Sonntag, 25. November 2018

Unerwünschte Geschichte

Seit etwa zwei Wochen liegt in Ulan-Ude eine dünne, aber feste und dauerhafte Schneedecke. Unser Außenthermometer vor dem Küchenfenster zeigt in den Morgenstunden minus zehn Grad. Aller zwei Tage begebe ich mich zu meinem Lada, freue mich, dass er noch anspringt und lasse den Motor eine Viertelstunde laufen, damit er nicht einfriert. 

Wenige Schritte neben meinem Institut im Zentrum der Stadt gibt es einen netten Souvenirladen, eine Art burjatischer Ethno-Shop mit Postkarten und Büchern, Schmuck, Skulpturen und Nationalkleidung. Aus Lautsprechern vor dem Gebäude erklingen die Stimmen burjatischer Sänger, mit den Lauten einer Pferdekopfgeige untermalt; Ansagen auf Englisch, Russisch und Burjatisch laden  vorübergehende Touristen und Einheimische zum Verweilen ein. Wie üblich schweifen meine Blicke zuerst Richtung Bücherregal. Ich ordere einen überhaupt nicht typisch burjatischen, sondern sehr westlichen Latte macchiato und nehme mit dem Pappbecher in der Hand und einem kleinen Büchlein über die Geschichte Burjatiens auf einem der gemütlichen Sofas Platz. Wladimir Chamutaev: „Der Anschluss Burjatiens an Russland – Geschichte und gegenwärtige Politik“, ich wusste, dass er Autor vor einigen Jahren nach einem Skandal in die USA ausgewandert war und beginne mich interessiert in die ersten Seiten zu vertiefen.
In der Tat steckt hinter dem unauffälligen Titel politischer Sprengstoff: Chamutaev schreibt, dass Burjatien 1661 keineswegs freiwillig der Russischen Föderation beigetreten sei, wie offiziell behauptet und aller runden Jahre wieder groß gefeiert. Vielmehr habe es sich um eine Eroberung gehandelt, eine unfreiwillige Kolonisierung und Russifizierung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Burjatische Politiker sollen stillhalten, Moskaus Anweisungen ausführen und sich nur nicht daran erinnern, dass das burjatische Volk kulturell und sprachlich eigentlich den Mongolen viel näher steht. Als Belege Quellenangaben, Zitate und historische Dokumente; Chamutaev war Wissenschaftler an der Burjatischen Akademie der Wissenschaften, wo er nach Erscheinen des Buches 2012 hinausgeworfen wurde. Ich kaufe das Büchlein - dritte Auflage, gerade mal hundert Exemplare - und mache mich auf den Heimweg.
Wahrscheinlich hat er recht, der Mann, geht es mir durch den Kopf, warum sonst sollten denn die Kosaken, die gefeierten Pioniere der Erschließung Sibiriens, überall Festungen errichtet haben, die bisweilen gestürmt und niedergebrannt wurden, wenn sich die örtliche Bevölkerung ihnen doch freiwillig unterordnete? Heute dürfen die Burjaten gern ihr Brauchtum und ihre Sprache pflegen, Tänze und Sportfeste veranstalten und in Ethno-Shops schamanische Souvenirs verkaufen, solange ihre Eigenständigkeit keine politische Komponente annimmt und das Verhältnis zum russischen Brudervolk nicht hinterfragt wird. Ich erinnere mich an die junge Amerikanerin in meinem Chor, die eine Umfrage unter den Burjaten über ihre nationale Identität durchführen wollte und die nach wenigen Wochen sehr plötzlich verschwand – wohl unter einem formellen Vorwand ausgewiesen wurde, weil das Umfragethema eine Tabulinie überschritt.
Aber ist nicht auch die offizielle russische Haltung verständlich? Wo kommen wir hin, wenn Anschauungen wie die Chamutaevs sich durchsetzen? Soll Russland zusammenfallen wie ein Kartenhaus, weil jedes größere und kleinere Volk eigene Souveränität beansprucht? Wo wären die Burjaten heute ohne Russland? Es gäbe nichts außer Steppe und ein paar Jurten, und schreiben könnte auch fast niemand, weil Bildung erst nach der Oktoberrevolution und der Einführung des kyrillischen Alphabetes unter das Volk gebracht wurde. Moskau hat einer entlegenen und rückständigen Region den Anschluss an die Zivilisation ermöglicht, vielleicht ist es besser, die Burjaten im Glauben eines freiwilligen Anschlusses zu belassen, eine Sage, die das friedliche Zusammenleben heute mehr befördert als das Bewusstsein, unfreiwillig kolonisiert worden zu sein.

