Sonntag, 31. Januar 2016

Sanitarnyj kontrol, Utshonnyj sovjet und Morin chur



Am Grenzübergang von der Mongolei nach Russland, schon auf der russischen Seite, betrat eine Frau mit einem föhnartigen Gegenstand in der Hand unseren Bus. „Santiarnyj kontrol“, sagte sie, Gesundheitskontrolle. „Tote haben wir nicht an Bord“, spaßte der Busfahrer, aber die Dame war nicht zum Scherzen aufgelegt, sondern schritt durch den Gang und fixierte die Gesichter aller Reisenden für jeweils ein paar Sekunden mit ihrem merkwürdigen Gegenstand. Es sei eine Infrarotkamera, erklärte mir meine Sitznachbarin, auf diese Weise würde gemessen, ob nicht jemand Fieber habe, hinter dem sich eine ansteckende Krankheit verberge. Vor meinem Gesicht verweilte sie ungewöhnlich lange. Vielleicht war es gar keine Infrarotkamera, sondern ein neuer vom FSB entwickelter Gesinnungstester, der Gedanken lesen kann und auf diese Weise ausländische Spione und Agenten enttarnen soll. Wahrscheinlich hat die Dame auf ihrem Monitor erkannt, dass ich durchaus Verständnis für die russische Position in der Krim-Frage habe und mich deshalb wieder einreisen lassen.
Inzwischen bin ich schon wieder fast eine Woche hier, habe gemeinsam mit einer Kollegin eine weitere Schule besucht, um neue Studenten für den September anzuwerben und mir am Freitag meine Krawatte umgebunden und das beste Jackett angezogen, um vor dem Utshonnyj sovjet, dem Wissenschaftlichen Rat der Universität, aufzutreten. Ich hatte acht Minuten Zeit, um vor dem versammelten Plenum einschließlich Rektor meine Tätigkeit und die meiner Organisation vorzustellen, mit PowerPoint-Präsentation und natürlich auf Russisch – entsprechend war ich aufgeregt, habe es aber dank gründlicher Vorbereitung gut gemeistert. „Um zum Studium nach Deutschland zu gehen, muss man gute deutsche Sprachkenntnisse mitbringen,“ sagte ich, „und es wäre sehr wünschenswert, wenn auch die Studenten naturwissenschaftlicher Fächer die Möglichkeit hätten, statt Englisch Deutsch als Fremdsprache auszuwählen. Dann stehen ihnen viele Wege nach Deutschland offen.“ Das war nicht ganz die Wahrheit, denn gerade Naturwissenschaften kann man in Deutschland auch prima auf Englisch studieren. Ich unterstützte aber auf diese Weise meine Kollegen im Kampf um ihre Arbeitsplätze: sie wollen erreichen, dass als Pflicht-Fremdsprache für Studenten aller Fächer statt Englisch auch Deutsch gewählt werden kann.
Gestern habe ich das Museum der Geschichte Ulan-Udes besucht. Es befindet sich in einem schicken kleinen Holzgebäude in der Fußgängerzone, in welchem 1891 der Zarewitsch Nikolai II. weilte, als er die Stadt Werchneudinsk, wie sie damals hieß, auf seinem Rückweg von Wladiwostok besuchte. Der Raum in der oberen Etage erinnerte eher an einen Flohmarkt als an ein Museum. Verschiedene ältere Gegenstände stapelten sich auf Tischen und in Schränken, um meine Füße streifte die aus einer Truhe hervorgekrochene Museumskatze. – Einmal in Ausstellungslaune, ging ich anschließend ein paar Straßen weiter in die Städtische Bildergalerie. Nach dem Ticketkauf an der Kasse begleitete mich eine Mitarbeiterin durch den langen Gang, um mir den Beginn der Besichtigungsrunde zu zeigen. Wortlos liefen wir zehn Schritte nebeneinander her, dann sagte sie plötzlich: „Sie kommen aus Deutschland, nicht wahr?“ Anerkennend fragte ich sie, wie sie denn das gemerkt habe, da sie doch meinen Akzent gar nicht gehört habe? „Das sieht man sofort. Wenn Franzosen zu uns kommen – die bewegen sich ganz anders. Amerikaner – wieder total verschieden.“ Das nenne ich Menschenkenntnis! – In einer großen Halle neben der Kasse hatte ein Pelzmantel-Discounter seine Stände aufgebaut. Pelz ist hier total in, etwa jede dritte Frau trägt im Winter einen schicken Nerz oder Zobel.
Abends besuchte ich zum ersten Mal eine öffentliche Banja. Sie „Sauna“ zu nennen, trifft es wohl nicht ganz richtig – es ist eher eine Art Waschanstalt mit einem feuchten Dampfraum als Herzstück. Die Abteile für Männer und Frauen sind in Russland stets getrennt, was aber weibliches Personal (alte Mütterchen) nicht daran hindert, in der Herrengarderobe umherzuspazieren. Hinter der Garderobe kommt der große Dusch- und Waschraum und nach diesem die Dampfkammer. Hier duftet es nach Eichenlaub von den Wjeniki genannten Banja-Besen, mit denen man sich abklopft. Man steigt ein paar Stufen empor und gelang auf eine Art kleine Holzterrasse mit Sitzbänken. Rechts neben dem Eingang auf dem Ofen liegen glühende Steine, über die bei Bedarf Wasser gegossen wird. Nach einer kurzen Weile in der gnadenlosen Hitze kam ein breiter Mann herein, schnell die Tür hinter sich schließend, damit die Temperatur auf keinen Fall absinkt. „Ich gebe mal noch bisschen was drauf, gut?“, meinte er und griff zur Wasserkelle. „Naja…“, brachte ich unsicher hervor. „Nje náda!“, rief ein kleinerer Junge neben mir, „nicht nötig!“ – „Ach was, gewöhn dich mal dran“, war die Antwort, und ich hörte das Wasser auf den Steinen zischen, den Raum in höllisch heißen Dampf hüllend und mir ein hilfloses Stöhnen entlockend. So stelle ich mir die Katharsis vor, das die Seele reinigende Fegefeuer nach dem Tode. Die Banja reinigt als kleiner Vorgeschmack darauf schonmal den Körper. – Kurz bevor ich die Besinnung verlor, verließ ich den Dampfraum, schockte mich kurz unter der kalten Dusche und ruhte mich ein paar Minuten aus, um bereit zu sein für die zweite Fegefeuer-Runde.
Heute habe ich mich mit Jascha getroffen, ein Reklamefachmann, der eine kleine private Englisch-Sprachschule betreibt, was aber nicht der Grund für unsere Begegnung war: Jascha spielt Morin-Chur, Pferdekopfgeige, das traditionelle mongolische Volksinstrument schlechthin und auch in Burjatien verbreitet. Er zeigte mir die Grundlagen des Spiels und lieh mir ein Instrument für zuhause aus. Die Morin-Chur, oben verziert mit einem geschnitzen Pferdekopf, wird gestrichen mit einem Bogen und gehalten wie ein Cello, hat aber ansonsten mit letzterem nicht viel gemeinsam: die zwei Saiten bestehen aus vielen einzelnen Nylonfäden (früher Pferdeschweifhaare) und werden zur Seite gedrückt, nicht nach unten aufs Griffbrett. Ihre Stimmung ist F und B, wobei die tiefere Saite interessanterweise die vom Spieler aus gesehen linke ist. Jetzt steht neben meinem Cello eine Pferdekopfgeige, mal schauen, was ich ihr für Melodien entlocken kann.

