Sonntag, 23. Dezember 2018

Auf Besuch bei den Fremden



Wohl in jeder Kultur pflegen die Menschen das Eigene und schauen mit kleinerem oder größerem Unverständnis auf das Fremde. Für die Bewohner Sibiriens sind das unheimliche Fremde zum Beispiel die Chinesen, die Kitajtsy – allein das Wort hat im Munde vieler einen leicht abfälligen Klang, einen negativen Beigeschmack. Kitajtsy, das sind die nicht so richtig Zivilisierten, deren Busse neuerdings scharenweise Touristen an den Baikal karren und ihn verdrecken, deren Unternehmer nach und nach die Taiga aufkaufen oder illegal abholzen und deren pestizidverseuchte und geschmacklose Äpfel man besser nicht kauft. Überhaupt, wenn wir nicht gut auf unsere Grenzen aufpassen, geht es in den Gedanken und so manchen Gesprächen weiter, fällt Sibirien und der russische Ferne Osten bald in die Hände von China, die haben keinen Platz mehr da unten für ihre Milliarden und keinen grünen Flecken mehr. Nehmt euch in Acht!
In der Stadt Qingdao am Ufer des Gelben Meeres arbeitet mein Kollege Thorsten. Wir kennen uns aus der Zeit, als er noch in Russland war, in Chabarowsk, wo die Universität im Sommer überraschend seinen Vertrag nicht verlängerte – angeblich, weil Ausländer nicht länger als zwei Jahre dort tätig sein dürften, tatsächlich aber wohl, weil der patriotische Rektor keinen Westeuropäer mehr haben wollte, der seinen Studenten wer weiß was für schädliche Propaganda erzählt. Also unterrichtet mein Kollege jetzt nicht mehr an der russischen, sondern an einer chinesischen Universität.
„Mein Chinabild hat sich seitdem sehr gewandelt“, sagt Thorsten. „Komm vorbei und schau es dir an!“
Zweieinhalb Flugstunden von Ulan-Ude nach Peking: die chinesische Hauptstadt liegt fast dreimal näher als Moskau, gefühlt allerdings zehnmal weiter weg. Erinnerungen an meinen erste Chinareise vor sieben Jahren steigen auf, an meinen Kulturschock nach der Ankunft des Zuges in Harbin ob der Zehntausenden sich durch die Bahnhofshallen wälzenden Menschen, niemand einer Fremdsprache mächtig, ich verloren mit meinen Koffern zwischen den überall herumliegenden und –sitzenden Gestalten, vergeblich auf den Kanadier wartend, der mich abholen sollte und aber schon nicht mehr da war, da mein Zug Verspätung hatte und ich kein Telefon, um ihm bescheidzusagen. Die Einreisebestimmungen haben sich seit 2011 verschärft: beim Beantragen des Touristenvisums muss ich jetzt Rückflugticket und Hotelbuchung vorlegen sowie eine Liste mit allen Ländern, die ich in der letzten Zeit besucht habe. Innerhalb von 24 Stunden nach Ankunft am Zielort hat die behördliche Registrierung zu erfolgen – in Russland hat man dafür wenigstens sieben Tage Zeit.

