Samstag, 22. April 2017

Abakan

Die Strecke von Ulan-Ude nach Krasnojarsk ist auf der Karte gut ersichtlich. Abakan liegt südlich der Transsibirischen Eisenbahn-Trasse am linken Kartenrand

Krasnojarsk, die zweitgrößte Stadt Sibiriens, hat bei bestimmten Wetterlagen ein Luftproblem: die Abgaswolke des zweitgrößten russischen Aluminiumwerkes liegt über den Häusern. Vor kurzem war die Luft zum Erstaunen der Einwohner eines Morgens plötzlich sauber. Die Freude währte nicht lange: nach zwei Tagen roch es wieder wie üblich. Es stellte sich heraus, dass Waldimir Putin zu Gast war und man anlässlich seines Besuches die Aluminiumproduktion heruntergefahren hatte, um den Schadstoffausstoß zu minimieren. Seitdem wünschen sich die Krasnojarsker nichts sehnlicher, als dass der Präsident möglichst oft vorbeikommt oder sogar seinen Arbeitsplatz von Moskau in ihre Stadt verlegt.
Aufgrund der geografischen Lage im Zentrum der Sowjetunion war Krasnojarsk eine streng geheime, für Ausländer gesperrte Stadt mit Rüstungs- und Atomindustrie in Stadtteilen, die auf Karten nicht einmal eingezeichnet waren. Durch das Zentrum strömt in majestätischer Breite der Jennisej, auf einem Hügel steht ein kleines Kapellchen, in ganz Russland bekannt dadurch, dass es auf dem 10-Rubel-Schein abgebildet ist. In anderen Gegenden Russlands längst durch eine Münze ersetzt, ist der 10-Rubel-Schein hier noch in großer Menge im Umlauf, als ob sich die Krasnojarsker schwer von ihm trennen können.
Im Nationalpark Stolby am Stadtrand ragen markante Granitfelsen aus dem Nadelwald der Taiga empor, die entfernt an das Elbsandsteingebirge erinnern. Ganz nach europäischer Manier ist der Nationalpark von einem gut ausgeschilderten Wegenetz mit genauen Meterangaben durchzogen, Familien verbringen am Wochenende den Nachmittag in der Natur, einige Freaks beklettern die Felsen.
Im Dritte-Klasse-Wagen von Krasnojarsk nach Abakan finde ich mich neben zwei angetrunkenen Schluckspechten wieder, die, kaum Platz genommen, als erstes zur Bierflasche greifen. Die strenge Dame mir gegenüber beschwert sich bei der Wagenbegleiterin, man solle sie am besten gleich rauswerfen, noch ehe der Zug abfährt. Als die Provodnitsa nach Abfahrt endlich vorbeikommt, steht nur noch eine Flasche mit bierfarbener Flüsigkeit, aber einem Saftetikett auf dem Tisch. „Sie wollen keinen Ärger, und ich will auch keinen Ärger“, redet sie in großmütterlichem Ton auf die beiden Alkoholiker ein, „bleiben Sie am bitte ruhig sitzen, laufen Sie nicht herum, morgen früh sind sie schon zuhause, dann feiern Sie weiter.“

