Freitag, 15. Juli 2016

Fragen an meine Schwester




Christiane, als Du in Ulan-Ude durch die Straßen gelaufen bist... was ist Dir aufgefallen, was ist anders als in Deutschland?

Also da gibt es viele kleine Dinge. Zum Beispiel rennen die Leute mit einem Becher Kwass in der Hand herum statt mit einem Kaffee to go. ( Apropos Kaffee: bei Thomas haben wir gerne welchen getrunken. Das dunkle Pulver hatte er offensichtlich in einer grünen Tasse aufbewahrt. Eines morgens hatte ich wirklich große Lust auf einen aromatischen Kaffee, und habe mir welchen aus dem dunklen Pulver aufgebrüht. Nun, er schmeckte sehr bitter, überhaupt nicht wie Kaffee. Lediglich die Farbe stimmte überein. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass es sich hierbei nicht um eine spezielle sibirische Kaffeesorte handelte, sondern dass ich mir irgendein Gesöff mit Faulbaumpulver aufgegossen hatte. Trinken wollte das dann keiner.)
Außerdem gibt es keine schönen Männer (nichts gegen die russische Männlichkeit) bzw. habe ich keinen gesehen. Die Frauen dagegen sind oft recht hübsch und haben meist hohe Schuhe und Kleider an, ich glaube, bei uns sind sie allgemein sportlicher gekleidet.
Werbung erreicht einen nicht nur visuell, sondern tönt auch aus Lautsprechern auf die Straße. Außerdem wird man oft angequatscht und soll irgendwelche Flyer (zum Schuhe ausstopfen geeignet) mitnehmen.
Wie Thomas schon oft beschrieben hat, bestehen viele Jobs aus scheinbar nichtigen Dingen, wie zum Beispiel in einem geschlossenen öffentlichen Gebäude rumsitzen und den Pförtner, der eigentlich auch nichts zutun hat, unterstützen.(Wobei auch immer.)
Was mich am Anfang auch gewundert hat, war, dass überall Leute vom Militär oder Polizisten zu sehen sind. Thomas meinte dazu nur, das sei hier eben Russland. Es gilt hier auch als „cool“, in Uniformen rumzulaufen.
Trotz der großen Hitze hatten viele lange Sachen an. Das scheint man hier einfach gewohnt zu sein. Der Verkehr hier ist recht wild, die Autos schrammen nur knapp an einem vorbei. Es gibt zwar tausend Fußgängerüberwege, aber sicher habe ich mich beim Überqueren derer nicht gefühlt^^ Super fand ich die Ampeln mit Sekundenanzeige, woran man ablesen kann, wie lange noch grün oder rot ist. Auch wenn die Grün-Zeiten immer sehr knapp bemessen waren, keine Ahnung wie das ältere Bürger schaffen sollen, scheinen alle gut zurechtzukommen.
Antiabtreibunspropaganda kenne ich aus Deutschland nicht. In Ulan-Ude hat man einige solche Plakate gesehen, z.b. stand dort „Mutti, ich werde später deine Gehilfin“ oder ähnliches. Seltsam, seltsam. Das liegt wohl mit an dem Einfluss der Kirche, den es hier wohl eher als in Deutschland noch gibt.
Ebenso auffällig war, dass hier die Leute gerne Selfies machen. Nicht nur Teenager, auch Menschen über 40 packen wie selbstverständlich ihre Selfiesticks aus und machen 10 Bilder von sich, und als peinlich scheint das hier nicht zu gelten. Bei uns würden alle über so eine offensichtliche Selbstdarstellung nachsichtlich schmunzeln und sich freuen, dass sie selbst das nicht nötig haben. Nun ja.


Was hat Dich in Russland positiv beeindruckt? Und was war Dir eher unsympathisch?