Den ersten Kulturschock bekomme ich gleich nach der Landung in Peking ob der schieren Dimensionen und des Technisierungsgrades. Eine geschlagene halbe Stunde rollt die Maschine über das endlose Flugbahngelände bis zur Parkposition. Die Passagiere gehen den einen halben Kilometer weiten Gang entlang, aus Lautsprechern erklingt liebliche klassische Musik, dann eine gigantische Halle, in deren Mitte ein Springbrunnen sprudelt, am Rande eine lange Reihe von Automaten, an denen die Reisenden den Reisepass einscannen und ihre Fingerabdrücke abzugeben angehalten sind, vollautomatisch. Vor der Passkontrolle prozessieren die Fluggäste durch einen Körpertemperatur-Detektor, danach steigen wir ein in einen kleinen Zug, der fünf Minuten lang fährt, aus der Halle hinaus ins Freie und in eine weitere Halle hinein, wo das Gepäck in Empfang genommen wird und sich schließlich der Ausgang befindet, vor dem ein Dutzend Buslinien in verschiedene Stadtteile fahren. Fassungsloses Staunen überkommt mich, ein Gefühl, als wäre ich von Ulan-Ude aus fünfzig Jahre in die Zukunft gereist.
Ein junger Mann ist mir beim Finden des passenden Busses behilflich, soeben vom Studium aus London in seine Heimat zurückgekehrt, er muss zum gleichen Bahnhof, wir nehmen nebeneinander Platz und plaudern. Ich sei verheiratet, oh, wie schön, sagt er und gratuliert mir zur eigenen Wohnung. Die hätte ich noch nicht? In China würde keine junge Frau einen Mann ohne Wohnung nehmen, die eigenen vier Wände, Haus und Job, ein unbedingtes Muss vor der Hochzeit. Ich aktiviere das buseigene W-LAN und versuche vergeblich, die genaue Einwohnerzahl von Peking zu googeln. Der Student lacht: Google gibt es nicht, genauso wenig wie Youtube, Skype, Facebook und WhatsApp, dafür müsse ich erst VPN installieren, eine Art Programm zum Umgehen der staatlichen Internetzensur, verboten zwar, aber fast jede habe es. Hier gäbe es genauso einen debilen Diktator wie in Russland, raunt er mir mit leiser Stimme direkt ins Ohr, alle wüssten es, aber niemand dürfe darüber sprechen. Nach einer Weile der Fahrt auf zehnspurigen Schnellstraßen durch weite Hochhäuserfelder kommen wir am Platz des Himmlischen Friedens vorbei, ich erhasche einen Blick auf die festungsartige Mauer zur Verbotenen Stadt mit den Ehrenwachen davor und dem großen Mao-Porträt über dem Eingang.
Wenig später sitze ich im Schnellzug nach Quindao. „Bitte stören Sie keine anderen Passagiere mit ihren elektronischen Geräten“, tönt eine sanfte Ansage aus den Lautsprechern auf Chinesisch und Englisch, während wir fast geräuschlos beschleunigen, bis die Geschwindigkeitsanzeige bei dreihundertzwei Stundenkilometern stehenbleibt. „Gehen Sie pfleglich mit der Zugeinrichtung um. Wer die Regeln verletzt, indem er raucht oder ohne Ticket unterwegs ist, muss künftig mit Restriktionen beim Kauf von Zugtickets rechnen, und die Informationen über das Fehlverhalten werden automatisch an das lokale Punktebüro weitergegeben.“ Ich erinnere mich, über diese Einrichtungen gelesen zu haben, in denen Daten aus der digitalen Überwachung der Bürger in verschiedenen Lebensbereichen zusammenlaufen.
Die Atmosphäre an Bord des Zuges ist fast wie in einem deutschen ICE, nur der Service noch ein wenig besser: im Vorraum kann aus einem Hahn jederzeit kostenfrei warmes Wasser in daneben bereitgestellte Pappbecher entnommen werden, eine Zugbegleiterin kontrolliert regelmäßig, ob die Gepäckstücke auf den Ablagen gut verstaut sind, rückt schiefsitzende Koffer gerade und stopft herunterhängende Rucksackbänder nach oben; eine andere Frau geht alle halbe Stunde durch den Gang und sammelt den Müll ein. Wir rauschen durch die Westchinesische Tiefebene vorbei an braunen Feldern und Plantagen mit jetzt im Winter kahlen Bäumchen, hunderte Meter langen Gewächshäusern, grauen Industrieanlagen mit rauchenden Schloten und immer wieder Meeren von Wolkenkratzern, wobei die Landschaft wie in einen weißlichen Schleier gehüllt ist: kein Morgennebel und kein vom nahen Meer herübergewehter Dunst, sondern Industrieabgase.
Eine junge Frau schiebt ein Wägelchen an den Sitzreihen vorbei und verkauft sauber eingeschweißtes frisches Obst. Als ich meine Yuan-Scheine zücke, jeder mit einem Bild von Mao Zedong, schüttelt sie den Kopf und zeigt auf den Barcode ihres Smartphones. Mein Nachbar hält das seine dagegen, ein kurzes Aufblitzen, Bezahlvorgang abgeschlossen. Ich gebe ihm den Schein, bedanke mich und verstehe: Bezahlen mit Bargeld ist schon von gestern und nicht mehr überall möglich.
Nach fünf Stunden Ankunft in Quindao. Der Bahnhof, Baujahr 1906, wirkt in Stil und Proportionen sehr vertraut, ein Werk deutscher Architekten: Quindao war achtzehn Jahre lang deutsche Kolonie, das kaiserliche Schutzgebiet Kiautschou in Ostasien. Damals hatte das Gebiet etwa 40000 Einwohner, heute ist es eine mittelgroße Stadt mit etwa acht Millionen, eine von ungefähr hundert chinesischen Millionenstädten. Mein Kollege Thorsten wartet am Ausgang, ein Wiedersehen nach über einem Jahr, herzliches Umarmen, ich sei sein erster Besuch hier von außerhalb.
Thorsten wohnt mit seine Freundin Galina auf dem Campus der Universität Quindao im Wohnheim für ausländische Studenten und Gäste, ich bekomme ein Zimmer im gleichen Gang. In der ersten Etage weist mich Thorsten auf einige Zettel am Schwarzen Brett hin. „Öffentliche Denunziation als Erziehungsmaßnahme, lies mal!“ Zuerst chinesische Schriftzeichen, darunter dann die englische Übersetzung: „Romain Nicolas, Geschlecht: männlich, Nationalität: französisch, Sprachstudent, hat im September 2018 mehrfach mit einer Frau Sex auf dem Zimmer gehabt. In Übereinstimmung mit Artikel 14 der Disziplinarverordnung bekommt er eine Disziplinarstrafe.“ Oder: „Pyeon Min, Nationalität: koreanisch, hat am Morgen des 14. November in der 6. Etage des Lehrgebäudes geschrien und Lärm gemacht. Dieses Benehmen hat den normalen Unterrichtsprozess ernsthaft gestört. In Übereinstimmung mit Artikel 12 der Disziplinarverordnung bekommt er eine Verwarnung.“
Abendessen in einem Hotpot-Restaurant: auf jedem Tisch steht eine Thermoskanne; als wir Platz nehmen, schenkt die Kellnerin sofort heißes Wasser in kleine Tassen. Galina, die jeden Tag Chinesischkurse besucht, versucht die Speisekarte zu entziffern. Der Hotpot ist ein in zwei oder vier Abteilungen untergliederter Metalltopf, der auf eine in die Tischmitte eingebaute Herdplatte gestellt und mit verschiedenen Brühen gefüllt wird, die vor den Augen der Gäste zu kochen beginnen und in welche man die bestellten Speisen wirft, um sie nach wenigen Minuten gargekocht mit Stäbchen wieder hervorzufischen: Fleischstückchen, Wurströllchen, Krabbenpaste, Tofuquadrate oder frischen Salat. An die russische Küche gewöhnt, fehlt mir vor allem Brot. Chinesisch sei eine Sprache mit vielen Tücken, erklärt Galina, wenn sie in dem Satz „Ich möchte einen Kuli kaufen“ zwei Wörter falsch ausspräche, käme heraus „Ich möchte meine Muschi verkaufen“, eine unschöne Sache. Ich erzähle von dem jungen Mann in Peking, der über meine Heirat trotz fehlender Wohnung staunte. „Der Druck, den Eltern auf ihre Kinder ausüben, damit sie schnell heiraten, ist hier noch viel größer als in Russland“, sagt Galina und erzählt von einem sehr verbreiteten Service: junge Leute können für ein gemeinsames Essen mit den Eltern einen Partner oder eine Partnerin mieten, um Vater und Mutter zu zeigen: jawohl, ich bin mit jemandem zusammen, lasst mich also in Ruhe mit euren Nachfragen. Im Gegensatz zu Russland herrscht in China Männerüberschuss, ein Ergebnis der Ein-Kind-Politik, die zur Abtreibung von vor allem weiblichen Föten führte, da der einzige Nachwuchs für viele ein Sohn sein sollte.
Vor dem Ins-Bett-gehen noch ein Abstecher in den kleinen Supermarkt neben dem Wohnheim. Erfolglos suche ich ein Deo (gibt es nicht, Asiaten stinken nicht so wie Europäer, erklärt Galina) und Frischmilch (die meisten Chinesen haben eine Laktoseunverträglichkeit), dafür finden sich in kleine Portiönchen zu je zwei Stück eingeschweißte Weißbrotscheiben und einige Regalmeter mit Instant-Nudeln in Pappbechern.

