Freitag, 14. Juli 2017

Chamar-Daban



Der Sommer ist die Zeit der Ausflüge in die Natur. Russische Ausflugskultur sieht oft so aus: Man fährt mit dem Auto an einen schönen Ort, packt Einweggeschirr, fettige Salate, viel Fleisch und reichlich Alkohol aus, macht ein Lagerfeuer, dreht die Musik im Fahrzeug auf, vergnügt sich so ein paar Stunden und fährt dann, seinen Müll an Ort und Stelle hinterlassend, wieder nach Hause.

Ein Betriebsausflug an den beliebten Hechtsee mit Arbeitskollegen meiner Freundin, ganz normale Lagerarbeiter, unkomplizierte, einfache Russen und Burjaten. Auf dem Hinweg im Bus gibt es Bier aus der Flasche, man macht sich nicht die Mühe, zum Trinken an „heiligen Orten“ anzuhalten, wie es der schamanische Brauch verlangt. Baden, essen, trinken, herumfluchen. Auf dem Rückweg, nachdem die Hälfte schon nicht mehr gerade gehen kann, wird der 60-prozentige Selbstgebrannte ausgepackt, ein hochwertiges Naturprodukt, leckerer als Wodka, nur mit Whisky zu vergleichen. Lautes Singen und Grölen, dann erschöpftes Schweigen. Plötzlich passiert irgendetwas, man brüllt sich an, wird handgreiflich. „Wenn ihr nicht trinken könnt, dann müsst ihrs lassen“, schreit der Fahrer und fährt weiter. Ich bekomme Angst und flüchte mich zu ihm nach vorn. „Na, das hättest Du nicht gedacht?“, meint er zu mir, während die Prügelei hinter mir leicht abflaut. „Sowas passiert öfters. Wir können froh sein, dass sie nicht mit Messern aufeinander losgehen.“ Spricht nicht unbedingt für den Zustand der Gesellschaft, geht es mir durch den Kopf und ich bitte darum, uns bei der nächsten Gelegenheit aussteigen zu lassen. -

Der Baikalsee, selbst 456 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, wird von allen Seiten durch Berge eingerahmt, die ungefähr zwei weitere Kilometer aufragen. Keiner der Gebirgszüge hat einen überregional bekannten Namen wie „Kaukasus“ oder „Altai“: im Süden das Chamar-Daban-Gebirge, im Westen der Sajan, an der Westküste das Primorski- und das Baikalski-Gebirge, im Nordosten der Bargusin-Rücken. Gerade sind Niso und ich von unserer für diesen Sommer letzten Wanderung zurückgekehrt, die uns auf den Pik Tscherskowo (2090m) im Chamar-Daban führte. Der Gipfel ist bei den Irkutskern recht beliebt – schön, dass es auch noch einen anderen Typ von Ausflüglern gibt, Leute, die den 20 Kilometer langen Weg durch Taigawald und baumfreie Höhen von Sljudjanka aus mit Rucksack und Zelt zurücklegen. Mitte Juli ernähren Walderdbeeren und Zhimolost (die länglichen blauen Beeren der Heckenkirsche) die Wanderer; die Zeit der Blau- und Preiselbeeren ist noch nicht angebrochen.

Auf dem Rückweg besuchten wir noch Bekannte von Niso in Wydrino, deren Garten im Wesentlichen aus einem großen Erdbeerfeld besteht. Ein wesentlicher Zuverdienst im Sommer besteht für die Familie darin, diese – und andere Waldbeeren – am Bahnsteig an Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn zu verkaufen. Für den Handel durch die geöffnete Wagentür bleiben pro Zug – etwa drei sind es am Tag – genau zwei Minuten Zeit, längere Halte gibt es nicht. Mich beeindruckte die 81jährige Prababushka, die Urgroßmutter, die im Garten in der Sonne saß und friedlich ihrer Handarbeit nachging. Der öffentliche Brunnen hinter dem Haus hat kein Wasser mehr, seit nach dem letzten etwas größeren Erdbeben im Jahre 2008 der Grundwasserspiegel sank; man hat sich auf dem  Grundstück ein eigenes, tieferes Brunnenloch angelegt. Seit einigen Jahren sinkt auch der Wasserspiegel des Baikal, was in Wydrino allerdings erfreuliche Folgen hatte: wo früher nur Geröllküste war, ist nun ein langer Sandstrand zum Vorschein gekommen.-
 
Übermorgen fliege ich nach Deutschland. Ich freue mich auf grüne Wiesen und Laubwälder, auf guten Käse und ordentliches Brot, auf saubere Fußwege, bequeme öffentliche Verkehrsmittel, auf meine Verwandten und Freunde und darauf, meiner Freundin, die eine Woche später nachkommt, mein Heimatland zu zeigen.