Ich hatte mir alles ärmlicher vorgestellt, aber da wir hauptsächlich in der Stadt waren, gab es natürlich auch viele Westprodukte. Die Menschen waren alle eher schick gekleidet, unabhängig von dem doch meistens sehr niedrigen Einkommen. Sehr entspannt fand ich die öffentlichen Busse, die eher großen Familienautos ähnelten und die Bezahlung dort. Man durfte erstmal bedingungslos einsteigen und mitfahren und hat erst beim Aussteigen dem Fahrer 20 Rubel in die Hand gedrückt, egal wie lange oder weit man mitgefahren ist. Der buddhistische Tempel, den wir besucht haben, hat mir auch sehr gefallen, vor allem der Weg rundherum, ein Holzweg mit einer Laube für jedes der 12 Tiere, die zum Geburtsjahr eines Menschen gehören. Die Waldtiere, wie Eichhörnchen und Vögel, wirkten sehr zutraulich hier. Auf den Dörfern laufen Kühe und Ziegen frei herum, Schafe ebenso. Das ist schön, dass es auch Tierhaltung gibt, die nicht nur auf Kommerz, Gewinn und Ausschlachtung basiert.
Im Gegensatz dazu fand ich die Markthalle in der burjatischen Hauptstadt ziemlich ekelhaft, da einem schon beim Eintreten der Geruch nach Leichen und rohem Fleisch entgegenschlägt. Mir tut es immer weh, wenn ich sehe, wie die Leute hemmungslos und lächelnd die toten Körperteile von Lebewesen, die nicht weit unter uns stehen (wenn überhaupt) verkaufen. Man stelle sich vor, dies seien Menschenteile. Würde man das dann auch einfach so als normal betrachten und sich über die guten Nährwerte unterhalten? Generell wird in Russland viel Fleisch und Fisch gegessen, dabei hat man auch hier schon längst andere Möglichkeiten und ist nicht mehr auf Fischfang und Jagd angewiesen. Es war aber kein Problem für mich, mich hier vegetarisch zu ernähren, wie ich dachte. Nicht jede Teigtasche ist mit Fleisch gefüllt. Und mir ist es hier auch nicht passiert, dass jemand behauptete, es sei vegetarisch, und dann befanden sich doch kleine Schinkenstückchen in der Suppe. (Das musste ich leider schon erleben. Es ist leider nicht allgemein bekannt, das vegetarisch bedeutet, überhaupt kein Totes zu essen, egal in welchen geringen Mengen!) Leider ist diese Ernährungsform hier noch nicht wirklich angekommen, aber man hofft.
Wie natürlich jeder weiß, ist Russland bekannt für den Alkohol, besonders für den Wodka. Nun, viele Männer sehen tatsächlich recht versoffen aus. Wenn man bei uns jemanden als Straßensäufer identifizieren würde, dann wäre einer mit dem gleichen Aussehen hier wahrscheinlich ein normaler Familienvater, der „einfach gerne trinkt“. Da wir aber abends eigentlich nicht mehr draußen waren, haben wir in der Richtung nicht soviel mitbekommen. (Eine Begegnung mit dem Nachbarn von Thomas, welcher sabbernd zu uns hineinwollte, weil Mutti und ich den Riegel nicht schnell genug vorgeschoben haben, war hier eher die Ausnahme.)
Bei uns in Deutschland gibt es nun zum Glück strengere Gesetze, was Plastiktüten angeht. Hier wird jedes Gebäckstück in eine eigene solche Tüte getan. Dass das Erdöl knapp ist, scheint hier noch nicht angekommen zu sein. (Man stelle sich vor, was eine riesige Nation wie Russland ohne diese Unmengen an Plastikbeuteln einsparen könnte.)
Befremdlich fand ich den Gottesdienst in einer russisch-orthodoxen Kirche. Dieses traditionelle, scheinbar nicht hinterfragendes Gebaren kommt mir einfach nicht mehr zeitgemäß vor. Dass es sich wirklich nur noch um Tradition handelt, wird zum Beispiel bei den Kopftüchern deutlich. Frauen müssen in der Kirche welche tragen, um ihre „weiblichen Reize“ zu bedecken. (Welchen Grund sollte es sonst haben, dass dies bei Männern nicht verlangt wird?) Nun, am strengsten handhaben diese Regel die alten Mütterchen.... Man komme nun selbst darauf, was ich meine.
Eine superchristliche junge Frau im Gottesdienst küsste, wie so viele andere auch, die hinter Glas gesetzten Füße eines Bildes des Gekreuzigten, und nachdem ihr Sohn dies nicht tat, sagte sie ihm streng ein paar Worte, um ihn ach dazu aufzufordern. Später brannten von ebendieser Frau die Haare, da habe ich mich unglaublich erschrocken. Sie stand neben mir und hatte sich heruntergebeugt um irgendeinen anderen Heiligen zu küssen, da kamen ihre langen, unter dem Kopftuch hervorquellenden Haare in eine der tausend Kerzen, die in der Kirche standen und Flammen züngelten hindurch. Zum Glück hat sie es schnell gemerkt und das Feuer hastig ausgeklopft.