Das Museum der Geschichte von Ulan-Ude
Meine ersten Töne auf einer Morin chur (Pferdekopfgeige)

Dienstag, 26. Januar 2016

Mongolei



Während in Russland darüber diskutiert wird, ob und inwiefern die 200 Jahre Besetzung durch die Mongolen (das „Joch der Tataren“) nun daran schuld sind, dass das Land den Anschluss an die westeuropäische Zivilisation verpasst hat, ist man in der Mongolei stolz auf die eigene große Vergangenheit. Das größte Staatengebilde in der Geschichte der Menschheit war das Mongolenreich unter der Führung von Dschingis Khan, Völker und Länder wurden unter seiner starken Hand geeint! Etwa 50 Kilometer außerhalb von Ulan-Bator steht sein Denkmal, die größte Reiterstatue der Welt, begehbar und mit tollem Ausblick in die schneebedeckte Weite. Die zweite Station meiner Privatexkursion war der Tereldzh-Nationalpark, dessen Felsformationen mich an die Sächsische Schweiz erinnerten, nicht umsonst heißt der Ort auch die „Mongolische Schweiz“. „Mein“ Fahrer, den ich einen Tag lang sozusagen gemietet hatte, wartete in seinem Toyota Landcruiser geduldig, bis ich genug davon hatte, zwischen den Felsen herumzuklettern. Ein wenig schade fand ich, dass er keine Fremdsprachen konnte; ich hätte mir jemanden gewünscht, der mir etwas zur Landschaft erzählt.
Kühe, Ziegen- und Schafsherden, Pferde, Leute mit Schlittenhunden auf einem vereisten Fluss, ein durch die Landschaft trottendes Kamel (!) – das Leben in der Mongolei ist eng mit dem Vieh verbunden. Außer gelegentlich ein paar Jurten oder kleine Häuser, den Tieren und einer schnurgeraden Straße sieht man außerhalb der Stadt nicht viel anderes, das Ganze vor dem Hintergrund einer überwältigenden, geradezu unendlichen Naturkulisse. Die Mongolei hat drei Millionen Einwohner, ist aber fünfmal so groß wie Deutschland – ein bemerkenswertes, kaum fassbares Land.