Die Urgroßmutter im Erdbeergarten
Im Chamar-Daban-Gebirge - im Hintergrund der Baikal (oben)


Freitag, 7. Juli 2017

Glinka



Mit weichen Knien, nassen Füßen und schmerzendem Rücken stehe ich in Glinka am Ufer und lausche, wie die vom Wind aufgepeitschten Wellen mit weißer Gischt an den Geröllstrand klatschen. An einem so stürmischen und nebligen Tag, wenn die gegenüberliegenden Berge sich dem Blick entziehen, kann man tatsächlich den Eindruck haben, an einem Meer zu stehen und nicht an einem See. Nur der Salzgeschmack in der Luft fehlt – und der direkte Vergleich würde auch zeigen, dass das Geräusch der Wellen ein anderes ist, Meerwasser ist zäher, sein Anbrausen und Aufspritzen klingt klebriger, schwerer. Gerade bin ich den so genannten, recht gut markierten „Pfad der Herausforderung“ anderthalb Höhenkilometer nach oben und wieder nach unten gelaufen. Nebel, Sichtweite dreißig Meter, null Ausblick – erst beim Abstieg, als schon fast die Waldgrenze wieder erreicht war, vertrieb der Wind die Wolken und es öffnete sich ein Bild wie aus dem Flugzeugfenster: über die Bargusin-Bucht, die Tschivirkuj-Bucht und die Landzunge zwischen ihnen mit dem längsten Sandstrand des Baikal, der sich in ästhetisch sanft geschwungenem Bogen derart perfekt dahinzieht, als wäre er künstlich angelegt.

Die Siedlung Glinka auf der Halbinsel Heilige Nase hat etwa acht Häuser und einen Einwohner. Bis zu den sechziger Jahren gab es hier wohl ein richtiges Fischerdorf. In den Neunzigern errichtete ein Unternehmer eine Art Ferienhaussiedlung. Als alles zur Inbetriebnahme bereit war, brannte das Hauptgebäude ab. Ein monumentales, birkenüberwuchertes Steinfundament zeugt von den großen Plänen, ein verfallenes Holztor über dem Fahrweg, kleinere und größere Holzhütten in verschieden ruinösem Zustand. Etwas Farbe ins Bild kommt durch neue, auffällige rote Schilder: „Privateigentum, Betreten verboten, bewaffneter Wächter, Videoüberwachung“. Der Wächter in dem einzig intakten Gebäude wacht wohl darüber, dass niemand den natürlichen Verfall aufhält – oder ihn etwa beschleunigt, indem er Bretter und Dachpappe klaut. Es ist wie so oft hier im Land: jemand hatte eine Idee, aber es ist nichts draus geworden; die Reste bleiben für die Nachwelt noch ein paar Jahrzehnte erhalten.

Die Halbinsel Heilige Nase gehört zum Sabaikalskij-Nationalpark. Für einen Eintritt bekommt man die Erlaubnis, ihn zu betreten oder zu befahren und darf sich auf den sandigen Straßen und Pfaden frei bewegen – es sei denn, es gelten aufgrund großer Trockenheit gerade besondere Brandschutzbestimmungen; dann ist eine gesonderte Erlaubnis von der Nationalparkverwaltung erforderlich, die gegen das Versprechen, kein Lagerfeuer zu entzünden, erteilt wird. An den Ufern des Baikals, seit 1996 UNESCO-Weltnaturerbe, gibt es insgesamt 10 Schutzgebiete: drei Reservate (russ. Sapovednik – hier sind die Bestimmungen am strengsten), zwei Nationalparks und fünf Naturschutzgebiete (russ. Sakasnik). Zu den ersten beiden gibt es in Deutschland von der Strenge des Schutzstatus her keine Gegenstücke.

Großflächig verkohltes Unterholz und schwarze Stämme der Birken und Kiefern zeugen von dem Waldbrand, der im Jahre 2015 auf der Heiligen Nase wütete. In diesem Jahr erfolgt die Brandbekämpfung in der Baikalregion teils mit künstlichem Regen: ein Flugzeug schießt von oben Chemikalien in die Wolken, damit sie sich abregnen. Seit letztem Wochenende ist eine lange Hitzephase erst einmal vorbei, ob die Regenfälle der vergangenen Tage nun künstlich sind oder natürlich, weiß man nicht genau. Schon in den letzten Jahren hätten die Mongolen künstlich Niederschlag erzeugt, heißt es, weshalb damals in den nach Burjatien weiterziehenden Wolken kein Wasser mehr übrig blieb.

Als ich mein Zelt aufstelle und Dozhirak-Schnellkochnudeln in den Aluminiumtopf auf dem Gaskocher werfe, hat der Regen zum Glück aufgehört. Der Nebel ist verschwunden, am anderen Ufer lassen sich die Siedlungen Ust-Bargusin und Maximicha vor der blaugrauen Bergkulisse erahnen. Der Baikal ist eigentlich kein Meer, aber vielleicht ist er ja das Meer der Zukunft – wenn man den Wissenschaftlern Glauben schenkt, die errechnet haben, dass seine Ufer jedes Jahr um zwei Zentimeter auseinanderdriften.

Bis vor drei Jahren fuhr hier in Ust-Bargusin die Fähre über den Fluss (oben), inzwischen gibt es eine Brücke (unten im Hintergrund)
Einige der verfallenden Hütten in Glinka taugen noch als Regenschutz beim Frühstück (oben); die Natur holt sich ihr Reich zurück (unten)
Zeltplatz zwischen verkohlten Baumstämmen - Ergebnis des Waldbrandes 2015 (oben); keine Sicht beim Aufstieg (unten)

Eine lange Sandzunge verbindet die Heilige Nase mit dem Festland (oben), Blick auf die Tschivirkuj- und die Bargusin-Bucht (unten, ganz unten)
Der Berggrat auf der Heiligen Nase, auf dem der "Pfad der Herausforderung" verläuft