachtung 800 Som, er bringe mich jetzt zu seinem Haus, da könne ich für 500 wohnen.
Die kirgisische Familie, in die ich mitten hineingerate, wohnt in zwei durch eine Öffnung ohne Tür miteinander verbundenen Zimmern. Die Fußböden sind mit Teppichen ausgelegt, an der Wand hängen Teppiche in leuchtenden Farben, ein hoher Stapel Kissen und Decken für die Nacht liegt bereit. Stühle und Tische im europäischen Sinne sehe ich keine. Alle Fenster sind mit Stoffen zugehängt, damit die Kälte nicht hereinkommt. Ainasik, die 17jährige Enkelin, bereitet auf dem großen, weiß gekalkten Kohleofen Plov zu: in Öl gekochter Reis mit Fleisch und Gemüse. Großmutter, die kein Russisch spricht, gießt mir Tee ein, wobei sie die erste ausgegossene Schale zunächst in die Kanne zurückgießt. Man sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden, ein Kissen zwischen Rücken und Wand, das Essen steht auf einem niedrigen, etwa 30cm hohen Tischchen. Der Enkel bietet an, mich eine Runde auf dem Rücken des Pferdes herumzuführen. Nachts wird es draußen eisig kalt, der Sternenhimmel ist fantastisch. In Ofennähe schichtet Ainasik ein Nachtlager aus Decken und Kissen für mich auf. Die junge Frau kann von allen am besten Russisch und erzählt, dass sie bald nach Kasachstan zum Arbeiten geht. Vom Kirgisischen mit den für eine Turksprache typischen vielen Ö´s und Ü´s, das die Familie untereinander spricht, verstehe ich kein Wort. Neben mir kommt der Großvater zu liegen, Jahrgang 36, und schaut skeptisch, ob ich mich auch richtig warm in die Decken hülle.

Sary-Tosh liegt auf drei Kilometern Höhe im Alai-Tal und wurde 1950 für die Wartung des hier verlaufenden Abschnittes des Pamir-Traktes gegründet. Außer Heu für das Vieh wächst hier nichts, Obst und Gemüse muss weiter unten eingekauft werden. Am Ortseingang betrete ich zum ersten Mal einen islamischen Friedhof, manche Gräber mit einem Grabstein, andere mit einem einfachen Holzpfahl, alle mit dem Halbmondsymbol. Die Menschen sind gläubig, die meisten aber eher wohl nur ein bisschen; 80 Jahre lang war schließlich Atheismus angesagt, der sich nicht so schnell abschütteln lässt, auch wenn jetzt mehrmals täglich die Muezzin-Rufe von der Moschee über die Dächer schallen.

Eine Schafherde tritt den abendlichen Heimweg an (oben). So gehts auch: 220V-Steckdose meiner Gastgeber (unten)
Auf dem Taldyk-Pass (3589m). Der Pamir-Trakt wurde hier von China asphaltiert, um den freien Warenfluss zu fördern.(oben) - Kinder in Sary-Tosh lassen sich von dem Touristen gern fotografieren (unten)



Hier endete mein Traum von Tadschikistan auf dieser Reise: der Grenzübergang nach rechts ist für Touristen gesperrt, die Passstraße nach links fuhr niemand entlang (oben). Blick auf das Transalai-Gebirge mit dem Peak Lenin (7134m), der am leichtesten zu besteigende sowjetische Siebentausender (unten)
Teetrinken mit einem kirgisischen Verkehrspolizisten (oben). Zu Gast in Sary-Tosh  (unten)
Video: Der Pamir-Trakt (oben). Ein muslimischer Friedhof (unten)