Wie war es am Baikal? Ist der See so, wie Du ihn Dir vorgestellt hast?

Insgesamt 3 Mal war ich dort. Der See ist ja sehr bekannt für seine Größe, man fühlt sich davor stehend wie am Meer. Ungefähr so hatte ich es mir auch vorgestellt. Das erste Dörfchen kam mir etwas trostlos vor, kein Mensch zu sehen, außer zwei versoffener Männer, die sich gerne mit uns unterhalten hätten. Beim zweiten Besuch, wo es auch die heiße Quelle gab, war es deutlich voller. Ich denke, typisch für die Gegend am Baikalsee ist, dass man sowohl Berge, als auch „Meer“ hat. Bei uns gibt es ja beides nur einzeln, doch der Baikalsee ist gerahmt von wunderschön bewaldeten Hügeln. Baden waren wir erst bei unserem dritten Besuch am Baikal. Das war wundervoll, der weite Blick, die Landschaft, das Gefühl, so weit weg zu sein und trotzdem alles irgendwie gar nicht so fremd. Die Sommertemperaturen waren besser auszuhalten am See, vor allem für unsere liebe Mutter.

Erzähle doch mal etwas über interessante Menschen, die Du getroffen hast.

Oh, na das fing schon sehr früh an, da Thomas sehr kontaktfreudig ist und verschiedene Bekannte und Freunde ihn immer gern besuchen möchten. An unserem zweiten Abend kam Alexej alias Ljoscha vorbei, der gerade von einer Durchquerung der Wüste Gobi kam und sich auf der Heimreise befand. Er konnte kein Englisch und wir kein Russisch, also haben wir uns nicht unterhalten. Das war aber nicht schlimm, er sah interessant genug aus, da waren spannende Erzählungen gar nicht nötig. Man sah ihm an, dass er zäh war. Außerdem war er sehr „leicht“. Aber er habe in der Wüste wohl nur 3 Kilo abgenommen.
Sehr gefreut haben wir uns darüber, Niso kennengelernt zu haben. Auch mit ihr sprachen wir keine gemeinsame Sprache, aber entweder hat Thomas übersetzt oder wir haben uns nur angelächelt und ich habe meine tollen Wortkenntnisse „Danke“, „Hallo“, „Käse“ und „Schmetterling“ angewendet. Ich glaube, wir waren uns alle sehr sympathisch. Thomas hat sich unterwegs ständig mit irgendwelchen Leuten unterhalten, die gehört haben, dass wir Ausländer sind. Meistens hatte ich keine Lust, immer wieder Smalltalk zu führen, aber Thomas schien da unermüdlich zu sein. Für alle das erste mal war die Begegnung mit einem alten Mütterchen, einer Wolga-Deutschen.
Insgesamt haben wir schon viele Bekanntschaften geschlossen dank meinem Bruderherz. Seine Institutsleiterin hat uns eingeladen und ein kleiner Enkel sprang bei ihr herum. Ihre Tochter konnte auch Deutsch sprechen und ihr Mann meinte zu uns, dass er ganz verlegen sei bei solchen Gästen. Ein Glas Wein bekamen wir auch, auf Thomas Ablehnung kam die Frage, ob er lieber etwas Stärkeres wolle. Es hat sich wohl noch nicht so rumgesprochen, dass er ohne Ausnahme Alkoholabstinenz ausübt. Den bald berühmten Opernsänger Maxim haben wir auch getroffen. Ein sympathischer junger Mann, der gerne Bier trinkt und in Deutschland studieren möchte. Belustigt zeigte er uns Bilder, die er in Deutschland gemacht hatte, unter anderem von einem schwulen Pärchen oder großen „Ob rauf oder runter, Benutzt Kondome“-Plakate. So etwas kommt wohl in Russland eher selten (bis gar nicht) vor. Schön, dass Deutschland in dieser Hinsicht schon so weit ist.

