Samstag, 22. Juni 2019

Die fröhliche Rückfahrt

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 10


Die Menschen in den tadschikischen Dörfern haben Zeit. Es scheint, als sind die Grauen Herren aus Michael Endes „Momo“ – das Buch in der russischen Übersetzung wird nach der Reise mit Niso und Maja unsere nächste gemeinsame Lektüre – in den zentralasiatischen Provinzen noch nicht angekommen, noch gibt es keine Zeitdiebe, von denen die Leute in hektische, seelen- und rücksichtslose Wesen verwandelt werden. Wir haben auch Zeit, zwei ganze Tage sind für die Rückreise nach  Duschanbe eingeplant; wieder einmal sitzen wir am Straßenrand auf unseren Rucksäcken: der meinige ist nach zwanzig Reisejahren völlig verschlissen und graugeschabt mit zerbrochenen Plastikschnallen, fehlenden Spanngummis und sich weitenden Löchern.
Der gestrige Tag in Bunaj markierte den geografischen Endpunkt unserer Reise in das Pamirgebirge. Um jeweils eine halbe Stunde versetzt wurden wir von unserem Gastgeber Orsu und seiner Mutter bewirtet: zuerst stellte uns die alte Frau eine Mahlzeit auf den Tisch unserer Sommerlaube, dann rief uns zur selben Mahlzeit Orsu in sein Haus. Der gemütliche junge Mann sprach ein umgangssprachliches, zu einem Drittel aus Füllwörtern bestehendes Russisch, die Mutter  einen melodischen tadschikischen Dialekt, den Niso vorgab nicht zu verstehen, um nicht ein weiteres Mal ihre ganze Geschichte ausbreiten zu müssen und im Schweigen Kräfte zu sammeln für das bevorstehende zweite Treffen mit ihrer Verwandtenschar in Furkat. Tagsüber erklommen wir den untersten Rand eines der beiden das Dorf eingrenzenden Hänge, etwa dreihundert Höhenmeter eine karg bewachsene Schräge hinauf, vorbei an Kühen und einer noch von weit lesbaren, die tadschikische Verfassung preisenden Losung aus weiß getünchten Steinen, bis wir uns zeichnend an einem Felsbrocken niederließen. Nur ein kleines Missverständnis hatte diesen unseren sonnigen Pamirtag getrübt: nachdem ich Niso am Felsbrocken zurückgelassen, allein weiter aufgestiegen und nach etwa einer halben Stunde wieder zurückgekehrt war, fand ich sie zusammengesunken und weinend vor; in der großen Gebirgseinsamkeit hatte sich die Dauer meiner Abwesenheit zu einer gefühlten Ewigkeit ausgedehnt und in der Vorstellung meiner Frau lag ich längst von Wölfen zerrissen oder von Aasgeiern verschleppt vor einer der schwarzgrauen Steilwände über uns. Am Abend waren wir durch das üppige Grün des Dorfes geschlendert und hatten zwei oder drei Einladungen zum Tee abgelehnt, da uns noch das doppelte Abendbrot bei Orsu und seiner Mutter bevorstand. Tadschikistan ist ein Land der unverfälschten Gastfreundschaft: dem Fremden öffnen sich Türen auch ohne touristische Infrastruktur oder Couchsurfing-Verabredung per Internet.
Nun sitzen wir also wieder an der Straße und richten uns gemütlich auf ein längeres Sitzen ein mit Tagebuch und Aquarellzeug, Trinkwasser, frischem Fladenbrot von Orsus Mutter und frischem Fladenbrot von Orsu. Heute ist der erste Festtag nach dem Ende des Fastenmonats und niemand unterwegs. Wer zu Verwandten fahren möchte, ist bereits dort, und wer zuhause sein will, ist schon zuhause. Umso mehr sind wir erstaunt, als nach zehn Minuten, das Tagebuch ist noch nicht geöffnet, der Pinsel noch nicht ins Wasser getaucht – als uns nach zehn Minuten vier fröhliche Gestalten aus einem zerschundenen Honda-Van zuwinken und zum Platznehmen auf der zweiten, hinteren Rückbank auffordern. Duschanbe? – Duschanbe! Die rissige Frontscheibe erinnert an ein Spinnennetz; der Beifahrer nutzt den kurzen Halt, um mit einem Schraubenzieher die abfallende Seitenleiste