Im Winter ist es in Quindao um siebzehn Uhr stockfinster, dafür morgens gegen Sieben schon hell: die chinesische Ostküste liegt zehn Breitengrade weiter östlich als der Baikalsee, aber in der gleichen Zeitzone „Moskau plus fünf“, die einzige Zeitzone in ganz China. Thorsten hat mich eingeladen, eine Doppelstunde bei seinen Deutsch-Studenten zu unterrichten, ich habe das Thema „Alte deutsche Schrift“ gewählt, ein Buch in Fraktur und einige in Kurrent geschriebene Postkarten mitgebracht. Ob es irgendwelche Dinge gäbe, über die es verboten sei zu sprechen? „Du darfst alles sagen“, beruhigt mich mein Kollege, „außer, dass Taiwan nicht zu China gehöre. Und nicht über die kommunistische Partei diskutieren.“ Fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn sitzen die jungen Leute auf ihren Plätzen, jeder mit einem kleinen Thermoskännchen heißen Wassers vor sich. Ich bin begeistert ob der Pünktlichkeit, in Ulan-Ude ein weitgehend unbekanntes Phänomen. Wie es sich mit der studentischen Anwesenheitsmoral verhalte? „Hundert Prozent“, sagt Thorsten. „Und wenn mal jemand nicht kommt, hält er mir am nächsten Tag ungefragt eine Bescheinigung vom Arzt unter die Nase.“ Die übliche Kennenlernfrage nach der Anzahl der Geschwister spare ich mir, in der Zukunft könnte sie aber wieder aktuell werden; seit einigen Jahren gilt offiziell die Zwei-Kind-Politik, und auch von einer Drei-Kind-Politik in baldiger Zukunft ist schon die Rede: Chinas Bevölkerung steht eine dramatische Überalterung bevor, der Staat will gegensteuern.
Entlang der Fensterbänke in den Gängen sitzen Studenten auf Klapphöckerchen vor Stapeln von Büchern und Heften, wobei sie laut Texte vor sich hin rezitieren und einige sich dabei hin- und herwiegen wie in tiefes Gebet versunken. Manche der Hocker und Bücherstapel liegen herrenlos da, vielleicht ist der Besitzer im Unterricht. Hier kommt nichts weg, man kann eigentlich in der Öffentlichkeit alles liegenlassen und findet es später unbehelligt wieder vor – vielleicht hat das mit den zweihundert Millionen im Lande verteilten Überwachungskameras zu tun.
Die Temperaturen sind fast frühlingshaft, farbenfrohe Vögel springen zwitschernd durch die Zweige der entlaubten Platanen, welche die gerade Hauptstraße durch den ausgedehnten Campus säumen. Ein künstlich angelegter Bach mit Teich und harmonischem Wasserfall sowie überall aufgestellte Bänke verbreiten eine entspannte Sonntagsatmosphäre. Mittags führt mich mein Kollege in die Mensa, etwa zehnmal größer als eine russische Stolovaja; in einer meterlangen Reihe sind Bleche mit Bergen von mir unbekannten, exotisch anmutenden gebratenen, gekochten und gegarten Speisen aufgestellt. Brot suche ich wieder vergeblich, statt Besteck gibt es Stäbchen, mit denen ich zum Glück einigermaßen zurechtkomme. Am Nachmittag begleiten wir ein Stück einen Gewerkschaftsaufmarsch von Studenten und Uni-Mitarbeitern anlässlich eines Gesundheitstages; tausende fröhlich schnatternde junge Leute, die rote Fahnen schwenken, auf denen der Name ihres Institutes oder ihrer Fakultät steht, unter den chinesischen Zeichen auf Englisch, wie School of History oder College of Marxism. Thorsten macht mich mit seiner Kollegin Shan bekannt, eine hübsche junge Frau mit ausgezeichnetem Deutsch, Mitglied der Kommunistischen Partei. Ich nutze die Gelegenheit und frage sie, ob viele Chinesen in die KP eintreten möchten und welche Pflichten und Privilegien damit verbunden sind. Fünf Prozent aller Chinesen seien Mitglied der Partei, erklärt mir Shan, es gäbe lange Wartelisten, nur die Besten würden genommen. Mitgliedsbeitrag muss man zahlen und jährlich Ideologie-Seminare besuchen, dafür darf man an innerparteilichen Wahlen teilnehmen, hat Vorteile im Beruf und viel mehr Karrieremöglichkeiten zum Beispiel im Staatsdienst. Ist ja fast wie früher in der DDR, liegt mir auf der Zunge, aber ich besinne mich rechtzeitig: kultursensibles Zuhören ist angesagt statt fragwürdiger Vergleiche. Was man in China so über Russland denkt, will ich noch wissen. „Die Russen sind eigentlich unsere Partner“, sagt Shan, „aber sie gelten als ein bisschen wild, nicht so richtig zivilisiert. Bis noch vor Kurzem wollte niemand in Russland investieren, man sagte, das Geld verschwindet in einem Sumpf aus Korruption und Ineffektivität.“