Möchtest Du nochmal nach Russland reisen? Hast Du vielleicht Lust bekommen, Russisch zu lernen?

Ja ich habe schon Lust, dieses Land mal wieder zu besuchen, vielleicht an anderen, neuen Ecken. Aber es steht bei mir nicht an vorderster Stelle. Erstmal geht es in einem Jahr ins Ausland, mal sehen, wohin es uns da verschlägt. Der asiatische Raum kommt jedenfalls in Frage, aber wir müssen auch schauen, wo wir von irgendeiner Organisation angenommen werden.
Ich finde es zwar immer faszinierend, wenn man eine eher untypische Fremdsprache sprechen kann und mit der russischen Sprache kann man sich zwar einen sehr großen Raum erschließen, aber erstmal möchte ich mein Englisch verbessern und natürlich wäre es auch schön, meine eher spärlichen Kenntnisse in Französisch nicht ganz zu verlieren. Aber wer weiß, was später kommt. Ich bin jedenfalls sehr froh, diese Reise soweit weg von meinem Heimatland gemacht haben zu dürfen und freue mich auf Einblicke in viele neue Kulturen in der Zukunft. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Thomas, der sich so super macht als Reiseleiter von uns unerfahrenen, bestimmt auch manchmal nervigen Frauen, immer geduldig ist und neue Ideen hat und – ganz wichtig - nie müde wird, immer alles zu übersetzen, was jemand von sich gibt.(Naja, zumindest was er für wichtig erachtet ;) ) Danke, dass du uns dies ermöglicht hast. 


Mit Musik durch Moskau

Ein intelligent aussehender junger Mann betritt den Waggon, mit einem CD-Spieler und einer Querflöte in der Hand. Er stellt das Gerät auf der vordersten Sitzbank neben einer älteren Frau ab, schaltet es ein, setzt sein Instrument an die Lippen und beginnt eine Melodie zu spielen, während aus dem Lautsprecher das Hintergrundorchester tönt. Musiker in einem Moskauer Vorortzug, einer Elektritschka – durchaus ein übliches Ereignis. Um vom Flughafen Domodedovo bis zum Paveletsker Bahnhof zu kommen in der Innenstadt, haben wir uns für die Elektritschka entschieden, 120 Rubel pro Person, statt für den dreimal so teuren Aero-Express, und nehmen dafür auch gern in Kauf, dass der Zug an jeder kleinen Station hält und doppelt so lange unterwegs ist, eine Stunde und 15 Minuten.

In der U-Bahn-Station Kurskaja: wir stehen auf der Rolltreppe, die uns Richtung Ausgang bringt, und hören aus der vor uns liegenden unterirdischen Halle anwachsende klassische Klänge. Musiker in der Metro! Das ist illegal, so viel ich weiß, lange werden sie wohl nicht dort sitzen. Eine Geigerin und ein Gitarrist sind es, wie sich herausstellt, sie spielen mit Verstärker, sitzen auf einem roten Teppich an der Wand, und ein paar Schritte weiter lehnt ein Polizist lässig an einer Säule und hört zu. Ich bin verwirrt – es macht nicht den Eindruck, als ob er sie jeden Moment wegjagen wird. Hinter den Musikern an der Wand sehen ich schließlich ein offizielles Schild: Unentgeltlicher Auftritt, Vergütung nach Ermessen des Publikums. Ich bin begeistert und fühle mich an Berlin erinnert: hat also Moskau nun auch das Musizieren in den U-Bahnhöfen gestattet! Der Gitarrist gibt mir Auskunft: es gab ein Probespielen, nach welchem die Musiker ausgewählt wurden; das ist anders als in der deutschen Hauptstadt, wo man lediglich eine Genehmigung kaufen muss. - An einem Touristeninfo-Schalter lasse ich mir eine Wegdarstellung zu unserem Hostel ausdrucken. Noch vor zwei Jahren wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Moskau entwickelt sich, wird schick und modern - spätestens zur Fußball-WM 2018 will die Stadt der Welt zeigen, dass sie westlichen Hauptstädten in nichts nachsteht.