festzuschrauben. Unsere Reisegefährten sind keine Tadschiken, sondern vom Volk der Pamiri, und kommen gerade aus Chorugh, dem unerreichten Ziel unserer anfänglichen Pläne. Munter holpert der Honda über die kurvige Schotterpiste, die uns diesmal nicht ganz so ungeheuerlich wie auf der Hinfahrt erscheint, da der Abbruch zum Fluss hin auf der linken Seite vom Weg liegt und wir uns eher rechts an den Felswänden halten. Die Pamiri sind locker und gesprächig, weniger traditionell als die Tadschiken, mit den muslimischen Festen nimmt es keiner so genau, und sie gebrauchen ganz selbstverständlich eine Handvoll verschiedener Sprachen: unter ihresgleichen mindestens einen ihrer lokalen Pamir-Dialekte, für Außenstehende gänzlich unverständlich und ohne Schrifttradition; beim mittäglichen Imbiss mit dem Wirt die offizielle Staatssprache Tadschikisch; mit uns als Gästen aus Sibirien – Russisch, das kulturübergreifende Verständigungsmittel des Sowjet-Imperiums; und Englisch für westliche Touristen, die das Pamir-Plateau gern mit Fahrrädern durchqueren, hätten sie auch noch auf Lager.
Von der Mittagspause und kurzen Stopps zum Festschrauben der Seitenleiste abgesehen fahren wir zwölf Stunden bis in die Hauptstadt durch. Auch bei geschlossenen Fenstern sitzen wir wieder und wieder in periodisch durch Ritzen in das Fahrzeug hereinwallenden Staubwolken.  An einer Stelle lenkt der Fahrer das Fahrzeug absichtlich unter einen auf die halbe Straßenbreite von oben lotrecht herabstürzenden Wasserfall, um das Auto zu entstauben, hat aber dabei die Lücke an der Kofferraumklappe nicht bedacht, so dass der darunterstehende Koffer einen Schwall Wasser abbekommt. Die Pamiri finden es lustig. Da es nicht unsere Rucksäcke betrifft, finden wir es auch lustig.
Irgendwann am späten Nachmittag, inzwischen hat auch der Asphalt wieder eingesetzt, kommen wir an Anjirob vorbei. Sollte ich den Namen eines Ortes auf Erden sagen, der dem vorgestellten himmlischen Paradiese am nächsten kommt, so würde ich Anjirob nennen, das in vornehmer Stille am Hang über dem Fluss Pandzh gelegene Grenzdorf mit seinen Granatapfel-, Maulbeer- und Walnussbäumen, seinen Pistazien und Zitronensträuchern mit den würdig im Schatten der Mauern und Gewächse ruhenden oder mit ihren Eseln wasserholenden Bewohnern und dem Ausblick auf die in unerreichbarer Nähe am anderen Ufer majestätisch emporthronenden Berge des Hindukush. Vor einigen Tagen waren wir hier bei Radzabali und seiner Familie zu Gast gewesen, die mich vor zwei Jahren entkräftet und appetitlos ins Krankenhaus gebracht, vor einem Jahr kräftig und mit Appetit begrüßt und dieses Mal mit Niso empfangen hatten, erstaunt und erfreut darüber, dass meine Frau eine halbe Tadschikin ist und ihre Sprache spricht. Seltsam nur, dass ich das im Vorjahr aus – unberechtigter – Sorge  über muslimische, interreligiöse Partnerschaften verbietende Glaubensgrundsätze unerwähnt gelassen und erzählt hatte, meine Frau hieße Anja. Das Problem, wohin nun mit Anja, lösten wir dann auf elegante Weise: um russische Kindergartenkinder nicht mit fremdkulturigen Namen zu überfordern, hätten Pädagogen mit Migrationshintergrund wie meine Frau am Arbeitsplatz einen Zweitnamen. Anja und Niso sind also ein und dieselbe Person.
Anjirob bleibt links unter uns zurück. Der Tag neigt sich dem Ende, die fröhlichen Pamiri verstummen und dösen vor sich hin, nur der Mann am Steuer behält eisern die Konzentration bis zum Eintreffen in der Hauptstadt. Statt in zwei Tagen haben wir die Strecke an einem geschafft. Mein Lob über sein Meistern des schwierigen Weges quittiert der Fahrer mit einem Lachen. Erschöpft begeben wir uns ins Hostel.

