Gestern hatte ich die
Gelegenheit, auf einer 600 Kilometer langen Fahrt mit dem Kleinbus die karge
Schönheit der burjatischen Steppe, die Weite des Landes und einige besondere,
heilige Plätze kennenzulernen.
Vielleicht kann man treffend und kurz sagen, ich wohne hier in der "russischen Mongolei". Die Burjaten, die etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen,
sind eng mit den Mongolen verwandt, Burjatisch und Mongolisch sind einander
sehr ähnliche Sprachen. Eine gute Vorstellung von der extrem geringen Besiedelungsdichte
hier vermittelt der Vergleich von Fläche und Bevölkerung mit Deutschland:
Burjatien ist etwa genauso groß wie Deutschland, hat aber nicht achtzig
Millionen Einwohner, sondern nur eine einzige Million! Burjatien grenzt im
Westen an den Baikal und ist von Gebirgsketten durchzogen: im Westen der
Östliche Saian, im Süden das Chamar-Daban-Gebirge, im Norden das
Bargusin-Gebirge. Im Norden dominieren endlose Taiga-Wälder, im Süden die kahle
Steppe mit freiem Blick bis zum Horizont.
Seit etwa 15 Jahren ist in
Burjatien die Deutsch-Sibirische Gemeinschaft aktiv, die Kinderheimen und
medizinischen Einrichtungen dringend notwendige Ausstattungen finanziert. Eine
Delegation der Gemeinschaft besuchte am Samstag eine kleine
Betreuungseinrichtung im Dorf Ajor in der Steppe unweit der mongolischen
Grenze. Zu meiner großen Freude war ich eingeladen, mitzukommen.
Ich saß im Kleinbus vorne und
unterhielt mich auf dem 300 Kilometer langen Hinweg angeregt mit Gennadi, dem
Fahrer. Gennadi fuhr äußerst diszipliniert und legte großen Wert darauf, dass
ich mich anschnallte. Gelegentlich übersah er ein Ortsausgangsschild und fuhr
dann einfach mit 50 auf der freien, gut asphaltierten Landstraße weiter. Als er
erfuhr, dass ich nicht verheiratet bin, erzählte er von seiner 33jährigen
Tochter Anjuta, die leider den Heiratszeitpunkt auch verpasst habe. Sie kann
alles, meinte er, von kochen bis renovieren, und ich solle sie mir doch mal auf
vkontakte (das russische Facebook-Äquivalent) anschauen. Gelegentlich fuhren
wir an größeren, in der Steppe verstreuten Kuh- und Schafställen vorbei. „Früher
gab es hier viel mehr Landwirtschaft“, meinte Gennadi, „jetzt ist alles tot,
die Lebensmittel kommen aus China.“ Auf einem Hügel hielt er plötzlich an,
murmelte etwas von „Heiliger Ort“ und stieg aus.
Auf dem Hügel befanden sich im
Kreis aufgestellte Holzstelen und in Sträucher geknotete Tücher. Die Tradition
verlangt, entlang der Holzstelen im Uhrzeigersinn im Kreis zu gehen und auf
Steinen einige Münzen zu hinterlassen. Ob das eine buddistische oder
schamanische Tradition ist, habe ich nicht genau herausgefunden. Etwas später
im Auto sah ich, wie Gennadi sich bekreuzigte. Wahrscheinlich vermischen sich
die Religionen bei ihm auf eine ganz persönliche Weise. Wenig später hielten
wir an einer echt buddhistischen Stupa, eine Art kleines Tempelgebäude mit
einer großen, dicken Buddha-Statue darauf. Auch hier hieß es dreimal im Kreis
gehen und ein paar Münzen opfern.
In Ajor erlebten wir ein echtes,
herzliches und ausführliches Gastfreundschafts-Ritual von Anfang bis Ende. Ein
Kosakenchor begrüßte uns mit männlichem, melancholischem und leidenschaftlichem
Gesang, die Frauen reichten Brot und Salz dazu, es wurde eine
Drei-Liter-Glasflasche selbstgebrannten Wodkas (!!) entkorkt und gläschenweise
geleert, nach jeweils einem Toast. Die Jugendlichen, die keine Eltern haben und
dort wie in eine Art „betreutem Wohnen“ untergebracht sind, führten einige
Sketche auf. Dann wurden wir zu Tisch gebeten, an eine bis zum Platzen gefüllte
Festtafel, wo uns ein am Vortag frisch geschlachtetes Schaf in sämtlichen Einzelteilen
serviert wurde, von gekochter Zunge und gedünstetem Gehirn bis hin zu mit
geronnenem Blut gefüllten Därmen. Ich hielt mich lieber an einige gebratene
Bruststückchen. Und wie in Russland nicht selten, wurden die wichtigen Dinge
wie nebenbei hier geklärt, in einem Rahmen von Festlichkeit, Herzlichkeit und
Emotion, und nicht in einer sachlichen geschäftlichen Unterredung. Die
Einrichtungsleiterin berichtete, was dringend gebraucht würde, um die Arbeit fortzusetzen.
Der Leiter der Deutsch-Sibirischen Gemeinschaft, ein korpulenter, herzlicher
und humorvoller Mann, nannte eine Summe, die die Gemeinschaft würde spenden
können (und begründete auch, warum nicht mehr möglich ist – weil nämlich
aufgrund der Russland-Krise in Deutschland kaum noch jemand für das Projekt
spendet). Darauf wurde angestoßen, mit Liedern des Kosakenchores und noch mehr
Essen zeigten die Gastgeber ihre Dankbarkeit – das Leben konnte weitergehen.
Bald zeigte sich, was ich nach
der Eröffnung der Drei-Liter-Wodkaflasche schon geahnt hatte, nämlich dass
diese natürlich geleert werden muss und nicht etwa angebrochen stehen bleiben
darf. Zum Glück waren die älteren deutschen Damen und Herren einigermaßen
trinkfest. Ich bin solche Situationen inzwischen schon gewohnt und zog mich freundlich,
aber bestimmt mit Hinweisen auf meine labile Gesundheit aus der Affäre.
Innerlich aber schüttelte ich den Kopf: diese verdammten Trinkrituale – und ein
Viertel aller russischen Männer versumpft im Alkohol und erreicht das 55.
Lebensjahr nicht. Jedenfalls war die Flasche dann tatsächlich irgendwann leer,
und wir wurden mit den besten Wünschen entlassen. Es wurde auch Zeit: der Tag
neigte sich, und uns standen noch 300 Kilometer Rückfahrt bevor.
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Mit dem Kleinbus durch die burjatische Steppe |
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Münzopfer an einem heiligen Ort |
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Begrüßung mit selbstgebranntem Wodka |
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Wolfgang, Leiter der Deutsch-Sibirischen Gemeinschaft, ist trinkfester als ich |
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Eine buddhistische Stupa |
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Wolfgang beim Anschneiden des Schafskopfes, davor die 3-Liter-Wodkaflsche |
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Kosakenlieder für die deutschen Gäste |
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Hinter dieser Hügelkette beginnt die "echte" Mongolei |