Mit Mutter und Schwester bewegen wir uns auf den Roten Platz zu, das Zentrum Moskaus schlechthin. Schon aus großer Entfernung wehen uns die pathetischen Klänge der russischen Nationalhymne entgegen. Erhebender kann die Annäherung an das Herz Russlands, an Kreml, GUM und Basilius-Kathedrale nicht sein. Der Platz ist durch Metallzäune und hunderte Polizisten abgesperrt, wir erleben marschierende Kadetten, eine Militärparade. Ist denen das nicht peinlich, fragt meine Schwester, so im Gleichschritt zu laufen, das ist doch total albern. Aber wieso denn, kläre ich sie auf, der Heimat dienen, das Vaterland verteidigen, Glied eines Großen Ganzen sein, Muskeln und Macht zeigen, das sind Werte hier, das ist Russland.

Wir umrunden den Kreml, anderntags spazieren wir vorbei am gigantomanischen Gebäude der Lomonossov-Universität – bis 1990 das höchste Gebäude Europas – und schauen uns Moskau von den Sperlingsbergen aus von oben an. Heute fliegen wir zurück nach Deutschland, für mich beginnen drei Wochen Heimaturlaub - meine Leser begrüße ich an dieser Stelle wieder im August.

Montag, 11. Juli 2016

Transsib, Taiga, tote Tiere



Mit einem Sprung auf den Gleisbett-Schotter begann unser Wochenende in Tanchoi, einer kleinen Siedlung an der Küste des Baikals, wohin wir vor der drückenden Hitze im staubigen, schwülen Ulan-Ude fliehen wollten. Da der Bahnsteig sehr viel kürzer war als der Zug, sprangen wir einfach ins Nirgendwo von dem hohen Wagen herunter, nachdem uns die Zugbegleiterin die Tür geöffnet und die Treppe ausgeklappt hatte. Uns empfing das satte Grün der Vegetation und Regen; Tanchoi, am Südostufer gelegen, gehört zu den niederschlagsreichsten Orten am See.

Ich habe insgesamt einige Wochen meines Lebens in russischen Zügen zugebracht und wollte, dass auch meine Mutter und Schwester Christiane einmal die Transsibirische Eisenbahn kennenlernen. Unser Zug kam aus dem Osten, von Tschita, und würde noch über drei Tage weiter fahren, nach Moskau; wir erlebten einen kleinen, vierstündigen Ausschnitt der Strecke: aus dem Fenster schauende Omas, lesende Enkelkinder, schlafende junge Kerle, zwischendurch der Gang zum Heißwasserkessel, um anschließend aus den – kostenlos für die Dauer der Fahrt erhaltenen – typischen russischen, in einer Metalleinfassung stehenden Eisenbahngläsern Tee zu schlürfen. An uns vorbeiziehend malerische Berge und Steppe, dann das Ufer, kleine Holzhäuser, die wohl auch zu Dostojewskijs Zeiten schon so aussahen. Neben mir saßen zwei bis Irkutsk fahrende Omis, die sich für die Stricknadeln meiner Mutter interessierten: nicht aus Holz (zerbricht leicht), und nicht aus Metall (tut an der Hand weh), sondern aus Bambus, erklärte diese. „Du hast eine schöne Mutter und Schwester“, rief mir die eine Omi hinterher, bevor wir ausstiegen.

Mit uns unterwegs war meine aus Tadschikistan stammende Freundin Niso, zwei Jahre jünger als ich, einen halben Kopf kleiner, mit langem kastanienbraunen Haar und zierlich geschnittenem Gesicht, die ich beim Tangotanzen kennengelernt habe und mit der ich vor etwa 4 Monaten zusammengekommen bin. Niso hat mit meinen Verwandten keine gemeinsame Sprache, was der guten Stimmung in unserer kleinen Gruppe keinen Abbruch tat. Wenn nötig, konnte ich dolmetschen, wobei es Christiane interessant fand festzustellen, was von ihren Worten ich für wichtig hielt und was für offensichtlich weniger bedeutsam, da ich es nicht übersetzte. „Eine hübsche Freundin hast du dir ausgesucht, die musst du unbedingt behalten“, meinte sie zu mir. Mutter betrachtete unterwegs interessiert Nisos rötlich-golden schimmernden Ohrschmuck: das Gold in Russland hat viel häufiger eine kupferne Farbnote als in Deutschland.