Sonntag, 28. Januar 2018

Bishkek

Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 1

„Also, Sie haben jetzt folgende Möglichkeiten…“ Der Mitarbeiter der türkischen Pegasus Airline wendet meine wertlos gewordene Bordkarte hin und her und reibt sich die übermüdeten Augen. „Entweder Sie bleiben drei Tage hier in unserem Hotel, bis der nächste Flug nach Duschanbe geht. Oder Sie fliegen morgen Abend um die gleiche Zeit nach Bischkek.“ Mein Flugzeug war mit über einer Stunde Verspätung in Berlin gestartet, weshalb ich in Istanbul den Anschluss knapp verpasst hatte. Bischkek, das mir nun als Alternative angeboten wird, liegt rund tausend Kilometer von Duschanbe entfernt. Ich denke kurz nach und entscheide mich dann für diese Variante – so würde die Reise nicht nach Tadschikistan gehen, sondern ins benachbarte Kirgistan, von wo ich mich dann auf dem Landwege, über Berge und dreitausend Meter hohe Pässe in die tadschikische Hauptstadt Duschanbe begeben könnte. Das klingt spannender, als drei Tage unfreiwillig in Istanbul zu verbringen!

Die Einreise nach Kirgistan ist für EU-Bürger visafrei; man bekommt einen Stempel in den Pass und kann dreißig Tage bleiben. Die Hauptstadt Bishkek trug bis 1991 den Namen des kommunistischen Revolutionärs Frunse, wie auch die Straße in Ulan-Ude, in der ich wohne. Die Architektur hat etwas vertraut-sowjetisches: Stalinscher Klassizismus, monumentale Beton-Ungetüme und große und kleine Denkmäler bekannter und weniger bekannter Kriegs- und Revolutionshelden. Es herrscht angenehmes Spaziergangswetter mit wenigen Minusgraden und dünner Schneedecke, die Orientierung auf den schachbrettartig geradlinig verlaufenden Straßen im Zentrum fällt leicht. Alle Kirgisen, die ich nach dem Weg frage, können ausgezeichnet Russisch. Im sauberen, geräumigen Central Hostel mit gratis W-Lan und Selbstversorgerküche bin ich neben einem tagsüber seinen Rausch ausschlafenden, penetrant schnarchenden Russen und einem indischen Geschäftsmann der einzige Gast. 

Noch am ersten Abend betrete ich die kleine Werkstatt eines Schumachers und bitte um ein paar neue Schnürsenkel für meine Halblederschuhe.
„Ein Gast aus dem Baltikum! Nehmen Sie bitte Platz, ich möchte ein bisschen mit Ihnen sprechen, mir ist sonst langweilig. Was führt Sie denn hierher zu uns?“
Nachdem ich den Irrtum über meine Herkunft aufgeklärt habe, setze ich mich auf das angebotene Höckerchen zwischen Bergen von Schuhen, Leder-, Gummi- und Stoffstücken, Werkzeug und einer  Nähmaschine. Ich erklärte, dass ich eigentlich der Heimat meiner Freundin einen Besuch abstatten wollte, aber einen Anschlussflug verpasst habe und nun sozusagen einen Umweg über Kirgistan zu machen gezwungen sei.
„Ja, die Tadschiken! Ein altes Kulturvolk, gastfreundlich, gläubig und mit langer Schrift- und Literaturtradition! Wie die Usbeken auch. Wir Kirgisen und die Kasachen hingegen waren bis vor kurzem noch Nomaden, Steppenbewohner. Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?“
Während der ältere Mann mit routinierten Bewegungen das Leder für einen Damenstiefel ausschnitt, gab ich meiner Verwunderung über die fehlenden Fußgängerampeln selbst an großen Kreuzungen Ausdruck: wenn die parallel fahrenden Autos Grün haben, gehen die Leute los – den richtigen Zeitpunkt sieht oder ahnt man.
„Wir sind hier nicht in Europa! Gehen Sie mal nach Afrika, da gibt es überhaupt keine Ampeln.“
Ich muss herzlich lachen. Wir tauschen unsere Namen aus: mein Gegenüber heißt Schawbek, ist 63 Jahre alt und kurz vor dem Rentenalter; da von umgerechnet 40 Euro Rente aber niemand leben kann, wird er trotzdem noch weiter arbeiten.
„Was halten die Deutschen eigentlich von Adolf Hitler?“, fragt er und schüttelt, mit meiner Antwort unzufrieden, missbilligend den Kopf.
„Ein großer Führer, der das Volk hinter sich zu einigen verstand! Erobern und erobert werden, das ist nun einmal der Lauf der Menschheitsgeschichte. Übrigens hatte Hitler auch ein Herz für die Kirgisen, lesen Sie mal nach!“
Ungewöhnliche Interpretationen der Nazigeschichte begegnen mir auf Reisen öfters; später werde ich in Erfahrung bringen, was der Schuster meinte: die Faschisten wollten tatsächlich mit den zentralasiatischen islamischen Turkvölkern kooperieren, da sie glaubten, im Bolschewismus und im Judentum  gemeinsame Feinde zu haben. Mit den neuen Schnürsenkeln verlasse ich die Werkstatt des Meisters.