Abakan, eine Nachtzugfahrt südlich von Krasnojarsk gelegen: eine ordentliche, aufgeräumte Stadt mit schnurgeraden Straßen und ohne die in Ulan-Ude üblichen, rudelweise umherstrolchenden Straßenhunde. Lenin in nachdenklich sitzender Pose, ein paar Straßen weiter ein großes Denkmal an die von Stalin erschossenen „Volksfeinde“. Abakan ist die Hauptstadt der Republik Chakassien, etwa so groß wie Bayern, in deren menschenleerer Wildnis die Lykovs entdeckt wurden, eine Altgläubigenfamilie, die 1978 von Geologen zufällig beim Überfliegen mit dem Hubschrauber aufgespürt worden war und die seit Jahrzehnten ohne jeglichen Kontakt zur Zivilisation gelebt hatte; auf Deutsch ist die Geschichte als Buch unter dem Titel „Die Vergessenen der Taiga“ erschienen.
Eine hervorragend asphaltierte Straße – kein Vergleich mit den burjatischen Holperpisten – geht  durch die kahle Steppe und entlang des hier noch ganz schmalen Jennisej nach Süden bis in eine Schlucht, wo sich dem Betrachter ein technisches Wunderwerk allerersten Ranges darbietet: links und rechts von steilen Hängen flankiert, erhebt sich eine gigantomanische Staumauer in die Höhe, das Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerk, größtes seiner Art in Russland. Die Höhe des Dammes kann sich fast mit der Größe des Eifelturmes messen. Aus Sicherheitsgründen kommt man nicht näher als einen Kilometer heran, ganz zu schweigen von einem Spaziergang auf der Staumauer. 2009 gab es hier die größte Katastrophe in der Geschichte der russischen Hydroenergetik; bei einem Wassereinbruch in den Maschinenraum kamen 75 Menschen ums Leben. Seitdem steht ein winziges Kapellchen am Fuße des Beton-Ungeheuers.
Heute, am 22. April, ist der Geburtstag von Wladimir Iljitsch Uljanov, genannt Lenin. Im Dorf Schúschenskoje am Jennisej lebte er drei Jahre in der Verbannung, davon zwei mit seiner Frau Nadezhda Krúpskaja. Heute ist dort ein großes Freilichtmuseum, das sich sichtlich darum bemüht, neben Lenin noch andere Akzente zu setzen und über das russische Dorfleben zur Zarenzeit zu berichten. An der Kasse liegt ein deutschsprachiges Büchlein mit dem Titel „Lenin-Gedenkstätten in Sibirien“ zum Kauf aus. „Die Jugendjahre Wladimir Uljanovs fielen in die Jahre des Wütens der Reaktion in Rußland“, erfährt der Leser. „Die Weltanschauung des jungen Lenin bildete sich unter der Einwirkung der revolutionär-demokratischen Literatur und des Kontakts mit Menschen verschiedener Schichten und Klassen heraus.“ Moment, wo sind wir denn nun gelandet? Ein Blick auf das Herausgabedatum hilft weiter: 1988. In Russland existieren die Epochen und Systeme nebeneinander, wo in Deutschland aufgearbeitet und aufgeräumt wird, ragt hier das Vergangene ungetrübt in die Gegenwart hinein. Hier ein Denkmal an die Opfer politischer Repressionen, dort Diskussionen über die Errichtung eines Stalin-Denkmals. Rückbesinnung auf die Zarenzeit, Heiligsprechung von Nikolai II. und Wiederaufleben des orthodoxen Glaubens versus Sowjetnostalgie und Sehnsucht nach der alten Größe, nach kostenloser Medizin und Bildung. Sind hundert Jahre Oktoberrevolution im Jahre 2017 ein Grund zu feiern? Oder war nicht der Zar doch noch ein bisschen besser als Lenin? Die Frage bleibt offen.
Mit einem roten Pionierhalstuch als Souvenir im Gepäck begebe ich mich auf die Rückfahrt nach Ulan-Ude. Der Zug nach dem Umstieg in Krasnojarsk erweist sich als genau der gleiche wie auf der Hinfahrt. Während ich in Abakan einige Tage am Deutsch-Lehrstuhl der Chakassischen Staatlichen Universität zugebracht hatte, war er einmal nach Moskau und zurück gefahren.

Die Felsen des Nationalpark Stolby bei Krasnojarsk erinnern entfernt an das Elbsandsteingebirge
Lenin in Abakan - nachdenklich sitzend
Ein ausgestopftes Exemplar des Deutschenfressers (rus. Njemtsojéd) im Abakaner Heimatkundemuseum. Eine Züchtung aus Stalins Geheimlabor, an mehreren Stellen in Russland ausgewildert. Die Opfer - ausschließlich Deutsche - werden anhand bestimmter Pheromonausdünstungen erkannt und bevorzugt bei Einbruch der Dunkelheit angefallen
Die 242 Meter hohe Staumauer des Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerks am Jennisej (oben). Seit der Katastrophe 2009 steht eine kleine Kapelle am Fuße (unten)
Forellenzucht im Jennisej
Schúschenskoje - hier lebte Lenin drei Jahre in der Verbannung

Sonntag, 16. April 2017

Erster Klasse nach Krasnojarsk

Am Morgen des 15. April bestieg ich den Zug «001M Россия» nach Krasnojarsk, um von dort aus nach einem Umstieg weiter nach Abakan zu fahren, wohin mich der dortige Deutsch-Lehrstuhl eingeladen hatte. Die Fahrt von Ulan-Ude nach Krasnojarsk dauert ziemlich genau 24 Stunden. An Bord erwartete mich ein luxuriöses Zweier-Abteil mit bereits bezogenen Betten, einer per Magnetkarte von außen verschließbaren Tür, Zeitungen und Porzellantassen auf dem Tisch, Leselampe, Kleiderbügeln und Steckdosen. Die Zugbegleiterin sprach mich freundlich mit Vornamen an und klappte die in Kopfhöhe angebrachten türkis leuchtenden Polster nach oben, um mir die Fächer mit Handtüchern und einem eingeschweißten Set mit Pantoffeln, Zahn- und Schuhbürste zu zeigen. Kurz nach der Abfahrt wurde meine Bestellung für das im Preis inbegriffene Abendessen aufgenommen.
Der Zug zuckelte in gemütlichem Transsib-Tempo zunächst am Ufer des Baikalsees vorbei nach Irkutsk. Die Wasserfläche ist Mitte April noch immer komplett zugefroren, wenn auch das Eis an der Oberfläche von der Sonne stark angetaut ist, auch an den Rändern unmittelbar am Ufer ist es stellenweise verschwunden. Trotzdem gehen noch immer Eisangler ihrem Handwerk nach. Ich genoss die Landschaft und las nebenbei etwas über den Zug, in dem ich mich befand:

Was sind schon die Exotik tropischer Inseln oder europäische Sehenswürdigkeiten – kleine Fleckchen Erde – gegenüber der russischen Weite? Nur aus dem Fenster des Zuges „Rossija“ kann man die atemberaubenden Maßstäbe Russlands und die Gewalten Sibiriens wirklich schätzen.
Der Zug Nr. 1 „Rossija“ fährt die 9288 Kilometer von Wladiwostok nach Moskau in 145 Stunden und hält zwischendurch auf 59 Stationen. Er verkehrt jeden zweiten Tag. Unterwegs wird 9 Mal die Lokomotive gewechselt...

Ich überlegte gerade, wie viele von den Lokwechseln uns auf dem von mir bereisten kurzen Streckenabschnitt wohl betreffen würden (vielleicht einer?), als nach höflichem Klopfen eine der beiden Zugbegleiterinnen des Wagens zu mir ins Abteil kam, die in Zivil, die gerade keinen Dienst hatte. Ich möchte doch bitte meinen Koffer von dem zweiten Bett herunternehmen, in Irkutsk würde ein weiterer Passagier zu mir ins Abteil kommen. Ich hatte mich schon darauf gefreut, das Coupé für mich allein zu haben und stieß einen Seufzer des Bedauerns aus.
„Natürlich können wir auch eine andere Lösung finden“, meinte die Provodnitsa. „Wenn Sie bereit sind, etwas in unser bescheidenes Unternehmen zu investieren…“
Ich bot ihr 500, sie wollte 2000 Rubel, wir einigten uns auf 1200, die ich ihr zahlte, damit sie den Passagier, der in mein Abteil kommen sollte, nicht zu mir, sondern zu einem anderen Reisenden ins Coupé setzt. In meiner vieljährigen Russland-Karriere war dies der allererste Fall von Schmiergeldzahlung, freilich ein eher harmloser.
In russischen Fernzügen gibt es bis zu vier Wagenklassen. Bisher war ich fast immer in den offenen Großraumwagen der (unklar, warum) Platskart genannten dritten Klasse gefahren, in denen es praktisch keine Privatsphäre gibt, es aber doch erstaunlich rücksichtsvoll und ruhig zugeht. Die Chancen auf interessante Gespräche sind hier groß, die Existenz eines Ausländers imWaggon spricht sich schnell herum, und sollte einem einmal ein unangenehmer Nachbar unterkommen, setzt man sich einen Platz weiter. In der zweiten Klasse ist man in abgeschlossenen Vierer-Abteilen unterwegs – mit Freunden ein Vergnügen, sonst ein gewisses Risiko, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, wenn man sich plötzlich in einem derben Trinkgelage wiederfindet. Erster Klasse war ich vor dieser Reise noch nie unterwegs und würde es auch jetzt nicht sein, wenn ich die 11000 Rubel selbst zahlen müsste. In der vierten Klasse, obschtschji wagon genannt, sitzen die Passagiere im Platskart-Wagen zu dritt statt zu zweit auf einer Bank, nachts gibt es für drei Leute nur zwei Liegeplätze, es sei denn, einer kriecht auf die Gepäckablage.

16. April, morgens: ich stelle meine Uhr um eine Stunde zurück und plaudere am Heißwasser-Kessel ein wenig mit der anderen Provodnitsa. Die Brigade der Zugbegleiter ist aus Moskau und arbeitet immer zusammen in diesem Zug. Ist das nicht ein toller Beruf, was sehen Sie nicht alles! Naja, meint die Dame, man gewöhnt sich, es fliegt alles vor dem Fenster an uns vorbei, länger aussteigen können wir ja nie.
Grünteeschlürfend lese ich das Tagebuch einer Sibirienreise der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann. Morgennebel liegt über Feldern und Steppe, durch den die ersten Sonnenstrahlen brechen. Wir nähern uns Krasnojarsk.