Nachdem wir unser Viererzimmer im Gästehaus bezogen hatten, begaben wir uns ins Verwaltungsgebäude des Baikalskij zapovjednik, des hinter Tanchoi beginnenden großen Naturschutzgebietes, dessen Betreten ohne Genehmigung und Führer nicht gestattet ist. Dort mussten wir uns für eine ziemlich unverschämte Verwaltungsgebühr von 500 Rubeln pro Person als Ausländer registrieren lassen und besuchten ein kleines Naturkundemuseum mit sorgfältig ausgestopften und ordentlich beschrifteten Tieren der Region: Wolf, Streifenhörnchen, Zobel, Vielfraß. „Vielen Dank für die interessante, anschauliche Ausstellung“, schrieb ich hinterher auf Deutsch ins Gästebuch, darunter das Gleiche nochmal auf Russisch. So einen positiven Standard-Spruch hätte ich doch im letzten Museum auch schon geschrieben, meinte Christiane und formulierte: „Tote Tiere – nein danke! Es sollte doch um ihren Schutz gehen und nicht um ihr Zurschaustellen.“ Da ich keine Anstalten machte, ihre Eintragung zu übersetzen, ergänzte sie noch auf Englisch „Dead animals – no thanks!“

Im strömenden Regen liefen wir anschließend noch eine Runde entlang eines rollstuhlgerecht ausgebauten Wanderweges durch die Taiga, vorbei an Heidelbeergestrüpp und Sibirischen Zirbelkiefern sowie an einem Sumpfgebiet mit Knabenkraut und Wollgras. Der nächste Tag war trocken und wir konnten dann endlich im Baikalsee baden an einem Strand ohne Muscheln und Bernsteine, dafür mit wunderschönen rundgeschliffenen, kleinen farbigen Kieseln. Christiane versuchte Niso das Schwimmen beizubringen, die es nie gelernt hat, da es an tadschikischen und russischen Schulen nicht zum Lehrplan gehört. Ich zeigte meinen Mitreisenden die sich schwach im Dunst am anderen Ufer abzeichnende Stelle, wo die breite Angara den Baikal verlässt, sein einziger Abfluss.

Zurück fuhren wir im Coupé, hatten also ein geschlossenes Viererabteil für uns. Ausgesprochen gemütlich und komfortabel sei es, befand Mutter und wäre gern noch viel länger weitergefahren. An einem der Zwei-Minuten-Haltepunkte kaufte ich, ohne Auszusteigen durch die Tür, einer Frau ein Glas sauer schmeckende Zhimolost‘- Beeren ab. Die Gattung ist in Deutschland als Heckenkirsche oder Jelängerjelieber bekannt, der Verzehr der Früchte aber nicht üblich. Ich vertiefte mich unterwegs in die Lektüre des Buches einer Hamburger Programmiererin, die ihr Stadtleben gegen das Dasein in einem sibirischen Dorf an der Seite eines ewenkischen Jägers eingetauscht hat (Karin Haß: Fremde Heimat Sibirien), eine großartige Beschreibung von Natur und Menschen. Zwei Drittel der Dorfbewohner sind Alkoholiker, erzählt die Autorin; in Russland ist es verbreitet, sich eine Injektion verpassen zu lassen („zakodirovat‘ ot alkogolisma“ – „gegen Alkohol codieren“), nach welcher der Körper extrem abweisend auf Hochprozentiges reagiert, die aber auch den Tod zur Folge haben kann, wenn man trotzdem weitertrinkt.