In Bishkek verbringe ich vor der Weiterfahrt über die Berge nach Tadschikistan noch den ganzen nächsten Tag. Von dem kleinen Bahnhof fahren Direktzüge nach Moskau und Jekaterinburg. An den Eingängen in den Fußgängertunnel schaut Dzingis Aitmatov von riesigen Fotos auf die Menschen, darunter seine weisen Zitate. Der 2008 gestorbene Schriftsteller ist vielleicht der bekannteste Kirgise überhaupt, seine Liebesgeschichte „Djamila“ war Pflichtlektüre an DDR-Schulen. Auf einem großen freien Platz halten drei riesige steinerne Halbbögen einen Ehrenkranz, darunter das Ewige Feuer im Andenken an die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges. Eine Frau wärmt sich an der Gasflammme die Hände, Kinder spielen unbekümmert Schneeballschlacht. Am hohen Fahnenmast vor dem mächtigen Betonquadrat des – gerade leider geschlossenen – Nationalmuseums weht die leuchtend rote kirgisische Flagge mit gelbem Sonnensymbol; hoch zu Pferde thront Nationalheld Manas, eine mythische Figur aus dem 9. Jahrhundert, die nach dem Wegfall von Lenin als Identifikationsfigur wiederentdeckt wurde.
In Bishkek gibt es einen kleinen Bahnhof mit Direktzügen nach Moskau und Jekaterinburg. Der Kuppelbau einer riesigen, neuen, noch nicht in Betrieb genommenen Moschee mit vier schlanken, spitzen Türmen nördlich des Zentrums strahlt in glänzendem Weiß. Mehrmals am Tag sind Muezzin-Rufe über der Stadt zu hören; im Gegensatz zu Dushanbe macht das Leben keinen besonders religiös geprägten Eindruck, nicht viele Frauen tragen Kopftücher.
Auch die neuere Zeit findet sich in Denkmäler gegossen wieder. Von ein paar Schülern lasse ich mir die kirgisische Aufschrift auf einem weißen Mauerblock übersetzen, von dem eine empörte Menschengruppe ein schwarzes abgespaltenes Stück hinwegschiebt: das dunkle Vergangene muss weichen, um Platz für eine helle Zukunft zu machen. In den Jahren 2005 und 2010 gab es in Kirgistan blutige Revolutionen, bei denen die als korrupt geltenden Präsidenten gestürzt wurden. Heute ist es das am wenigsten autoritär regierte Land Zentralasiens und als einziges eine parlamentarische und keine präsidentielle Republik.

Schavbek in seiner Werkstatt (oben). Aitmatov vor dem Fußgängertunnel (unten)

Aufwärmen am Ewigen Feuer (oben). Denkmal an die kirgisischen Revolutionen im 21. Jahrhundert (unten)
Manas-Reiterstatue vor dem Nationalmuseum