Im Erste-Klasse-Abteil erwarten den Passagier Zeitungen, Porzellantassen und gemachte Betten (oben). Der Baikalsee ist Mitte April noch immer zugefroren, wenn auch an der Oberfläche angetaut und matschig (unten)
Auf einem Waggon des Zuges 001M ist der vom Aussterben bedrohte Amurtiger abgebildet (oben). Ein Techniker klopft in Irkutsk die Radkästen ab und prüft anhand des Klanges, ob sich Risse gebildet haben (unten)


Uni-Episoden II

 Meine Schwester macht gerade ihr Abitur und wird danach zusammen mit ihrem Freund für ein Jahr nach Neuseeland fliegen. Als ich im Jahre 1999 Schule und Zivildienst hinter mich gebracht hatte, bin ich für ein halbes Jahr nach Norwegen entschwunden. Eine Auslands- und Volontärs-Zeit vor dem Studium, für junge Leute in Deutschland nichts Ungewöhnliches, ist in Russland nicht üblich. Wenn jungen Männer nicht gleich nach der 11. Klasse an die Uni gehen, werden sie ein Jahr zum Militärdienst eingezogen, ansonsten ist die Armee danach fällig. Eltern drängen ihre Kinder oft auf den einzigen für sie denkbaren Weg, weil die Norm scheinbar nichts anderes zulässt: Studium, Beruf, Heirat und Kinder, und zwar möglichst ohne Zeit zu verlieren. Die Wahl der Studienrichtung erfolgt in einem Alter, in dem man die jungen Leute schwerlich als erwachsen bezeichnen kann. 
Eiligen Schrittes durchquere ich das Institutsfoyer und nicke beiläufig meinem Studenten Nikita zu, der zusammengesunken und mit versteinertem Gesicht am Rand sitzt. Ich habe schon den Türgriff zum Ausgang in der Hand, als mich eine vor ihm stehende Frau zurückruft.
„Thomas? Gott sei dank, dass ich sie treffe. Ich bin die Mutter von Nikita.“
Eine energische Dame in mittleren Jahren, die in irgendeinem Ministerium arbeitet, so hatte mir Nikita mal erzählt.
„Stellen Sie sich vor – mein Sohn will das Studium schmeißen!“
Jeder habe mal eine Krise, versuche ich zu beruhigen, an beide gewandt, unsere Dozenten seien eigentlich recht flexibel, mit einer Drei komme so ziemlich jeder irgendwie durch.
„Er wollte schon heute die Exmatrikulationsdokumente einreichen! Und ich erfahre davon durch Dritte! Nur, weil er seine Launen hat! Mir erzählt er nichts!“
Nikita schaunt auf den Boden und schüttelt den Kopf. Ich erinnere mich, dass seine Mutter ihn allein erzieht.
„Natürlich wollte er das!“, schimpft sie weiter. „Mein Sohn! Er ist doch künftiger Versorger der Familie! Was soll denn werden, wenn er keinen Abschluss hat? Wenn eine Frau nicht arbeiten möchte, dann sucht sie sich einen Mann, der sie ernährt. Aber mein Sohn!“
Er wolle das Studium nicht schmeißen, sondern ein Urlaubsjahr nehmen, sagt Nikita leise, ohne aufzublicken.
„Ich kenne meinen Sohn, der ist genauso wie ich! Wenn er jetzt unterbricht, dann macht er nie weiter.“
Das Problem lösen wir jetzt wohl nicht, erwidere ich und bitte Nikita darum, am nächsten Tag mal allein in mein Büro zu kommen. Vielleicht hat er ja gar keine Lust auf Familie und Karriere und sich in der Wahl des Studienfaches vertan? Mal sehen, was er erzählt, wenn die Mutter nicht dabei ist.

Neulich meinte die bei uns am Lehrstuhl arbeitende Assistentin, dass für mich im Dekanat – in einem anderen Gebäude – ein Päckchen liege. Normalerweise bringt sie immer die Post mit. Fünf Kilo aber seien zu viel, da habe sie es dort gelassen.
Im Dekanat erfahre ich, dass noch ein zweites Päckchen für mich bei der Post sei. Die zuständige Mitarbeiterin habe es aber nicht abgeholt, es sei zu schwer gewesen. 
Also begebe ich mich selbst zur Post und ärger mich ein wenig über russische Frauen, die meinen, alles was mehr wiegt als ein Kosmetik-Handtäschchen, sei von Männern zu tragen. Auf der Post dann wartet allerdings noch eine schöne Überraschung auf mich: neben dem zweiten Paket (eine Buchlieferung aus Deutschland) überreicht mir die Angestellte ein postlagernd gesendetes Päckchen von meinen Großeltern mit in Sibirien nicht erhältlichen Kräutertees.