Trotz der verschiedenen Völker ist die Gesellschaft in Ulan-Ude in gewisser Weise sehr viel homogener als in Deutschland. Fast nie zu sehen beispielsweise sind physisch Behinderte. Kürzlich wurde am Eingang unseres Institutes eine schräge Rampe angebracht, und vor den Schwellen einiger Lehrräume im Erdgeschoss wurden Bretter befestigt, damit die Stufen verschwinden: mit Beginn dieses Semesters ist eine Studentin im Rollstuhl aufgetaucht. Nach drei Jahren die erste an der Uni, die ich sehe! „So viel Aufwand für einen einzigen Menschen“, meint der Wächter zu mir, als ich die Errichtung der Rollstuhlrampe lobe. Er kommt nicht auf die Idee, dass andere Behinderte beim Anblick der Treppe bisher einfach zuhause geblieben sein könnten.
In meinem Chor singt seit diesem Semester der Student Makan aus Mali. Wahrscheinlich ist er der einzige Schwarzafrikaner in der ganzen Stadt. Makan fühlt sich auf der Straße unwohl, sagt er: man betrachtet ihn – nicht feindselig, aber unverhohlen neugierig, manche möchten sich mit ihm fotografieren lassen.

Gerade bin ich auf einer Bildungsmesse in Irkutsk, im Stadtteil Solnetschnyj, von ostdeutschen Architekten geplant – Irkutsk hatte partnerschaftliche Beziehungen zu Karl-Marx-Stadt, woran im heutigen Chemnitz noch die Irkutsker Straße erinnert. Abends jogge ich entlang des Irkutsker Staubeckens, in das sich der Fluss Angara ergießt, der einzige Abfluss aus dem Baikalsee. Am Hafen liegt der nach dem Fluss benannte älteste noch erhaltene Eisbrecher der Welt, der Anfang des 19. Jahrhunderts in das Eis des Sees Breschen  schlug, als die Transsibirische Eisenbahn am Südufer noch nicht fertiggestellt war. Von Bord des Schiffes, heute ein Museum, fällt der Blick auf die Staumauer des Irkutsker Wasserkraftwerkes, dank welchem der Strom für Endverbraucher im Gebiet Irkutsk ziemlich billig ist. Nach dem Fertigstellen des Staudammes in den 50er Jahren hatte sich der Wasserspiegel des Baikals um einen halben Meter erhöht.

Abenddämmerung am Irkutsker Staubecken. Der Eisbrecher "Angara", heute ein Museum, ist der älteste erhaltene Eisbrecher der Welt. Im Hintergrund die Staumauer des Irkutsker Wasserkraftwerkes