Bei der Herstellung von Kurut, eine Art salzige, harte Quarkbällchen
Vor den Bergen des Hindukush in Anjirob. Abschied von unseren Gastgebern (unten)

Donnerstag, 20. Juni 2019

Die versuchte Hotelübernachtung


 Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 9

Wir bewegen uns. Mit zwanzig Stundenkilometern schiebt sich der LKW vorwärts in Richtung Chorugh, der „Hauptstadt des Pamir“, wie die unweit der afghanischen Grenze im Tal zwischen Vier- und Fünftausendern eingekesselte Siedlung inoffiziell genannt wird; wir schieben uns vorwärts, immer flussaufwärts am rechten Ufer entlang des Grenzflusses Pandsh, zunächst nach Nordosten, ab Khalaikhumb dann dem abknickenden Flusslauf nach Süden folgend, durch das sich immer schroffer in die Berge einschneidende Tal vorbei an lotrecht abfallenden Felswänden, legen eine Zwischenübernachtung im Dorf Kurgovod ein und setzen unseren Weg mit der gleichen Geschwindigkeit fort, bis uns gegen Mittag klar wird: wir schaffen es nicht. Die Trucks, an Bord derer wir zu Gast sind, fahren zu langsam. Morgen würden wir erst ankommen, übermorgen vielleicht, auf jeden Fall zu spät: Nisos Verwandtschaft in Furkat wartet auf uns, nach dem ungeplanten Wiedersehen muss nun unbedingt noch ein geplantes folgen, noch einmal möchten Onkel, Tanten, Schwager und Schwägerinnen, Cousinen und Cousins, Nichten, Neffen, Stiefbasen und Erzmütter uns in ihr gastfreundschaftliches Netz aufnehmen, uns tränken und verpflegen, diesmal in ihrer ebenso trinkender und speisender Gemeinschaft, denn der Ramadan ist zuende, Fröhlichkeit und Tanz stehen an, vielleicht das eine oder andere zu unseren Ehren geschlachtete Schaf. Die Vorfreude auf unser Erscheinen ist ebenso immens wie die Zeit knapp ist; von zwei Wochen in Tadschikistan ist schon eine verstrichen, nach dem plötzlichen Erscheinen käme nun unser plötzliches Nichterscheinen einer Katastrophe gleich. Wir werden Chorugh nicht mehr erreichen.
Am Eingang zum Wandzh-Tal, an einer staubigen Weggabelung des sich hier zu einer lichten Ebene weitenden Grenztales neben einem unsere Pässe kontrollierenden Polizeiposten, lassen wir uns absetzen. Hier ist es auch schön, hatte der Fernfahrer gesagt, einer der wenigen Menschen übrigens, die nicht gefastet und unterwegs immer wieder zur Colaflasche gegriffen hatten, was von uns mit einer gewissen Beruhigung zur Kenntnis genommen wurde; hier sei es jedenfalls auch schön, und mein Geld solle ich bitte in der Tasche stecken lassen. Vielleicht verdienen tadschikische Trucker ja gar nicht so schlecht, dass sie keines Zuverdienstes bedürfen, denn die von mir gebotene Summe war deutlich mehr als nur ein symbolisches Almosen.
Mit dem Rücken Afghanistan zugewandt laufen wir die zunächst menschen- und fahrzeugeleere, sandige Straße das Tal hinauf, bis uns nach etwa einer Stunde ein gemütlicher, sympathischer junger Mann aus unserer einbrechenden Erschöpfung erlöst und uns mit dem Auto nach Wandzh mitnimmt, das zivilisatorische Zentrum der Region, wo uns ein Hotel oder Gästehaus mit Dusche und weichen Betten erwartet. Der gemütliche junge Mann schreibt uns noch schnell seine Telefonnummer auf einen Zettel und zeigt uns die Unterkunft, dann steigen wir aus und streben der rohen Steinwand des unverputzten Plattenbaues entgegen.
Es riecht nach Baustelle und unbestimmten Chemikalien, als wir die Treppe in den ersten Stock des halbfertigen Gebäudes emporgehen; im Erdgeschoss tummeln sich lärmende Menschen in einer Art Markthalle, darüber hatte jemand offensichtlich die Idee eines Hotels. Aus dem Fenster des Zimmers, das uns eine unsicher und ahnungslos wirkende Frau nach etwa fünfzehn Minuten der vergeblichen Schlüsselsuche aufschließt, fällt der Blick auf ein Baugerüst und eine graue Betonwand, auf dem Tisch grüßt uns eine vergessene leere Bierdose. Auf die Frage nach dem Preis hin telefoniert die ahnungslose Frau zunächst und sagt dann zögernd: einhundertfünfzig.
Außer uns ist niemand anwesend, vielleicht sind wir die einzigen und ersten Gäste in diesem Jahr. Mir kommt der Verdacht, dass es eigentlich keinen Preis gibt, dass die unverschämt hohe Summe gerade im Kopfe derjenigen Person am anderen Telefon entstanden ist, der die ahnungslose Frau von den beiden Touristen erzählte. Pro Person oder für uns beide, frage ich und blicke in ihr blöd grinsendes Gesicht. Verlegenes Schweigen. Pro Person? Die ahnungslose Frau nickt.