Übermorgen geht es für uns drei über Moskau zurück nach Deutschland. Zuvor war noch ein Besuch im sich unten im Haus befindlichen Schönheits-Salon angesagt, wo sich meine Gäste die Haare schneiden ließen und dabei meine Übersetzer-Dienste in Anspruch nahmen: „Stufenschnitt“ und „Splissige Enden entfernen“ erklärte ich den beiden zierlichen, hübschen Burjatinnen, die schnell und sicher ihre Arbeit taten zu umgerechnet einem Fünftel des in Deutschland üblichen Preises. Christiane wurde für ihre hier sehr unübliche, leuchtend rote Haarfarbe bewundert.

Heute Abend möchte meine Schwester mit mir ein Bier trinken gehen. Dazu isst man in Russland üblicherweise getrockneten Fisch. Da ich keinen Alkohol trinke und meine Schwester keinen Fisch isst, werden wir uns entsprechend aufteilen. Ich stelle mir uns bereits lebhaft vor, in der spartanisch eingerichteten Bierbar einander gegenüber sitzend, Christiane russisches Bier schlürfend und ich am Trockenfisch nagend.

Transsibirische Eisenbahn: im Offenen Großraumwagen
Nach dem Sprung auf den Gleisbett-Schotter: Angekommen in Tanchoi
In der Taiga im Regen
Niso und ich
Kiesel am Baikal-Strand
Hütten in Tanchoi
Meine Schwester auf der Rückfahrt im Coupé



Freitag, 8. Juli 2016

Baikal, Bliný, Bibliotheken



Unseren ersten gemeinsamen Ausflug an den Baikalsee unternahmen wir nach Gorjátschinsk, den berühmten Kurort mit dem Sanatorium, dessen Herzstück eine heiße Schwefelquelle bildet, die ich bereits im Herbst Gelegenheit hatte zu besuchen. Meine Bedenken, dass die dreistündige Busfahrt dorthin für meine Mutter anstrengend und unbequem sein könnte, erwiesen sich als unbegründet. Vor dem Aussteigen meinte sie, dass sie eigentlich noch eine ganze Weile so weiterfahren könne. An einem Imbiss am Fluss Chaim legte der Fahrer eine Pause ein, wie üblich ohne jede Ansage bezüglich ihrer Dauer; es versteht sich von selbst, dass die Fahrt dann fortgesetzt wird, wenn es alle geschafft haben, etwas zu essen. Meine Schwester ist Vegetarierin und die russische Küche eher fleischhaltig, aber da die warmen Mahlzeiten aus verschiedenen Komponenten bestehen, ist es nicht schwer, das Fleisch einfach wegzulassen. Ich bestellte Möhrensalat mit Knoblauch, Bliný (Eierkuchen, außerhalb Sachsens Pfannkuchen genannt), für mich Borschtsch mit Brot und für Mutter Posy, das burjatische Nationalgericht, eine Art große, fleischgefüllte Teigtaschen. In einer neuen Gegend müsse sie die Landschaft unbedingt auch schmecken, meinte sie genüsslich.

Bei meinem Besuch im Herbst war es im Sanatorium ziemlich leer gewesen. Jetzt, in der Hochsaison, wohnen dort, auf verschiedene in dem Waldgrundstück stehende Holzhäuser verteilt, 400 Kurgäste. Dort, wo die heiße Schwefel-Kiesel-Quelle aus der Erde tritt, setzten wir uns auf ein Brett ans Wasser und benetzten unsere Füße mit dem heilenden Nass. Der schlammige Grund dort ist so heiß, dass man sich ernsthaft verbrühen würde, wenn man aus Versehen hineinrutscht. Der deutsche TÜV würde so ein Sitz-Provisorium wohl niemals genehmigen; aber die heißen Quellen sind nicht in seiner Reichweite. Maximal 15 Minuten soll man sich dem Schwefelwasser aussetzen und danach keinesfalls sofort im kühlen Baikalsee baden, so will es die Regel.

Zum Baikal gelangt man durch einen Kiefernwald, vorbei an ätherisch-harzig riechendem, weiß blühendem Sumpfporst und viel Heidelbeergestrüpp, allerdings ohne dass wir eine einzige Beere gefunden hätten. Nach dem Passieren eines Verpackungsmüllberges und dem Erklimmen einer hohen Sanddüne erfreute der friedliche, sonnenbeschienene See unsere Augen, mit den im Dunst verschwimmenden Bergen der Insel Olchon am anderen Ufer.

