Samstag, 26. September 2015

Kultur

Ich möchte nun die Geschichte erzählen, wie ich zu einem Cello gekommen bin. Es bedarf noch einer Reparatur, aber das Wichtigste ist geschafft: ich habe ein Cello, ein echtes, ganzes, wahrscheinlich richtig spielbares Instrument.
In Ulan-Ude gibt es neben dem Opernhaus das Gebäude der Burjatischen Staatlichen Philharmonie. Hier spielt kein eigenes Orchester, und auch das Opernorchester scheint nicht konzertant aufzutreten, sondern etwa einmal in der Woche kommt ein Ensemble oder Solokünstler vorbei und gibt ein Gastspiel. Dort suchte ich die in der Verwaltung arbeitende Maria Ivanovna auf, von der ich über eine Bekannte erfahren hatte, sie habe ein Cello und würde dieses auch verleihen. Als ich nachmittags ihr Büro in der eher ausgestorben wirkenden Philharmonie betrat, war sie mit zwei Kolleginnen gerade beim Essen. Bei uns ist immer Mittag, scherzte sie und zeigte mir das Instrument. Leider erwies es sich als Modell halber Größe, ein Schülerinstrument, und noch dazu in einem ziemlich schrottigen Zustand: der Stachel fehlte, und als ich es stimmen wollte, gab es einen Knall und es riss der Saitenhalter. Macht nichts, meinte Maria Ivanovna, ist eben ein altes Cello, dann lassen Sie es halt hier. Ich verabschiedete mich so nett wie möglich.
Sibirien ist nicht die erste Adresse für europäische klassische Hochkultur. Musikschulen haben wenn überhaupt nur kleine Schülergrößen von Celli, und eine Musikhochschule gibt es in Ulan-Ude nicht. In Gesprächen mit Kollegen an der Uni hatte ich immer einmal eingestreut, dass ich übrigens ein Cello suche, wohl wissend, dass der informelle Weg – jemand kennt jemanden, der jemanden kennt – am meisten Erfolg verspricht. Meine Freude war groß, als ich einen Anruf von der Frau des berühmten Dirigenten und Cellisten Michael Baldaev bekam. Baldaev hatte hier in Ulan-Ude jahrelang das Opernorchester geleitet und war seinerzeit mit dem weltbekannten Cellisten Rostropovich befreundet. Die Frau erzählte mir, ihr Mann hätte da ein sehr gutes Cello, auf dem er früher gespielt habe – jetzt ist er über 80 und macht keine Musik mehr. Ein wirklich sehr gutes Instrument. Ob ich hier für längere Zeit bin und auch tatsächlich Musiker sei? Ja, sagte ich mit dem Brustton der Überzeugung, für hiesige Maßstäbe schon, fügte ich gedanklich hinzu. Ja, also, ein historisches italienisches Modell und so weiter. Nur, es befinde sich gerade in Moskau. Bald würde es hergebracht nach Ulan-Ude. Wann genau? Ja, das könne man so nicht sagen. Bald. Ja, dann könnten Sie sich ja bei mir melden, wenn es da ist, sagte ich freundlich und dachte dabei enttäuscht: wahrscheinlich dann in ein paar Jahren. Erledigt.
Heute bekam ich einen Anruf von Maria Michailovna, der Tochter ebenjenes Baldaev. Ich würde doch ein Cello suchen? Sie habe eines, ich solle vorbeikommen. Jetzt.
Es stellte sich heraus, dass Maria Michailovna mit Musik eigentlich nichts zu tun und nur für mich ein weiteres Instrument ihres Vaters aus einem Keller geholt hat. Das Cello erwies sich als durchaus spielbar, es gibt immerhin Feinstimmer, einige Ecken sind abgeschlagen, der Stachel ist nicht höhenverstellbar und dem Bogen fehlen eine Menge Haare, aber egal. Im Korpus klapperte ein Holzstäbchen herum, dass ich durch ein f-Loch herausschüttelte: die sogenannte Stimme, die zwischen Decke und Korpus steht und ohne die das Instrument keinen richtigen Klang hat. Das trübte meine Freude ein wenig, aber in der Hoffnung, einen Geigenbauer zu finden, der mir das Stimmholz fachgemäß einstellt, nahm ich das Cello leihweise mit. Mein Angebot: tausend Rubel im Monat, Vorauszahlung für drei Monate. Maria Michailovna war einverstanden. In Deutschland hätte man jetzt wahrscheinlich einen Leihvertrag und eine Instrumentenversicherung abgeschlossen, eine Schadenskartierung bestehender Schrammen vorgenommen, Mindest- und Höchstleihdauer vereinbart und mir eine gute Hülle dazu mitgegeben. Aber wir sind nicht in Deutschland: die Sicherheit für Maria Michailovna ist mein guter Ruf, sie weiß, wo ich arbeite und kennt die Kollegen an meinem Lehrstuhl. Eingepackt wurde das Instrument in ein dünnes Stoffhüllchen, Stoßabfederung gleich null.
Nun steht es hinter mir, das Cello! Solange ich nicht spielen kann, tröste ich mich damit, anderen zuzuhören. Bereits zweimal habe ich dem Opernteater einen Besuch abgestattet: Pucchinis „Toska“ (eine spannende, dramatische Oper, in deren Verlauf alle Hauptfiguren umkommen) und Verdis „La traviata“. Bass-Sänger Maxim, mein Bekannter, versorgte mich mit Freikarten.
Natürlich hat das Opernorchester kein Gewandhausniveau, aber das stört mich nicht, ich konnte die Musik trotzdem genießen. Mich irritiert eher, dass die Leute hier der Kultur weniger Ernst und Disziplin entgegenbringen. Fünf Minuten nach Beginn des ersten Aktes ebben die Gespräche im Saal langsam ab, und auch im weiteren Verlauf unterhalten sich ältere Damen seelenruhig und lautstark über die Himbeerpreise auf dem Markt oder holen klingelnde Handys aus den Taschen – nicht etwa, um sie auszumachen, sondern – um den Anruf entgegenzunehmen! Nun ja, vor 200 Jahren hat man in Deutschland im Konzert wohl auch nicht so verbiestert geschwiegen wie heute, es ist alles eine Frage der Gewöhnung.

Stimmungsvoll: Operntheater und Springbrunnen am späten Abend
Hoffnungsvoll: ich mit einem - noch reparaturbedürftigen - Cello