Am Grenzübergang von der Mongolei
nach Russland, schon auf der russischen Seite, betrat eine Frau mit einem
föhnartigen Gegenstand in der Hand unseren Bus. „Santiarnyj kontrol“, sagte sie, Gesundheitskontrolle. „Tote haben
wir nicht an Bord“, spaßte der Busfahrer, aber die Dame war nicht zum Scherzen
aufgelegt, sondern schritt durch den Gang und fixierte die Gesichter aller
Reisenden für jeweils ein paar Sekunden mit ihrem merkwürdigen Gegenstand. Es
sei eine Infrarotkamera, erklärte mir meine Sitznachbarin, auf diese Weise
würde gemessen, ob nicht jemand Fieber habe, hinter dem sich eine ansteckende
Krankheit verberge. Vor meinem Gesicht verweilte sie ungewöhnlich lange. Vielleicht
war es gar keine Infrarotkamera, sondern ein neuer vom FSB entwickelter
Gesinnungstester, der Gedanken lesen kann und auf diese Weise ausländische
Spione und Agenten enttarnen soll. Wahrscheinlich hat die Dame auf ihrem
Monitor erkannt, dass ich durchaus Verständnis für die russische Position in
der Krim-Frage habe und mich deshalb wieder einreisen lassen.
Inzwischen bin ich schon wieder
fast eine Woche hier, habe gemeinsam mit einer Kollegin eine weitere Schule
besucht, um neue Studenten für den September anzuwerben und mir am Freitag
meine Krawatte umgebunden und das beste Jackett angezogen, um vor dem Utshonnyj sovjet, dem Wissenschaftlichen
Rat der Universität, aufzutreten. Ich hatte acht Minuten Zeit, um vor dem
versammelten Plenum einschließlich Rektor meine Tätigkeit und die meiner
Organisation vorzustellen, mit PowerPoint-Präsentation und natürlich auf
Russisch – entsprechend war ich aufgeregt, habe es aber dank gründlicher
Vorbereitung gut gemeistert. „Um zum Studium nach Deutschland zu gehen, muss
man gute deutsche Sprachkenntnisse mitbringen,“ sagte ich, „und es wäre sehr
wünschenswert, wenn auch die Studenten naturwissenschaftlicher Fächer die
Möglichkeit hätten, statt Englisch Deutsch als Fremdsprache auszuwählen. Dann
stehen ihnen viele Wege nach Deutschland offen.“ Das war nicht ganz die
Wahrheit, denn gerade Naturwissenschaften kann man in Deutschland auch prima
auf Englisch studieren. Ich unterstützte aber auf diese Weise meine Kollegen im
Kampf um ihre Arbeitsplätze: sie wollen erreichen, dass als
Pflicht-Fremdsprache für Studenten aller Fächer statt Englisch auch Deutsch
gewählt werden kann.
Gestern habe ich das Museum der
Geschichte Ulan-Udes besucht. Es befindet sich in einem schicken kleinen
Holzgebäude in der Fußgängerzone, in welchem 1891 der Zarewitsch Nikolai II.
weilte, als er die Stadt Werchneudinsk,
wie sie damals hieß, auf seinem Rückweg von Wladiwostok besuchte. Der Raum in
der oberen Etage erinnerte eher an einen Flohmarkt als an ein Museum.
Verschiedene ältere Gegenstände stapelten sich auf Tischen und in Schränken, um
meine Füße streifte die aus einer Truhe hervorgekrochene Museumskatze. – Einmal
in Ausstellungslaune, ging ich anschließend ein paar Straßen weiter in die Städtische
Bildergalerie. Nach dem Ticketkauf an der Kasse begleitete mich eine
Mitarbeiterin durch den langen Gang, um mir den Beginn der Besichtigungsrunde
zu zeigen. Wortlos liefen wir zehn Schritte nebeneinander her, dann sagte sie
plötzlich: „Sie kommen aus Deutschland, nicht wahr?“ Anerkennend fragte ich sie,
wie sie denn das gemerkt habe, da sie doch meinen Akzent gar nicht gehört habe?