Nachmittags bin ich zu einer Weihnachtsfeier mit Studenten des zweiten Studienjahres eingeladen, vor mir sitzen nicht etwa fünf wie in Ulan-Ude, sondern fünfzig junge Leute, und während ich an meiner Uni große Mühe habe, zwölf Leute für die wöchentlichen Chorproben zusammenzubekommen, singen hier alle fünfzig enthusiastisch unter meinem dirigierenden Handschlag zweistimmig Oh Tannenbaum und Stille Nacht.
Wir lassen den Tag in einer Bar in der Stadt ausklingen. Außer Kaffee und Wasser gibt es nichts Alkoholfreies, also trinke ich Wasser; Thorsten bestellt das berühmte, seit der deutschen Kolonialzeit gebraute Tsintao-Bier. Wir rauchen. „Schlecht zu sprechen sind die Chinesen vor allem auf die Japaner“, sagt mein Begleiter, an meine letzte Frage an Shan anknüpfend. „Japanische Soldaten haben im zweiten Weltkrieg wohl unfassbare Gräueltaten hier auf dem Festland angerichtet, aber im Gegensatz zu Deutschland hat Japan nach Kriegsende nicht viel getan, um seine Nachbarn wieder mit sich auszusöhnen. Noch heute legen japanische Politiker Kränze vor Generälen nieder, die nachweislich Kriegsverbrecher waren.“ Ich studiere interessiert die chinesische Zigarettenpackung: Gruselbildchen wie in der EU oder Russland sind hier noch nicht angekommen. Eine Packung kostet je nach Marke fünfzig Cent bis fünfzig Euro, erfahre ich, wobei es nicht etwa einen Geschmacksunterschied gäbe – wer reich ist, bietet seinem Gast eine Zigarette aus der 50-Euro-Packung an und unterstreicht so seinen Status. Eine Arbeit als Deutsch- oder Englischlehrer zu finden, sei für einen Weißen in China überhaupt kein Problem, auch wenn einen keine deutsche Organisation bezahlt; im Unterschied zu Russland entlohnen die Unis ihre Lehrkräfte vernünftig, und der positive Rassismus Europäern gegenüber sei schon erstaunlich, auch in anderen Lebensbereichen. Nicht selten komme man kostenlos in Discos und erhalte alle Getränke frei, einmal sei er gebeten worden, die ersten hundert Meter bei einem internationalen Marathon mitzulaufen, nur fürs Foto, als Entschädigung gab es eine kostenlose Bus-Tagestour in den Nationalpark.
Zwei ältere, kernige Männer betreten die Bar, guten Tag, Handschlag und Namensnennung. „Die deutsche Community hier ist ziemlich groß, über hundert Leute, nicht wie in Sibirien, wo du der einzige in deiner Stadt bist!“, sagt Thorsten. Der dickere der beiden zeigt mir auf seinem Smartphone ein Filmchen über das jährlich in Quindao stattfindende German wine festival, er sei der Veranstalter, tolles Ding, schöne Frauen, deutscher Wein würde sehr geschätzt in China, und so weiter. Mein Kollege verschwindet mit ihnen zum Skatspielen, ich fahre zurück ins Wohnheim und belese mich über die deutsche Kolonialzeit.
„Der deutsch-chinesische Handel hat sich in den letzten vierzig Jahren gewaltig gesteigert“, heißt es im „Kolonialen Lesebuch für Schule und Haus“ von 1912. „Dennoch ist ihm Englands Handel noch bei weitem überlegen, und Frankreich wie Rußland machen große Anstrengungen, auch ihrerseits ihre Handelsbeziehungen auszubreiten. Um gegenüber diesem Wettbewerb bestehen und sich weiter entwickeln zu können, bedurften die deutschen Interessen eines festen Stützpunktes. Die chinesische Küste wurde daher von der deutschen Kriegsmarine nach einem passenden Hafen untersucht, und die Aufmerksamkeit richtete sich schließlich auf die an der Südküste der Halbinsel Schantung gelegene Kiautschoubucht. Die Ermordung zweier deutschen Missionare seitens einer fanatischen Volksmenge gab den äußeren Anlass zur Besetzung der Bucht, nachdem die mit dem chinesischen Auswärtigen Amt eingeleiteten Verhandlungen wegen Überlassung derselben erfolglos gewesen waren. Jetzt zeigte sich die chinesische Regierung willfähriger.
Alles in allem gilt das Klima für das günstigste der ganzen Küste und ist dem Europäer durchaus zuträglich, besonders nachdem die unter der chinesischen Regierung verwahrlosten hygienischen Verhältnisse der Niederlassungen durch das Eingreifen der deutschen Verwaltung eine erhebliche Verbesserung erfahren haben.“