Wir übernachteten in einem ganz ruhigen Gästehaus und frühstückten auch dort: Brot und Käse, Gersten-Milchbrei, wieder Bliny, Schwarztee mit Zitrone. Mutters Blick fiel auf den streng geflochtenen Zopf eines kleinen Mädchens am Nachbartisch, und sie bemerkte, dass ihr die Kinder hier allgemein ruhiger und besser erzogen vorkommen als in Deutschland, wo sie sich doch mitunter sehr frei benehmen und ihren Eltern auf der Nase herumtanzen würden.

Vor der Rückfahrt besuchten wir noch das sanatoriumseigene kleine Museum, was von der Geschichte des Ortes erzählte. Vom nördlich gelegenen Bargusin aus kommende Jäger hatten einen verletzten Hund bei sich, der im Schwefelsee badete. Die Jäger zogen ohne ihn weiter. Als sie auf dem Rückweg wieder vorbeikamen, war der Hund gesund. So wurde die Gorjatschinsker Heilquelle entdeckt. Die sich neben dem Museum befindliche Bibliothek wird fleißig genutzt von Schülern, die ihr Ferien-Lesepensum absolvieren müssen, das sie vor Ende des Schuljahres von den Lehrern aufbekommen. Die diensthabende Dame gab uns eine kleine Privatführung und meinte, wir wären die ersten Deutschen in diesem Sommer; zwei Franzosen hätte sie schon gesehen, die sich einer Heilfastenkur unterzogen hätten, was es bei ihnen in Europa so nicht gäbe. Ziemlich alt und staubig sei alles hier, befand meine junge Schwester und war froh, als wir das Holzhäuschen wieder verließen. -

In dieser Woche habe ich einen Vormittag in meinem Institut verbracht und dort das Aufräumen der großen deutschen Bibliothek fortgesetzt, die eher unfreiwillig auch einem Museum ähnelte. Unser Lehrstuhl ist stolz auf sie: Die größte deutsche Bibliothek in ganz Sibirien, heißt es, zwei bis zur Decke reichende, jeweils eine komplette Wand bedeckende Schränke, angefüllt mit Fachbüchern und Belletristik. Leider gibt und gab es niemanden, der hier Ordnung hält. Die Bücher standen in drei Reihen hintereinandergestopft, noch unausgepackte Buch- und Zeitschriftenpakete lagen dazwischen, ungefähr die Hälfte der Fachliteratur konnte man als hoffnungslos veraltet und entsorgungswürdig einordnen. So trat ich denn auch mit einer gefüllten Bananenkiste wieder und wieder den Gang zum Müllcontainer hinter dem Gebäude an. Ich hatte mir vorher von der Lehrstuhlleiterin die Genehmigung geholt, in der Bibliothek Ordnung zu schaffen, ihr aber nichts davon erzählt, dass das mit etwa 20 Kisten Entmüllung verbunden sein würde. Ich bin mir sicher, dass keiner etwas merkt, weil niemand einen Überblick hatte, was eigentlich an Beständen da war und die Schränke jetzt hinterher noch genauso voll aussehen wie vorher. Manche Literatur ist so alt, dass ich sie aus antiquarischen Gründen aufhob: „Sibirien – die Perle der UdSSR“, „Reiseführer Berlin – die Hauptstadt unserer DDR“ und so weiter.

Ansonsten versuche ich, weniger zu arbeiten und nehme mir Zeit für die Gäste: einer Einladung ins Einfamilienhaus meiner burjatischen Institutsdirektorin Polina sind wir gefolgt, und die junge Deutschlehrerin Nastja gab uns eine Stadtführung durch Ulan-Ude, bei der ich lernte, dass man früher an der Fenstergröße den Reichtum der Hausbesitzer ablesen konnte: große Fenster bedeuten im Winter viel heizen, und das konnten sich nur wenige leisten.

Bei Polina im Garten
Stadtführung mit Nastja: in der Fußgängerzone
Gorjátschinsk: Fußbad in der Thermalquelle
Am Baikal
Frühstück im Gästehaus: Gerstenbrei, Käsebrot und Bliný
Bibliothek und Museum im Sanatorium