Als wir das zentrale Hotel von Wandzh verlassen, nieselt es gerade. Erschöpft und schweißgetränkt bewegen wir uns mit unseren Rucksäcken dorthin, wo uns die Existenz eines weiteren Gästehauses orakelt wurde. Niso blickt stumpf geradeaus, als ob es zur Rechten und zur Linken keine grandiosen Berge zu bestaunen gäbe; ich verwende meine nach dem anstrengenden Reisetag verbliebene Rest-Aufmerksamkeit darauf, die an den Verwaltungsgebäuden prangenden Sprüche des allgegenwärtigen Präsidenten zu entziffern. Möglicherweise gab es zur Rechten und zur Linken auch gar keine grandiosen Berge, man weiß es nicht genau, mit Sicherheit kann nur gesagt werden, dass wir irgendwann vor einem freistehenden Objekt mit verschlossenen Türen und einem ausgeblichenen Schild „Mehmonchona“, Gästehaus, stehen. Meine Frau lässt sich auf einen betonierten Terrassenvorsprung sinken und malt mit ihrer Fußspitze Figuren in den Sand. Ich finde nach einigem Suchen einen barttragenden Jugendlichen, der verspricht, die Schlüssel zu dem Objekt zu organisieren.
Wir treten ein. Es ist fast fertig, sagt mein Begleiter, während wir zwischen Schutt und Staub eine rohe Betontreppe emporsteigen, warmes Wasser gäbe es auch, der Hausherr sei gerade in Dushanbe, doch wenn er zurückkäme, dann harre das Luxusdomizil der unmittelbar bevorstehenden Vollendung. Irgendwo hinter einer aus den Angeln kippenden Tür zwischen Werkzeugen und Verpackungsmüll erspähe ich ein Bett. Der barttragende Jugendliche blickt erwartungsvoll in mein ausdrucksloses Gesicht. Ich schüttle den Kopf.
Meine Frau schlurft stumpf ihre Schritte zählend in die von mir bedeutete Richtung. Da der Nieselregen aufhört, ergreift mich hingegen Optimismus. Wir nähern uns einer Fabrikruine, wo uns die Existenz eines dritten Hotels versichert worden war. In einem wohnheimähnlichen Anbau an eine zu Bürgerkriegszeiten wohl abbruchreif geschossene Produktionshalle zeigt man uns zwei bettähnliche Metallgestelle in einem sauberen, hellen, ansonsten leeren Raum. Dusche – nein, Toilette – im Hof. Der Preis? Ich werde von einigen kurz gierig aufblitzenden Augenpaaren gemustert, ein kurzes Tuscheln, dann wird die Summe von zweihundert genannt. Da ich in ähnlicher Lage und Ausstattung schon einmal vierzig bezahlt hatte, interessiert mich nicht mehr, ob pro Person oder für uns beide. Der Regen hat aufgehört, also können wir auch im Freien schlafen, aneinandergekuschelt in unsere als Schlafsackersatz mitgenommenen Bettlaken. Ich wage nicht, Niso diesen Gedanken mitzuteilen.
Der knisternde Zettel in meiner Hemdbrusttasche mit der Telefonnummer bringt mich auf einen anderen Gedanken. Ich rufe den gemütlichen Mann an, der uns hierher mitgenommen hatte, und frage ihn frech, ob er nicht zwei gestrandete Touristen bei sich zuhause unterbringen möchte. Als wir kurz darauf in seinem Auto sitzen, ist unsere erleichterte Seele wieder für die Schönheit der Berge empfänglich: das Wandzh-Tal ist breit und schnurgerade, an seinem Ende leuchten unter zackigen Gipfeln die scheeweißen Hänge des Fedshenko-Gletschers. Nach einer halben Stunde Talaufwärtsfahrt erreichen wir das Dorf Bunaj. Der Name unseres Gastgebers, Orsu, bedeutet Traum, und wie ein Traum scheint uns die großzügig befensterte, teppichausgekleidete Sommerlaube auf dem von dichter, schatten- und feuchtigkeitsspendender Vegetation bedecktem Grundstück, in die uns Orsu einquartiert, der hier mit vier Kindern, Frau, Eltern, dem Bruder und dessen Familie wohnt. Niso, zu müde für jegliche Art von Gespräch, tut so, als ob sie kein Tadschikisch versteht, womit unsere Kommunikation deutlich sparsamer wird und sich auf den Hausherrn als Gesprächspartner beschränkt. Die Großmutter stellt uns Tee, frisches Fladenbrot, heiße Suppe und Konfekt auf den Tisch; Orsu, der sich wohl nicht mit ihr abgesprochen hat, lädt uns wenig später in sein dreietagiges Eurostandard-Haus zum Essen ein, wie in Russland üblich nicht auf dem Fußboden, sondern am Tisch; Stühle und eine Küchenzeile mit Herd, Kühlschrank und Arbeitsplatte gibt es auch. Noch vor Einbruch der Dunkelheit wickeln wir uns in die schweren Decken unserer Sommerlaube und fallen in traumlosen Schlaf.