Am nächsten Morgen unternehmen Thorsten und ich einen Spaziergang in die Hügel, die sich gleich hinter dem Unicampus hinaufziehen, wunderschöne, rötliche Felsen, locker mit Kiefern bewachsen. Unterwegs kommen wir an ein paar Baustellen vorbei. „Ist dir schonmal aufgefallen, dass auf dem Bau hier Tag und Nacht gearbeitet wird?“, sagt mein Begleiter. „Wenn man nach ein paar Wochen an eine Baustelle zurückkommt, dann steht da plötzlich ein Hochhaus.“ Ich erzählte ihm von der Brücke über den fernöstlichen Amur, der die chinesische Stadt Heihe mit dem russischen Blagoweschtschensk verbinden soll, ein Novum in den chinesisch-russischen Beziehungen, eine Brücke zwischen den beiden sich doch eher argwöhnisch beäugenden Großmächten, so etwas gab es noch nie! Vor einer Weile vermeldeten die Chinesen die Fertigstellung ihres Teils, auf russischer Seite verzögert sich das Projekt noch um einige Jährchen. Nun muss man dazu noch wissen, dass der russische Anteil an der gemeinsamen Brücke kleiner ist als der chinesische – nämlich nur etwa ein Fünftel der Gesamtlänge ausmacht.
Auf einem gut gepflasterten Weg steigen wir nach oben, vorbei an gymnastiktreibenden Senioren und Überwachungskameras etwa alle hundert Meter, eine davon mit Bewegungsmelder, der bei unserer Ankunft einen Lausprecher aktiviert. „Vielleicht eine Belehrung über den Wert der Natur und das richtige Verhalten beim Spazierengehen“, vermutet Thorsten, der die chinesische Frauenstimme genauso wenig wie ich versteht. Vielleicht sollte man das in Russland auch einführen, geht mir durch den Kopf, zumindest liegt hier in China keinerlei Müll herum. Zwischen den Bäumen sind rote Transparente mit weißen Schriftzeichen aufgespannt, wahrscheinlich Parolen der kommunistischen Partei. Oben angekommen, wenden wir uns um: die Aussicht geht gegen Null, schemenhaft zeichnen sich die Wolkenkratzer ab; wo das Gelbe Meer sein sollte, eine Dunstwand. Leider liegt die Stadt heute in einer vom Inland heranziehenden Industriesmog-Wolke. Chinesen sehen in ihrer Wetter-App auch immer gleich die aktuellen Luftverschmutzungswerte, wenn die Zahl rot unterlegt ist – dann ist wohl ein Grenzwert überschritten, vielleicht das Hundertfache des in einer deutschen Großstadt noch zulässigen Wertes – setzen sich die empfindlicheren Naturen eine Maske auf.
Später fahren wir mit Galina in die Innenstadt; im Bus sind wir die einzigen, die nicht das Smartphone an den Scanner halten und per WeChat zahlen, sondern ganz altmodisch eine Yuan-Münze in den kleinen Plastikkasten neben dem Fahrer werfen. Wir werfen einen Blick auf das quaderförmige Rathaus (hinter dem ein weiteres Riesengebäude aufragt, dessen einzige Funktion darin bestehen soll, dass das Rathaus besser zur Geltung kommt; nach dem Feng-Shui-Prinzip ist nämlich die Harmonie in der Architektur dann optimal, wenn ein Haus vor einem Hintergrund steht, der höher als es selbst ist) und betreten eine Shoppingmall, eine überdachte Stadt mit einer Vielzahl an Ebenen und Rolltreppen, in der fünften Etage eine hundert Meter lange Eislaufbahn, auf dem Dach über der sechsten Etage ein Park mit Bäumen, strohbedeckten Lauben und Golfrasen. Egal, wenn die Natur kaputt geht, die Chinesen würden sie neu erschaffen! Der Mittagshunger treibt uns in ein Restaurant: die junge Frau am Eingang tippt etwas auf ihren Bildschirm, wir erhalten eine Wartemarke, einen Bleistift und eine Speisekarte zum Ankreuzen und werden nach fünf Minuten aufgerufen, Tisch Nummer einundfünfzig ist frei. Diesmal versteht auch Galina nicht alles, wir kreuzen auf gut Glück an, und wenig später stehen verschiedene Teller mit verschiedenen farbigen, fettglänzenden Speisen vor uns in der Tischmitte, von denen wir uns je nach Bedarf mit den Stäbchen auf unsere Schälchen häufen, manche davon undefinierbar tierischen, pilzlichen oder pflanzlichen Ursprunges, ob knorpelig-krustig oder wattig-weich, süß oder sauer, das wird erst nach dem Hereinbeißen klar.
„Magst du eigentlich Ente?“, fragt mich Galina.
Ich verstehe dog statt duck. „Ja, Hund würde ich aus Neugierde probieren, einmal wenigstens“, antworte ich.
„Nein, Ente!“ Galina lacht. „Aber im Süden Chinas wird tatsächlich alles gegessen, was vier Beine hat. Zum Beispiel auch junge, frischgeschlüpfte Ratten, die verspeist man gleich lebend, quiek-quiek, rein in den Mund und knacks, das gilt als Delikatesse!“
Ich entscheide mich am städtischen Sandstrand für einen Sprung ins Meer. Zum ersten Mal im Leben baden im Stillen Ozean! Ich sprinte hinein, schwimme ein paar Meter hinaus und kehre wieder um. Wenige Schritte noch zu meiner Kleidung, plötzlich höre ich Jubelrufe und sehe ein Dutzend Smartphone-Kameras auf mich gerichtet, die den verrückten Weißen filmen, der im Winter ins eiskalte Wasser springt. Macht sonst niemand, erklärt mir Thorsten, Chinesen können in der Regel nicht schwimmen, auch nicht im Sommer, sie planschen nur mit Schwimmringen im flachen Wasser.
Bevor ich spüre, wie durchgefroren mein Körper doch ist und schnell zurück ins Wohnheim möchte, schaffen wir noch einen Rundgang durch das alte Qingdao: gedrungene, massive Feldsteinbauten aus der deutschen Kaiserzeit und eine evangelische Kirche von 1908, wie sie auch in Mitteleuropa stehen könnte – was für ein Anblick hier an der asiatischen Ostküste! Abends schlage ich wieder das „Koloniale Lesebuch“ auf:
„Haben wir Glück, so finden wir, um in die Stadt zu kommen, als Droschke einen mit zwei Ponys bespannten Wagen mit chinesischem Kutscher. Mit größerer Wahrscheinlichkeit werden wir uns mit einer Rikscha begnügen müssen. In ganz Ostasien ist dieser kleine zweirädrige, meist nur einsitzige Wagen, in dessen Gabeldeichsel sich ein Kuli spannt, in Gebrauch. Setzt man sich zum ersten Mal in ein solches Gefährt, so berührt es zunächst etwas peinlich, daß ein Mensch als Zugtier vor einem trabt und der Schweiß, wie von einem Pferderücken, auf den braunen nackten Schultern da vor einem perlt. Aber bald gewöhnt man sich daran, bewundert die Ausdauer der Lungen und Muskeln. In schnellem Trab eine halbe Stunde und mehr zu laufen, ohne auszuruhen, ist dort nichts Besonderes, man lernt durch Vergleich die Leistungsfähigkeit der Rikschakulis zu beurteilen und feuert dann später selber oft recht energisch die säumigen braunen Waden an.“