„Das sieht man sofort. Wenn Franzosen zu uns kommen – die bewegen sich ganz
anders. Amerikaner – wieder total verschieden.“ Das nenne ich Menschenkenntnis!
– In einer großen Halle neben der Kasse hatte ein Pelzmantel-Discounter seine
Stände aufgebaut. Pelz ist hier total in,
etwa jede dritte Frau trägt im Winter einen schicken Nerz oder Zobel.
Abends besuchte ich zum ersten
Mal eine öffentliche Banja. Sie
„Sauna“ zu nennen, trifft es wohl nicht ganz richtig – es ist eher eine Art
Waschanstalt mit einem feuchten Dampfraum als Herzstück. Die Abteile für Männer
und Frauen sind in Russland stets getrennt, was aber weibliches Personal (alte
Mütterchen) nicht daran hindert, in der Herrengarderobe umherzuspazieren.
Hinter der Garderobe kommt der große Dusch- und Waschraum und nach diesem die
Dampfkammer. Hier duftet es nach Eichenlaub von den Wjeniki genannten Banja-Besen, mit denen man sich abklopft. Man
steigt ein paar Stufen empor und gelang auf eine Art kleine Holzterrasse mit
Sitzbänken. Rechts neben dem Eingang auf dem Ofen liegen glühende Steine, über
die bei Bedarf Wasser gegossen wird. Nach einer kurzen Weile in der gnadenlosen
Hitze kam ein breiter Mann herein, schnell die Tür hinter sich schließend,
damit die Temperatur auf keinen Fall absinkt. „Ich gebe mal noch bisschen was
drauf, gut?“, meinte er und griff zur Wasserkelle. „Naja…“, brachte ich
unsicher hervor. „Nje náda!“, rief
ein kleinerer Junge neben mir, „nicht nötig!“ – „Ach was, gewöhn dich mal
dran“, war die Antwort, und ich hörte das Wasser auf den Steinen zischen, den
Raum in höllisch heißen Dampf hüllend und mir ein hilfloses Stöhnen entlockend.
So stelle ich mir die Katharsis vor,
das die Seele reinigende Fegefeuer nach dem Tode. Die Banja reinigt als kleiner
Vorgeschmack darauf schonmal den Körper. – Kurz bevor ich die Besinnung verlor,
verließ ich den Dampfraum, schockte mich kurz unter der kalten Dusche und ruhte
mich ein paar Minuten aus, um bereit zu sein für die zweite Fegefeuer-Runde.
Heute habe ich mich mit Jascha
getroffen, ein Reklamefachmann, der eine kleine private Englisch-Sprachschule
betreibt, was aber nicht der Grund für unsere Begegnung war: Jascha spielt Morin-Chur, Pferdekopfgeige, das
traditionelle mongolische Volksinstrument schlechthin und auch in Burjatien
verbreitet. Er zeigte mir die Grundlagen des Spiels und lieh mir ein Instrument
für zuhause aus. Die Morin-Chur, oben verziert mit einem geschnitzen
Pferdekopf, wird gestrichen mit einem Bogen und gehalten wie ein Cello, hat
aber ansonsten mit letzterem nicht viel gemeinsam: die zwei Saiten bestehen aus
vielen einzelnen Nylonfäden (früher Pferdeschweifhaare) und werden zur Seite
gedrückt, nicht nach unten aufs Griffbrett. Ihre Stimmung ist F und B, wobei
die tiefere Saite interessanterweise die vom Spieler aus gesehen linke ist.
Jetzt steht neben meinem Cello eine Pferdekopfgeige, mal schauen, was ich ihr
für Melodien entlocken kann.
Das Museum der Geschichte von Ulan-Ude |
Meine ersten Töne auf einer Morin chur (Pferdekopfgeige) |