Das Haus unseres Gastgebers Orsu im Wandzh-Tal

Mittwoch, 19. Juni 2019

Der bedauernswerte Früchtezöllner

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 8


„Kommen Sie doch einmal bitte kurz zu mir, junger Mann.“ Der schlanke junge Herr im hellblauen Hemd grüßt mich höflich und blättert kurz in meinem Pass. „Was haben Sie denn in Tadschikistan gemacht?“
Ich werde kurz von oben bis unten gemustert und spüre dann einen abwartenden Blick in dem meinigen ruhen, bestimmt und durchdringend, die feingeschnittenen Gesichtszüge verraten keine Emotionen. Nein, Dummköpfe und Grobiane werden für diese Aufgabe nicht ausgewählt, neulich erst hat sich einer von Nisos Brüdern an uns gewendet, der feingeistigste und intelligenteste von ihnen, mit der Bitte um Kopien unserer Pässe: er möchte sich beim FSB bewerben und muss dafür Informationen über alle seine Verwandten vorlegen. Ob er die Stelle bekommt, mit einem deutschen Schwager?
Die eigentliche Passkontrolle mit Stempel und Gesicht-mit-dem-Foto-Vergleich habe ich gerade schon durchlaufen, aber da nicht jeden Tag ein Deutscher von Tadschikistan nach Russland fliegt, wurde ich einer kurzen Nachkontrolle für würdig erachtet. Hinter uns drängen die anderen Passagiere an den Schalter, fast ausschließlich tadschikische Gastarbeiter, die ohne Visum nach Russland einreisen können, sich aber dann um eine Patent genannte, kostenpflichtige Arbeitsgenehmigung bemühen müssen. Versäumen sie das, werden sie zur Ausreise aufgefordert und bekommen eine Wiedereinreisesperre für mehrere Jahre. Da viele nicht warten können – schließlich muss die Familie ernährt werden –, legen sie sich einen neuen Reisepass mit neuem Namen zu, der noch nicht auf der Sperrliste steht.
Einen Raum weiter dann der Zoll. Wir bejahen ehrlich die Frage des gleich hinter dem Eingang stehenden Zollbeamten, ob wir Lebensmittel dabei hätten – drei Bananen, ein halbes Kilo Äpfel und ein viertel Kilo getrocknete Aprikosen, unsere Reiseverpflegung – und werden gebeten, an einem kleinen Tischchen zu warten. Er selbst wäre nur für Fleisch und Milch zuständig, der für Obst und Gemüse verantwortliche Kollege würde gleich kommen. Hinter uns bildet sich in kurzer Zeit eine kleine Schlange von Tadschiken, welche die Frage des für Fleisch und Milch zuständigen Kollegen ebenso ehrlich wie wir beantwortet haben: einer hält zwei Honigmelonen in der Hand, ein anderer trägt ein Tütchen mit Mandarinen, ein dritter fördert ein Bündel Rhabarber aus seiner Tragetasche.
Nach einer Viertelstunde erscheint ein stiernackiger Uniformierter mit kleinen Schweißperlen im Gesicht und einem Formularbündel in der Hand. Inzwischen haben wir die Bananen bereits aufgegessen und unser halbes Äpfelkilo hat sich auf ein Viertel reduziert. Die Einfuhr von Früchten aus Tadschikistan nach Russland sei verboten, sagt der für Obst und Gemüse zuständige Zollbeamte, und während er unsere Ordnungswidrigkeit in ein doppelseitiges, eng bedrucktes Formular einträgt, wächst die Schlange unablässig, die der offensichtlich unterbeschäftigte, für Fleisch und Milch zuständige Kollege in seine Richtung schickt: lauter Tadschiken mit ein paar Früchtchen, die sie nicht geschafft haben im Flugzeug zu verspeisen oder als Mitbringsel für Verwandte. Das Verbot von Fleischimport scheint bekannt zu sein, das Obsteinfuhrverbot hingegen neu.