Am frühen Morgen des dritten Tages ist leider schon der Abschied von Thorsten angesagt, dessen gemütliche Gastfreundschaft und kundige Begleitung ich sehr geschätzt habe. Einen Moment lang dünkt mich, das Taxi sei nicht wie vereinbart zum Bahnhof Qindao-Nord, sondern zum Flughafen gefahren: ein riesiges gewölbtes Dach mit futuristischer weißer Trägerkonstruktion, ein Wartebereich mit hunderten Meter Sitzreihen, davon einige Dutzend Massagesessel, nummerierte Ausgänge wie Flughafen-Gates. Eine halbe Stunde vor Abfahrt stellen sich die Passagiere in fünf Reihen diszipliniert in Schlangen auf, nach der Ticketkontrolle fünfzehn Minuten später wird man durchs Drehkreuz gelassen und darf die Treppe zum Bahnsteig hinuntergehen. Ich schaffe es noch, mir einen Kaffee zu kaufen: lösliches Pulver, das direkt eingeschweißt im Pappbecher verkauft wird, offensichtlich geht man gar nicht erst davon aus, dass jemand aus einer Mehrwegtasse trinken könnte. Heißes Wasser zum Aufbrühen scheint es überall zu geben.
Im EMU-Hochgeschwindigkeitszug nach Peking fotografiere ich aus dem Fenster mit staunender Faszination die hunderte von grauen, stelzenartig im Dunst in die Höhe ragenden zwanzig- oder fünfzigetagigen Hochhäuser, die immer wieder an uns vorbeiziehen, wie als hätte ein Kind große Bauklötzer auf einer überdimensionierten Platte aufgestellt. Wenn es in Russland die Naturgewalten und endlose Weiten sind, die den Betrachter in ihren Bann ziehen, so sind es in China die Dimensionen des von Menschenhand Erschaffenen. Nach einer Weile reicht mir mein in einen legeren Sakko gekleideter Nachbar, bestimmt ein Geschäftsmann, sein Smartphone herüber, wo er auf Englisch etwas für mich geschrieben hat.
- Was Sie sehen, ist nur die Oberfläche. China ist ein armes Land mit vielen Problemen.
Ich tippe eine Antwort – sofort erscheinen die chinesischen Schriftzeichen der Übersetzung darunter. Auf diese Weise entspannt sich zwischen uns ein bemerkenswerter schweigender Dialog, bei dem wir uns nur das Handy hin- und herreichen und gelegentlich zunicken, und ich staune nicht schlecht, wie gut das automatische Übersetzungsprogramm funktioniert.
- Was braucht China Ihrer Meinung nach? Eine stärkere Zentralregierung?
- Nein, Zivilisation und Demokratie.
- Ich bin beeindruckt von dem, was ich in drei Tagen hier gesehen habe. Alles scheint viel moderner als in Deutschland.
- Die Technik dieses Schnellzuges wurde aus Frankreich geklaut. Zuerst wurde er in Zusammenarbeit mit einem französischen Unternehmen gebaut. Dann hat China die Kooperation überraschend gekündigt und mit der kopierten Technik allein weitergebaut.
- An der Uni habe ich gemerkt, wie fleißig chinesische Studenten sind. Als ob das Land rund um die Uhr arbeitet!
- Ja, weil die Menschen keine Rechte haben. Ich habe einen Zehn-Stunden-Arbeitstag, und wenn ich die Norm nicht erfülle, werde ich gefeuert. Der Leistungsdruck ist enorm. Das Fernsehen betreibt Gehirnwäsche. Die Partei lässt keine Informationen von außen ins Land.
Der Geschäftsmann zeigt mir, wie das verbotene VPN auf seinem Handy lädt und sich eine Seite mit den Logos von Deutscher Welle, BBC und Youtube öffnet. Dann lacht er, deutet auf die Kameras vor uns und hinter uns an den Wagenenden und wischt die Seite mit einer Fingerbewegung vom Bildschirm.
- Sie schreiben sehr offen. Ist das für Sie nicht gefährlich, liest wirklich auch niemand mit, der es besser nicht lesen sollte?
- Man muss die Informationen verbreiten. Demokratie ist es wert, dass man für sie kämpft. Und manchmal muss eben jemand dafür einen Preis zahlen. Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Zeit in China!
Die Zeit ist wie im Flug vergangen, schon fahren wir ein in Beijingnan, dem Pekinger Südbahnhof, das Gebäude von den Dimensionen eines Moskauer Flughafens.
Wenn ich schon in Peking bin, gehört auch der Platz des Himmlischen Friedens ins Programm – ein paar Stunden bleiben mir dafür Zeit. Als ich mich ihm mit meinem kleinen Rollköfferchen und in der eigentlich viel zu warmen sibirischen Daunenjacke nähere, passiere ich auf dem Bürgersteig an der zehnspurigen Hauptstraße einige Polizeikontrollen; Chinesen müssen ihren Ausweis auf den Scanner legen, nach einem Blick auf den Umschlag meines Passes winkt mich der Beamte mit einer einladenden Bewegung durch. Direkt vor dem Platz geht es nochmal durch ein Kontrollgebäude, wo auch der Koffer auf den Scanner kommt, dann endlich stehe ich auf dem geschichtsträchtigen Tienanan, wie er auf Chinesisch heißt. Im Vergleich zu der weiten Fläche mit dem Mao-Zedong-Mausoleum in der Mitte wirken der Rote Platz in Moskau und das Lenin-Mausoleum wie ein mittelgroßer Hinterhof mit Toilettenhäuschen. An der Nordseite eine lange hohe Mauer mit Pagodendach, darunter in der Mitte überlebensgroß ein farbiges Mao-Porträt, vor den Eingängen uniformierte Ehrenwachen. Tausende Touristen quellen durch das eine geöffnete Tor in Richtung der dahinterliegenden Verbotenen Stadt aus der Zeit der chinesischen Kaiser; mir gelingt ein unauffälliges Foto eines der Polizisten, die mit demonstrativ vor sich abgelegtem Schutzschild, Gummiknüppel und feuerlöscherähnlichem Gegenstand an den Rändern stehen.

