Als im Jahre 1903 der durchgehende Verkehr auf der
transsibirischen Eisenbahn eröffnet wurde, fehlte noch ein wichtiges Stück der
Bahnstrecke: die südlich am Ufer des Baikalsees verlaufende Strecke war noch
nicht fertiggestellt, weil das Gelände sehr schwierig war und viele Tunnels
gesprengt werden mussten. Man behalf sich, indem man ganze Eisenbahnzüge im
Sommer mit der Fähre und im Winter mit Pferdefuhrwerken über das Eis
beförderte. Anlegestelle am Ostufer war der Ort Babuschkin, heute ein eher
bedeutungsloses Dorf drei Fahrtstunden von Ulan-Ude entfernt. Hierhin führte
mich mein letzter Sonntagsausflug.
Ich entschied mich, mit der Elektritschka zu fahren, dem
Vorort-Bummelzug, der vor allem von Rentnern genutzt wird, die sich zu ihren
Datschen begeben. Die Elektritschka fährt zunächst auf einer landschaftlich
wunderschönen Strecke entlang des Flusses Selenga nach Norden. Nach etwa einer
Stunde waren fast alle Rentner ausgestiegen, und ich befand mich für die
restlichen zweieinhalb Fahrtstunden so gut wie allein im Zug. Im Dorf Bolschaja
Retschka stieg ein alter, gebeugter Mann am Stock zu, humpelte durch den Wagen
und machte an meinem Platz halt. Ich schaute gerade aus dem Fenster hinaus auf
den Baikalsee, der soeben in Sichtweite geraten war, und studierte die
Landkarte.
„Schön, was?“
„Ja, sehr schön hier!“
„Engländer?“
„Nein, Deutscher.“
Der Mann setzte sich neben mich, und so hatte ich einen
Gesprächspartner bis zum Ende der Fahrt. Es stellte sich heraus, dass er
ebenfalls nach Babuschkin fuhr, um sich dort in der örtlichen Banja zu waschen,
da er zuhause kein fließendes Wasser hat (wie auch niemand sonst in seinem
Dorf). Ich freute mich über die Begegnung, musste mir nur Mühe geben, nicht auf
seine völlig vergammelten Zähne zu achten. Er war 73 Jahre alt, schimpfte über
die Beamten, die die schrecklichen Waldbrände in diesem Sommer zugelassen
hätten, schüttelte verständnislos den Kopf darüber, dass die Sowjetunion
kaputtgemacht wurde und zeigte im Vorbeifahren auf einige Klippen im See, die
eigentlich nie sichtbar wären – aufgrund des trockenen Sommers ist auch der
Wasserstand des Baikal ungewöhnlich niedrig.
Auf dem Rückweg trafen wir uns wieder in der gleichen
Elektritschka. Unterwegs standen wir wegen Stromausfalls eine Stunde auf der
Strecke. Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit kam ich wieder in Ulan-Ude an,
gemeinsam mit vielen unterwegs zugestiegenen Senioren mit großen Tüten und
Taschen, in denen sie die Ernte von der Datsche transportierten.
Als ehemaliger botanischer Gärtner versuche ich, die Bäume hier zu benennen und pflücke gelegentlich im Vorübergehen das eine
oder andere Blatt ab, das ich dann in einem Buch der 36-bändigen „Großen Sowjetischen
Enzyklopädie“ von 1972 trockne, die in meinem Wohnzimmer steht. Im Wesentlichen
gibt es in der Stadt Ulmen (!) mit dem typischen asymmetrischen Blattansatz,
Eschenblättrigen Ahorn, Pappeln mit ledrigen Blättern und Akazien. Interessant
ist, dass die Stämme vieler Bäume weiß gekalkt sind.
Der ehemalige Fähr-Anleger in Babuschkin |
Alter Leuchtturm am früheren Hafen |
Wenig behindertenfreundlich: Einstieg in eine Elektritschka |
Blick in das Innere einer Elektritschka. Die Wagen sind breiter als in Deutschland |