Mittwoch, 9. September 2015

Babuschkin

Als im Jahre 1903 der durchgehende Verkehr auf der transsibirischen Eisenbahn eröffnet wurde, fehlte noch ein wichtiges Stück der Bahnstrecke: die südlich am Ufer des Baikalsees verlaufende Strecke war noch nicht fertiggestellt, weil das Gelände sehr schwierig war und viele Tunnels gesprengt werden mussten. Man behalf sich, indem man ganze Eisenbahnzüge im Sommer mit der Fähre und im Winter mit Pferdefuhrwerken über das Eis beförderte. Anlegestelle am Ostufer war der Ort Babuschkin, heute ein eher bedeutungsloses Dorf drei Fahrtstunden von Ulan-Ude entfernt. Hierhin führte mich mein letzter Sonntagsausflug.
Ich entschied mich, mit der Elektritschka zu fahren, dem Vorort-Bummelzug, der vor allem von Rentnern genutzt wird, die sich zu ihren Datschen begeben. Die Elektritschka fährt zunächst auf einer landschaftlich wunderschönen Strecke entlang des Flusses Selenga nach Norden. Nach etwa einer Stunde waren fast alle Rentner ausgestiegen, und ich befand mich für die restlichen zweieinhalb Fahrtstunden so gut wie allein im Zug. Im Dorf Bolschaja Retschka stieg ein alter, gebeugter Mann am Stock zu, humpelte durch den Wagen und machte an meinem Platz halt. Ich schaute gerade aus dem Fenster hinaus auf den Baikalsee, der soeben in Sichtweite geraten war, und studierte die Landkarte.
„Schön, was?“
„Ja, sehr schön hier!“
„Engländer?“
„Nein, Deutscher.“
Der Mann setzte sich neben mich, und so hatte ich einen Gesprächspartner bis zum Ende der Fahrt. Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls nach Babuschkin fuhr, um sich dort in der örtlichen Banja zu waschen, da er zuhause kein fließendes Wasser hat (wie auch niemand sonst in seinem Dorf). Ich freute mich über die Begegnung, musste mir nur Mühe geben, nicht auf seine völlig vergammelten Zähne zu achten. Er war 73 Jahre alt, schimpfte über die Beamten, die die schrecklichen Waldbrände in diesem Sommer zugelassen hätten, schüttelte verständnislos den Kopf darüber, dass die Sowjetunion kaputtgemacht wurde und zeigte im Vorbeifahren auf einige Klippen im See, die eigentlich nie sichtbar wären – aufgrund des trockenen Sommers ist auch der Wasserstand des Baikal ungewöhnlich niedrig.
Auf dem Rückweg trafen wir uns wieder in der gleichen Elektritschka. Unterwegs standen wir wegen Stromausfalls eine Stunde auf der Strecke. Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit kam ich wieder in Ulan-Ude an, gemeinsam mit vielen unterwegs zugestiegenen Senioren mit großen Tüten und Taschen, in denen sie die Ernte von der Datsche transportierten.

Als ehemaliger botanischer Gärtner versuche ich, die Bäume hier zu benennen und pflücke gelegentlich im Vorübergehen das eine oder andere Blatt ab, das ich dann in einem Buch der 36-bändigen „Großen Sowjetischen Enzyklopädie“ von 1972 trockne, die in meinem Wohnzimmer steht. Im Wesentlichen gibt es in der Stadt Ulmen (!) mit dem typischen asymmetrischen Blattansatz, Eschenblättrigen Ahorn, Pappeln mit ledrigen Blättern und Akazien. Interessant ist, dass die Stämme vieler Bäume weiß gekalkt sind.
Der ehemalige Fähr-Anleger in Babuschkin

Alter Leuchtturm am früheren Hafen

Wenig behindertenfreundlich: Einstieg in eine Elektritschka

Blick in das Innere einer Elektritschka. Die Wagen sind breiter als in Deutschland