Landung in Ulan-Ude. Das Flughafengebäude kommt mir dieses Mal nicht viel größer vor als eine chinesische Bushaltestelle, und bei der Anfahrt auf die Innenstadt, Schlaglöchern ausweichend und vorbei an den in der Steppe verteilten Holzhäusern ohne fließendes Wasser, fühle ich mich vom zweiundzwanzigsten ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt. Fast ist mir zumute, als habe ich die letzten drei Tage nur geträumt. Der Besuch bei den Fremden, er hat sich gelohnt, bald geht es mit der Familie auf Besuch in meine Heimat. Meinen Lesern wünsche ich alles Gute fürs Neue Jahr, danke allen, die der Lektüre bis hierher treugeblieben sind und freue mich auf das Wiedergelesenwerden im Jahre 2019.
Pünktlich und immer anwesend: Chinesische Studentinnen haben stets eine Thermoskanne heißen Wassers dabei (oben). Lernen am Fensterbrett (unten)

In der Mensa (oben) und bei einem Aufmarsch der Universitäts-Gewerkschaft (unten)

Wasserlieferung fürs Wohnheim (oben), Weihnachtsliedersingen mit fünfzig Deutschstudenten (unten)

Warnhinweise in der Natur (oben) und Überwachungskamera mit Bewegungsmelder und Lautsprecher (unten)

Qindao im Industrienebel (oben), der Deutsche Bahnhof (unten)
Eine Postkarte aus der Kolonialzeit (oben), Massagesessel im Nordbahnhof (unten)

Polizei am Platz des Himmlischen Friedens (oben), Bauarbeiter in der Mittagspause (unten)

