Sonntag, 13. September 2015

Die "russische Mongolei"

Gestern hatte ich die Gelegenheit, auf einer 600 Kilometer langen Fahrt mit dem Kleinbus die karge Schönheit der burjatischen Steppe, die Weite des Landes und einige besondere, heilige Plätze kennenzulernen.
Vielleicht kann man treffend und kurz sagen, ich wohne hier in der "russischen Mongolei". Die Burjaten, die etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind eng mit den Mongolen verwandt, Burjatisch und Mongolisch sind einander sehr ähnliche Sprachen. Eine gute Vorstellung von der extrem geringen Besiedelungsdichte hier vermittelt der Vergleich von Fläche und Bevölkerung mit Deutschland: Burjatien ist etwa genauso groß wie Deutschland, hat aber nicht achtzig Millionen Einwohner, sondern nur eine einzige Million! Burjatien grenzt im Westen an den Baikal und ist von Gebirgsketten durchzogen: im Westen der Östliche Saian, im Süden das Chamar-Daban-Gebirge, im Norden das Bargusin-Gebirge. Im Norden dominieren endlose Taiga-Wälder, im Süden die kahle Steppe mit freiem Blick bis zum Horizont.
Seit etwa 15 Jahren ist in Burjatien die Deutsch-Sibirische Gemeinschaft aktiv, die Kinderheimen und medizinischen Einrichtungen dringend notwendige Ausstattungen finanziert. Eine Delegation der Gemeinschaft besuchte am Samstag eine kleine Betreuungseinrichtung im Dorf Ajor in der Steppe unweit der mongolischen Grenze. Zu meiner großen Freude war ich eingeladen, mitzukommen.
Ich saß im Kleinbus vorne und unterhielt mich auf dem 300 Kilometer langen Hinweg angeregt mit Gennadi, dem Fahrer. Gennadi fuhr äußerst diszipliniert und legte großen Wert darauf, dass ich mich anschnallte. Gelegentlich übersah er ein Ortsausgangsschild und fuhr dann einfach mit 50 auf der freien, gut asphaltierten Landstraße weiter. Als er erfuhr, dass ich nicht verheiratet bin, erzählte er von seiner 33jährigen Tochter Anjuta, die leider den Heiratszeitpunkt auch verpasst habe. Sie kann alles, meinte er, von kochen bis renovieren, und ich solle sie mir doch mal auf vkontakte (das russische Facebook-Äquivalent) anschauen. Gelegentlich fuhren wir an größeren, in der Steppe verstreuten Kuh- und Schafställen vorbei. „Früher gab es hier viel mehr Landwirtschaft“, meinte Gennadi, „jetzt ist alles tot, die Lebensmittel kommen aus China.“ Auf einem Hügel hielt er plötzlich an, murmelte etwas von „Heiliger Ort“ und stieg aus.
Auf dem Hügel befanden sich im Kreis aufgestellte Holzstelen und in Sträucher geknotete Tücher. Die Tradition verlangt, entlang der Holzstelen im Uhrzeigersinn im Kreis zu gehen und auf Steinen einige Münzen zu hinterlassen. Ob das eine buddistische oder schamanische Tradition ist, habe ich nicht genau herausgefunden. Etwas später im Auto sah ich, wie Gennadi sich bekreuzigte. Wahrscheinlich vermischen sich die Religionen bei ihm auf eine ganz persönliche Weise. Wenig später hielten wir an einer echt buddhistischen Stupa, eine Art kleines Tempelgebäude mit einer großen, dicken Buddha-Statue darauf. Auch hier hieß es dreimal im Kreis gehen und ein paar Münzen opfern.
In Ajor erlebten wir ein echtes, herzliches und ausführliches Gastfreundschafts-Ritual von Anfang bis Ende. Ein Kosakenchor begrüßte uns mit männlichem, melancholischem und leidenschaftlichem Gesang, die Frauen reichten Brot und Salz dazu, es wurde eine Drei-Liter-Glasflasche selbstgebrannten Wodkas (!!) entkorkt und gläschenweise geleert, nach jeweils einem Toast. Die Jugendlichen, die keine Eltern haben und dort wie in eine Art „betreutem Wohnen“ untergebracht sind, führten einige Sketche auf. Dann wurden wir zu Tisch gebeten, an eine bis zum Platzen gefüllte Festtafel, wo uns ein am Vortag frisch geschlachtetes Schaf in sämtlichen Einzelteilen serviert wurde, von gekochter Zunge und gedünstetem Gehirn bis hin zu mit geronnenem Blut gefüllten Därmen. Ich hielt mich lieber an einige gebratene Bruststückchen. Und wie in Russland nicht selten, wurden die wichtigen Dinge wie nebenbei hier geklärt, in einem Rahmen von Festlichkeit, Herzlichkeit und Emotion, und nicht in einer sachlichen geschäftlichen Unterredung. Die Einrichtungsleiterin berichtete, was dringend gebraucht würde, um die Arbeit fortzusetzen. Der Leiter der Deutsch-Sibirischen Gemeinschaft, ein korpulenter, herzlicher und humorvoller Mann, nannte eine Summe, die die Gemeinschaft würde spenden können (und begründete auch, warum nicht mehr möglich ist – weil nämlich aufgrund der Russland-Krise in Deutschland kaum noch jemand für das Projekt spendet). Darauf wurde angestoßen, mit Liedern des Kosakenchores und noch mehr Essen zeigten die Gastgeber ihre Dankbarkeit – das Leben konnte weitergehen.
Bald zeigte sich, was ich nach der Eröffnung der Drei-Liter-Wodkaflasche schon geahnt hatte, nämlich dass diese natürlich geleert werden muss und nicht etwa angebrochen stehen bleiben darf. Zum Glück waren die älteren deutschen Damen und Herren einigermaßen trinkfest. Ich bin solche Situationen inzwischen schon gewohnt und zog mich freundlich, aber bestimmt mit Hinweisen auf meine labile Gesundheit aus der Affäre. Innerlich aber schüttelte ich den Kopf: diese verdammten Trinkrituale – und ein Viertel aller russischen Männer versumpft im Alkohol und erreicht das 55. Lebensjahr nicht. Jedenfalls war die Flasche dann tatsächlich irgendwann leer, und wir wurden mit den besten Wünschen entlassen. Es wurde auch Zeit: der Tag neigte sich, und uns standen noch 300 Kilometer Rückfahrt bevor.
Mit dem Kleinbus durch die burjatische Steppe
Münzopfer an einem heiligen Ort
Begrüßung mit selbstgebranntem Wodka
Wolfgang, Leiter der Deutsch-Sibirischen Gemeinschaft, ist trinkfester als ich
Eine buddhistische Stupa
Wolfgang beim Anschneiden des Schafskopfes, davor die 3-Liter-Wodkaflsche
Kosakenlieder für die deutschen Gäste
Hinter dieser Hügelkette beginnt die "echte" Mongolei