Das mongolische Geld heißt Tugrik, 2200 Tugrik sind zurzeit 1 Euro
Die größte Reiterstatue der Welt: Dschingis Khan in der mongolischen Steppe
Die Felsen im Tereldzh-Nationalpark erinnern entfernt an die Sächsische Schweiz
"Chunsnij delguur" (Lebensmittelgeschäft) und "Tsainy gazar" (Teestube) - die am häufigsten zu lesenden Worte an Gebäuden
Hier beginnt Ulan-Bator

Ulan-Bator

Für die Busfahrt von Ulan-Ude nach Ulan-Bator hatte ich mir extra einen Fensterplatz geben lassen und war enttäuscht, dass ich trotzdem nichts sehen konnte – die Scheibe war von innen mit einer dünnen, festen, undurchsichtigen Eisschicht bedeckt. Mit dem Fingernagel kratzte ich mir gelegentlich ein kleines Sichtfenster frei, um einen Blick in die weiße, weite, menschenleere Landschaft zu erhaschen, die wir durchfuhren. Nach wenigen Minuten war mein Fensterchen schon wieder von Kondenswasser bedeckt, das sich schnell in Eis verwandelte, und ich musste nachkratzen oder auf die Aussicht verzichten.
Die Abfertigung an der russisch-mongolischen Grenze dauerte fast zwei Stunden. Alle Passagiere mussten aussteigen, ihr komplettes Gepäck nehmen und durch die russische Zollabfertigung gehen, wo es durchleuchtet wurde. Dann ging es zur Passkontrolle. Danach Gepäck einladen, in den Bus steigen, dieser fuhr hundert Meter, und dann das gleiche Spiel auf der mongolischen Seite: Gepäck ausladen, Zollabfertigung, Passkontrolle – seit einiger Zeit können Russen und EU-Bürger visafrei in die Mongolei einreisen, man bekommt einen Einreisestempel und darf bis zu 30 Tagen bleiben.
„Ulaan“ heißt auf mongolisch „rot“. Was „Ude“ bedeutet, ist nicht so ganz klar. „Baatar“ heißt „Held“. Die mongolische Hauptstadt ist also der „Rote Held“, und sie hat diesen Namen erst nach der Ausrufung des Kommunismus in der Mongolei in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bekommen. In Ulan-Bator war ich zu Gast bei meinem deutschen Kollegen Christian, der ebenso wie ich Deutsch unterrichtet, allerdings nicht nur an einer, sondern gleich an zwei Universitäten. In seiner luxuriösen Wohnung in einem Neubau im Zentrum standen zwei merkwürdige weiße große Kästen herum. Was ist denn das hier, fragte ich ihn und deutete auf die fast hüfthohen Apparate, die mir wie eine Mischung aus Mini-Waschmaschine und futuristischem Staubsauger vorkamen. „Das sind Raumluft-Reiniger“, meinte Christian, „hast Du denn nichts gemerkt?“ Er führte mich auf den Balkon, und da roch ich es deutlich: die Luft war gesättigt von einem leichten, aber durchdringenden Verbrennungsduft, so ähnlich wie der Waldbrandgeruch in Ulan-Ude im letzten Sommer, aber irgendwie abgasartiger, chemischer. Am Stadtrand von Ulan-Bator stehen zehntausende von Jurten, die mit allem Möglichen beheizt werden, erklärte mir mein Gastgeber, mit Kohle, Holz, Plastik und sonstigem Müll, und die Abgase bleiben als Dunstglocke über der im Tal gelegenen Stadt stehen. Einige der Jurten sind sogar direkt im Zentrum, zum Beispiel hier vor unserer Nase – und tatsächlich, zwischen den Hochhäusern eingequetscht stand eine der weißen, runden Behausungen, aus deren Schornstein dicker grauer Rauch quoll.
Bei minus fünfundzwanzig Grad machte ich mich am nächsten Vormittag auf zum Stadtbummel. Mit gläsernen Hotelburgen und breiten, sechsspurigen Hauptstraßen wirkt Ulan-Bator im Zentrum sehr großstädtisch und modern. Vor dem Parlamentsgebäude sitzt in gigantischer Breite, buddhagleich thronend, Dschingis-Khan, ihm gegenüber auf einem Pferd Suchbaatar, der kommunistische Staatsgründer der Mongolei, dem das Land 1921 seine Unabhängigkeit von China verdankt. Im größten Tempel der Gandan-Kloster-Anlage steht eine über 20 Meter hohe vergoldete Figur einer indischen vierarmigen Gottheit. In dem Gebäude herrschten Minusgrade und geheimnisvolles Halbdunkel, erhellt durch viele Kerzen; aus Räucherschalen drang von einem grünen Pulver hervorgerufener leckerer Weihrauch-Duft.