„Hier unterschreiben, 350 Rubel Strafe“, blafft der Früchtezöllner, steckt unsere Pässe in seine Hosentasche und verweist uns auf den Sparkassen-Automaten vor dem Flughafenausgang, an dem wir die Strafe unverzüglich zu bezahlen und auf ihn zu warten hätten; Barzahlung ist nicht vorgesehen. Wir erfüllen seine Forderung und warten. Nach einer halben Stunde erscheint er schweißbedeckt in Begleitung von einem Dutzend ehemaliger Früchtebesitzer, prüft die Quittung, händigt unsere Pässe aus und wendet sich stöhnend dem Automaten zu. Nun verstehen wir auch Grund für seine Genervtheit: die Tadschiken kennen sich mit einem russischen Sparkassenautomaten nicht aus, so dass der Zöllner für sie alle die Strafeinzahlung selbst vornehmen muss, die wir als einzige ohne ihn erledigen konnten.
Wir verlassen den Flughafen Irkutsk, an dem unsere Flugreise vor genau zwei Wochen begonnen hatte. In der Wartehalle waren wir am Ausgang zum Flugzeug dicht umringt von dunkelhäutigen, schickbehemdeten, mit großen, sichtbar getragenen Uhren ausgestatteten Männern und ihren Frauen und Kindern gewesen, die sich, mühsam vom Bodenpersonal zurückgehalten, gegen die Glastür gedrängt hatten, als gelte es den Teufel, der erste im Flugzeug zu sein, als würden die Plätze nicht mehr für diejenigen genügen, die hinten in der Schlange stehen. Jeder vierte Passagier ein Kind, das war eine neue Erfahrung für mich gewesen, und auch, dass nach dem Austeilen des kartonverpackten Essens ein Großteil der Reisenden es achtlos vor sich auf dem Ausklapptischchen stehengelassen erst nach Sonnenuntergang mit der Nahrungsaufnahme begonnen hatte.
Meine dritte Reise nach Tadschikistan: ich bin stolz darauf, mir nicht den Magen verdorben und jeden Tag ein kleines Aquarell gezeichnet zu haben; ich bin enttäuscht, dass ich trotz vieler Stunden hinter Lehr- und Wörterbüchern immer noch keinem tadschikischen Gespräch folgen kann: nur gelegentlich leuchtet eine bekanntes Wort auf aus dem Nebel unbestimmt dahinrauschender Rede (Niso sagt, da gehe es mir wie ihr bei ihrem ersten Deutschlandbesuch); ich habe gelernt, dass eine Kanne heißen Wassers im Prinzip für eine Ganzkörperwäsche mit Seife ausreicht und dass es auch heute noch Familienväter gibt, die von ihrer Ehefrau und den eigenen Kindern gesiezt werden. Niso, die gar nicht fertig werden konnte mit all ihren Eindrücken und jeden Tag seitenweise Tagebuch schrieb, wird mir später erzählen, wie befreiend es für sie gewesen sei, einer vor dreiundzwanzig Jahren unbestimmt in ihr zurückgebliebenen Welt wieder zu begegnen und zu spüren, dass sie sich in dieser Welt noch zurechtfindet und von den Menschen angenommen ist.
Am Irkutsker Bahnhof besteigen wir den Nachtzug nach Ulan-Ude. Ich fördere zwei bisher unbeachtet gebliebene Äpfel vom Grunde meines Rucksackes zutage. Anstatt zurück zum Früchtezöllner gehen, mich für die versehentliche illegale Einfuhr zu entschuldigen und das Aufsetzen eines weiteren Protokolls abzuwarten, reiche ich einen meiner Gefährtin. Vor uns hinkauend schauen wir in die hereinbrechenden Dunkelheit, als sich der Zug in Bewegung setzt und unserem russischen Alltag entgegenrollt.

Vor dem Rudaki-Denkmal im Park am Präsidentenpalast in Dushanbe
Ein noch aus Sowjetzeiten stammender Bewässerungskanal
Tadschikische Zuckerwürfel haben mitunter gigantische Ausmaße