Eine Glaswand trennt die Gleise vom Bahnsteig der U-Bahn (oben), Staubsauge-Roboter auf dem Flughafen in Peking (unten)

Sonntag, 16. Dezember 2018

Olga und das Erdnussmusglas

Deutschland ist, zumindest von Russland aus betrachtet, das Land der Brotvielfalt, des Knäckebrotreichtums und der leckeren Aufstriche. Verschiedene knäckebrotähnliche Waffelprodukte erscheinen nun auch langsam auf dem russischen Markt; „Dr. Körner Reiswaffeln“ kann man kaufen (ein Umlaut im Namen – und schon klingt das Produkt sehr deutsch!), und in einem kleinen Spezialgeschäft gibt es Erdnussmuse, hergestellt in Burjatien, nicht weniger lecker als ein Alnatura-Erzeungis von REWE.
Nisos Freundin Olga ist auf Besuch zum Teetrinken. Auf dem Tisch steht eine geöffnetes Glas Erdnussmus. Olga schlürft Schwarztee und isst das Mus direkt aus dem Glas mit einem kleinen Löffel. Nach einer Weile rücke ich das Glas ganz unauffällig, wie ich meine, von ihr weg und schließe den Deckel. Wenig später verabschiede ich mich zu einem Einkauf und lasse die beiden allein zurück.
„Olga fand es sehr komisch, dass du das Glas geschlossen hast“, sagt meine Frau später am Abend zu mir.
„Und ich fand es seltsam, dass sie das Mus einfach so mit dem Löffel isst, als wäre es ihre eigene Portion! Das ist doch das Glas für alle. Und außerdem ist das ein Brotaufstrich, den nimmt man mit dem Messer.“
„Ja, bei euch ist das so. Hier macht man nicht so viel Brimborium darum. Wenn das Glas auf dem Tisch steht, kann man da mit seinem Löffel auch reinlangen“, erklärt mir meine Frau.
„Das Mus wäre alle geworden, wenn ich Olga noch zehn Minuten länger hätte löffeln lassen“, rechtfertige ich mich weiter.
„Was auf dem Tisch steht, ist für den Gast, da gibt es keine Begrenzungen, ob es alle wird oder nicht. Dann darfst du es nicht auf den Tisch stellen! Der Gast ist König!“ –
„Ich stelle eben Dinge auf den Tisch und rechne mit der Vernunft des Gastes, davon in Maßen Gebrauch zu machen.“
Meine Frau schaut mich vorwurfsvoll an.
„In Maßen! Welche Maße? Du bist in Russland, Thomas“, sagt sie. „So etwas wirkt hier einfach geizig. Du wusstest doch, dass meine Freundin Erdnussmus mag!“

Maja ist acht Jahre alt geworden. Zum Geburtstag schenkt Niso ihr eine große Maultrommel aus dem Altaigebirge und ich ihr ein Kinderbuch: „Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten“ von Alexander Wolkow, natürlich im russischen Original – als kleiner Junge habe ich Wolkows  Märchenserie „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ in deutscher Übersetzung mit Spannung verschlungen.
„Tief im Inneren des gewaltigen nordamerikanischen Kontinents lag, von einer großen Wüste und unbezwingbaren Bergen umgeben, ein Wunderland“, beginnt die Geschichte, so wie ich sie kenne. In der neuen russischen Ausgabe von 2016 fehlt dieser Satz komplett. Vielleicht sollen die Kinder hier nicht so viel von Amerika hören? Auch Kinderbücher können mit Politik zu tun haben.

Im Januar, wenn wir in Deutschland sind, überlasse ich meinem Freund Mischa das Auto. Dafür ist es erforderlich, ihn als Fahrer in die Haftpflichtversicherung einzutragen. Der Versicherungsvertreter lädt mich freundlich ein, neben seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und macht ein bedauerliches Gesicht. Leider, sagt er, sei das Unternehmen pleite gegangen, bei dem meine Autohaftpflicht abgeschlossen wurde. Die Police gelte weiterhin, da die Versicherung ihrerseits versichert ist, im Falle eines Falles würde trotzdem gezahlt werden, ich könne ganz unbesorgt sein. Aber einen weiteren Fahrer eintragen, das wäre nun gänzlich unmöglich. Mein Freund könne entweder eine komplett neue Police auf seinen Namen abschließen – er biete jetzt eine der größten russischen Versicherungen an, baldiger Bankrott eher unwahrscheinlich – oder ohne Haftpflicht Auto fahren. Die erste Variante koste fünftausend Rubel, die zweite höchstens fünfhundert. So hoch – etwa acht Euro – ist die Strafe, wenn einen die Polizei anhält und man das Dokument nicht vorzeigen kann.
„Ich persönlich rate zu zweiter Variante“, sagt der Versicherungsvertreter. „Wozu auch Geld zum Fenster hinauswerfen. Gibt es eigentlich noch andere Deutsche, die so wie ich hier freiwillig jahrelang leben? Kann ich mir kaum vorstellen.“ Wir kommen ein wenig ins Plaudern. Der Vertreter ist zufrieden, obwohl er mir nichts verkauft hat, nett sei es, sich mit mir zu unterhalten, ich solle bald wiederkommen.

Aus Eisblöcken (oben) werden auf dem Sowjetplatz nach einem genauen Plan kunstvolle Figuren gesägt (unten). Häusliche Basteleien (ganz unten)