Bei solchen Temperaturen ist das regelmäßige Aufwärmen in einem Imbiss ein Muss, und wenn es nur für das Schlürfen von einer Tasse Tee ist. Üblich in der Mongolei ist grüner Tee mit Milch, Fett und Salz. Überhaupt ist die mongolische Küche fettig, fleischig und quarkig, ich habe es durchaus genossen: leckere Schafsfleisch-Nudel-Suppe, Salatblättchen, eingerollt in dünne Pferdefleisch-Scheibchen oder flüssiger, süßlicher Quark… wieder ganz anders als russische Speisen. Im Supermarkt sind mir deutsche „Gut und Günstig“-Produkte (von Edeka), russische Butter, türkische Schokolade und polnische Nussmischungen aufgefallen, die Mongolei produziert außer Milch und Fleisch fast keine Lebensmittel. Der Verkauf von Zigaretten ist offiziell verboten (!!), diese werden nur auf Nachfrage unter der Theke hervorgeholt.
Beeindruckt hat mich die Fortbewegung in Ulan-Bator: man stellt sich an die Straße und hält die Hand heraus – keine dreißig Sekunden später hält ein Auto an, dessen Fahrer sich gerade etwas dazuverdienen möchte, und bringt einen für wenige Geld zum gewünschten Ort. Christian und ich machten einen Ausflug zum Sowjetischen Ehrenmal am Stadtrand, wo ein Panzer steht und der Kampfesfreundschaft des russischen und mongolischen Volkes gedacht wird. Die Mongolei war fast so etwas wie eine Sowjetrepublik, ein Satellitenstaat der UdSSR; Opernhaus und Theater sowie viele der Plattenbauten haben russisches Flair und könnten genausogut auch hier in Ulan-Ude stehen.
Wenn ich auch außer „Guten Tag“ (Säänbäänuu) und „Danke“ (Bajertla) kein Wort Mongolisch verstehe, so hat mir doch die vertraute Schrift das Zurechtfinden erleichtert: die Mongolen benutzen das kyrillische Alphabet, erweitert um zwei Vokalbuchstaben. Die Mongolei ist angeblich das Land mit dem in ganz Asien prozentual höchsten Anteil an Menschen, die Deutsch gelernt haben – Ergebnis der engen Verbindungen zur DDR. Die jungen Damen auf der Post konnten gut Englisch. Da die meisten Leute keinen Briefkasten haben, gibt es einige Wände mit kleinen, nummerierten Fächern, von denen man seine Briefe abholt. - Ein ausgezeichnetes, fast muttersprachlich perfektes Deutsch sprach Christians mongolische Kollegin Sarnai, eine ganz wache, drahtige Frau, 40 Jahre alt, aber 10 Jahre jünger aussehend. „Du solltest auch etwas vom Land sehen“, meinte sie, „Ulan-Bator ist noch längst nicht die Mongolei!“ Sie bot sich an, mir einen Fahrer zu organisieren, der mich für 100000 Tugrik – umgerechnet knapp 50 Euro – einen Tag lang umherfahren und zu einigen besonderen Orten im Umland der Hauptstadt bringen würde.

Mühsam freigekratzt: Aussicht aus dem vereisten Busfenster
Zwei Deutschlehrer in Ulan-Bator: Mongolin Sarnai (links) und Christian, mein Gastgeber (rechts)
Eine qualmende Jurte im Stadtzentrum
Leben im Abgasdunst: Zwei Raumluft-Reiniger
Fettig, fleischig, milchig: die mongolische Küche mit Pferdefleisch-Häppchen (oben links), Lammfleisch-Nudel-Suppe und Grüntee mit Milch, Fett und Salz
Liebeserklärung auf Mongolisch: Stein-Herz auf dem vereisten Fluss
Leben ohne Briefkasten: wer will, bekommt ein Fach auf der Hauptpost
Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit: das Sowjetische Ehrenmal mit Aussicht
Blick auf die Berge am nördllichen Stadtrand
Nasenspitzen-Abfriergefahr: Stadtbummel bei minus 25 Grad
Buddha-ähnlich thront Dschingis Khan (unten) vor dem Parlamentsgebäude (oben)
Das Gandan-Kloster ist Hauptsitz des mongolischen Buddhismus
Blick durch den städtischen Dunst zum Kloster