Ich möchte nun die Geschichte erzählen,
wie ich zu einem Cello gekommen bin. Es bedarf noch einer Reparatur, aber das
Wichtigste ist geschafft: ich habe ein Cello, ein echtes, ganzes,
wahrscheinlich richtig spielbares Instrument.
In Ulan-Ude gibt es neben dem
Opernhaus das Gebäude der Burjatischen Staatlichen Philharmonie. Hier spielt
kein eigenes Orchester, und auch das Opernorchester scheint nicht konzertant
aufzutreten, sondern etwa einmal in der Woche kommt ein Ensemble oder Solokünstler
vorbei und gibt ein Gastspiel. Dort suchte ich die in der Verwaltung arbeitende
Maria Ivanovna auf, von der ich über eine Bekannte erfahren hatte, sie habe ein
Cello und würde dieses auch verleihen. Als ich nachmittags ihr Büro in der eher
ausgestorben wirkenden Philharmonie betrat, war sie mit zwei Kolleginnen gerade
beim Essen. Bei uns ist immer Mittag, scherzte sie und zeigte mir das
Instrument. Leider erwies es sich als Modell halber Größe, ein
Schülerinstrument, und noch dazu in einem ziemlich schrottigen Zustand: der
Stachel fehlte, und als ich es stimmen wollte, gab es einen Knall und es riss
der Saitenhalter. Macht nichts, meinte Maria Ivanovna, ist eben ein altes
Cello, dann lassen Sie es halt hier. Ich verabschiedete mich so nett wie
möglich.
Sibirien ist nicht die erste
Adresse für europäische klassische Hochkultur. Musikschulen haben wenn
überhaupt nur kleine Schülergrößen von Celli, und eine Musikhochschule gibt es
in Ulan-Ude nicht. In Gesprächen mit Kollegen an der Uni hatte ich immer einmal
eingestreut, dass ich übrigens ein Cello suche, wohl wissend, dass der
informelle Weg – jemand kennt jemanden, der jemanden kennt – am meisten Erfolg
verspricht. Meine Freude war groß, als ich einen Anruf von der Frau des
berühmten Dirigenten und Cellisten Michael Baldaev bekam. Baldaev hatte hier in
Ulan-Ude jahrelang das Opernorchester geleitet und war seinerzeit mit dem
weltbekannten Cellisten Rostropovich befreundet. Die Frau erzählte mir, ihr
Mann hätte da ein sehr gutes Cello, auf dem er früher gespielt habe – jetzt ist
er über 80 und macht keine Musik mehr. Ein wirklich sehr gutes Instrument. Ob
ich hier für längere Zeit bin und auch tatsächlich Musiker sei? Ja, sagte ich
mit dem Brustton der Überzeugung, für hiesige Maßstäbe schon, fügte ich gedanklich
hinzu. Ja, also, ein historisches italienisches Modell und so weiter. Nur, es
befinde sich gerade in Moskau. Bald würde es hergebracht nach Ulan-Ude. Wann
genau? Ja, das könne man so nicht sagen. Bald. Ja, dann könnten Sie sich ja bei
mir melden, wenn es da ist, sagte ich freundlich und dachte dabei enttäuscht: wahrscheinlich dann in ein
paar Jahren. Erledigt.
Heute bekam ich einen Anruf von
Maria Michailovna, der Tochter ebenjenes Baldaev. Ich würde doch ein Cello
suchen? Sie habe eines, ich solle vorbeikommen. Jetzt.
Es stellte sich heraus, dass
Maria Michailovna mit Musik eigentlich nichts zu tun und nur für mich ein
weiteres Instrument ihres Vaters aus einem Keller geholt hat. Das Cello erwies
sich als durchaus spielbar, es gibt immerhin Feinstimmer, einige Ecken sind
abgeschlagen, der Stachel ist nicht höhenverstellbar und dem Bogen fehlen eine
Menge Haare, aber egal. Im Korpus klapperte ein Holzstäbchen herum, dass ich
durch ein f-Loch herausschüttelte: die sogenannte Stimme, die zwischen Decke
und Korpus steht und ohne die das Instrument keinen richtigen Klang hat. Das
trübte meine Freude ein wenig, aber in der Hoffnung, einen Geigenbauer zu
finden, der mir das Stimmholz fachgemäß einstellt, nahm ich das Cello leihweise
mit. Mein Angebot: tausend Rubel im Monat, Vorauszahlung für drei Monate. Maria
Michailovna war einverstanden. In Deutschland hätte man jetzt wahrscheinlich
einen Leihvertrag und eine Instrumentenversicherung abgeschlossen, eine
Schadenskartierung bestehender Schrammen vorgenommen, Mindest- und
Höchstleihdauer vereinbart und mir eine gute Hülle dazu mitgegeben. Aber wir
sind nicht in Deutschland: die Sicherheit für Maria Michailovna ist mein guter Ruf,
sie weiß, wo ich arbeite und kennt die Kollegen an meinem Lehrstuhl. Eingepackt
wurde das Instrument in ein dünnes Stoffhüllchen, Stoßabfederung gleich null.
Nun steht es hinter mir, das
Cello! Solange ich nicht spielen kann, tröste ich mich damit, anderen
zuzuhören. Bereits zweimal habe ich dem Opernteater einen Besuch abgestattet:
Pucchinis „Toska“ (eine spannende, dramatische Oper, in deren Verlauf alle
Hauptfiguren umkommen) und Verdis „La traviata“. Bass-Sänger Maxim, mein
Bekannter, versorgte mich mit Freikarten.
Natürlich hat das Opernorchester
kein Gewandhausniveau, aber das stört mich nicht, ich konnte die Musik trotzdem
genießen. Mich irritiert eher, dass die Leute hier der Kultur weniger Ernst und
Disziplin entgegenbringen. Fünf Minuten nach Beginn des ersten Aktes ebben die
Gespräche im Saal langsam ab, und auch im weiteren Verlauf unterhalten sich
ältere Damen seelenruhig und lautstark über die Himbeerpreise auf dem Markt
oder holen klingelnde Handys aus den Taschen – nicht etwa, um sie auszumachen,
sondern – um den Anruf entgegenzunehmen! Nun ja, vor 200 Jahren hat man in
Deutschland im Konzert wohl auch nicht so verbiestert geschwiegen wie heute, es
ist alles eine Frage der Gewöhnung.
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Stimmungsvoll: Operntheater und Springbrunnen am späten Abend |
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Hoffnungsvoll: ich mit einem - noch reparaturbedürftigen - Cello |