Montag, 12. November 2018

Musikschule auf russisch


Mit Maja zusammen betrete ich an einem Donnerstagmorgen die Musikschule Nummer eins. Beim Elternabend zu Beginn des Schuljahres hatte man verkündet, dass sich die Eltern durchaus auch mit in den Unterricht setzen könnten. Wir betreten das zweigeschossige Ziegelgebäude und lenken unsere Schritte in das als Garderobe fungierende Zimmer gegenüber des Eingangs, aus dem eine Wächterin mit ausdruckslosem Gesicht auf alle Eintretenden blickt.
„Eltern vor der Garderobe warten“, sagt sie.
In Russland wird man entweder ignoriert, angeranzt oder die Menschen ergießen die warme Fülle ihrer reichhaltigen Seele vor einem. Neutrale, sachliche Freundlichkeit ist weitgehend unbekannt.
„Ich möchte mich gern mit in den Unterricht setzen“, erkläre ich.
„Bei wem?“, ranzt sie ungläubig weiter.
Ich nenne die Namen der Pädagogen. Die alte Dame nickt streng. Ich darf meine Jacke aufhängen und mit Maja die Treppe zur ersten Etage hinaufgehen.
Wir sind ein paar Minuten zu früh und warten vor der Tür, hinter dem die Probe des Kinderchores stattfinden wird.
„Eltern werden gebeten, unten zu warten“, sagt eine vorbeischreitende Lehrkraft und mustert mich wie einen ungebetenen Eindringling.
„Ich möchte mir gern einmal den Unterricht anhören“, sage ich freundlich.
Etwas später betreten wir mit fünfzehn anderen kleinen Kindern den Raum, in dem schon die junge Chorleiterin am Flügel steht. Mit entschuldigender Mine kommt sie auf mich zu.
„Sie wollen mit in den Unterricht? Ja, wissen Sie, vor kurzem hat der Pädagogische Rat getagt – es ist jetzt eigentlich doch nicht mehr erwünscht, dass die Eltern mitkommen. Die Musikschule erwartet eine Überprüfung, ob die Anti-Terror-Maßnahmen eingehalten werden, und dazu gehört, dass keine Begleitpersonen zugelassen sind. Tut mir leid!“
Ich zucke mit den Schultern und gehe nach Hause. Wenig später komme ich trotzdem wieder, zu Majas zweiter Stunde, dem Klavierunterricht. Die Wächterin scheint über die neuen Anti-Terror-Maßnahmen noch nicht vollständig informiert und lässt mich wortlos durch.
Als ich eintrete, spielt Maja gerade das „Schnelle Bächlein“, flinke Achtelbewegungen in der rechten Hand, kurze Bässe in der linken, Dreiertakt. Elena Wasiljewna, eine hagere ältere Dame mit Lederhose und dünner Nase, sitzt daneben und verzieht das Gesicht.
Pause.
„Und, hast du wenigstens selbst deine Fehler bemerkt?“, sagt sie und seufzt, nachdem sie meine Anwesenheit mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen hat.
„Die vollen Zählzeiten hier mehr betonen, hier nicht unnötig beschleunigen, hier die rechte Hand mehr hervorheben. Das sage ich schon seit zwei Wochen. Du musst üben. Bald kommt die Prüfung. Du musst vor einer Kommission spielen. Was sollen die sagen? Nochmal.“
Maja beginnt von neuem.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna und unterbricht sie nach zwei Takten. Wieder ein Schwall von detaillierten Informationen, hier etwas lauter, dort nuancierter, hier geringfügig Crescendo, dort ein leichtes Riterdando. Ich vermute, das meiste geht an den Ohren des siebenjährigen Mädchens eher vorbei.
Maja beginnt erneut.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna. „Was habe ich gerade gesagt? Du musst zuhause üben!“
„Wir üben zuhause…“, erlaube ich mir einen vorsichtigen Kommentar von hinten.
„Ich sehe kein Resultat“, unterbricht die Pädagogin säuerlich, ohne mich anzusehen. „Nochmal. Guckst du überhaupt in die Noten? Was ist das hier? Welche Länge hat diese Note? Na also!“
Maja schaut in die Noten – ich weiß allerdings, dass sie dort nicht allzuviel sieht: Maja spielt per Nachahmung und auswendig. Das Thema „Notenlesen lernen“ wurde weitgehend übersprungen – offensichtlich hat das schon zu können, wer Musikschule Nummer eins betritt, die Wiege aller burjatischer Musikkultur.
Nach zehn Minuten das nächste Stück, ein ähnlicher Schwall an freudloser Detailinformation, dann das dritte. Maja gähnt.
„Bist du schon müde oder was? Ja, das ist wirklich keine Freude mit dir heute“, sagt Elena Wasiljewna und holt ein neues Notenheft aus dem Schrank. „Jetzt üben wir Vom-Blatt-lesen!“
Ich sitze ratlos grübelnd auf meinem Stuhl und überlege, dass ich gern einmal mit der Lehrerin  sprechen würde, ihr etwas von motivierender Pädagogik und von Freude beim Musizieren erzählen, spüre aber deutlich, dass es keinen Zweck hat – die Frau würde mich anschauen wie einen Außerirdischen. Eigentlich könnte sie mir ja mal ein paar Fragen stellen, statt mich weitgehend zu ignorieren, geht es mir durch den Kopf: was ich für einen Bezug zur Musik habe und wie denn unser tägliches Üben so verläuft? Wahrscheinlich wären meine Bemerkungen aber überflüssig: sie stören das strenge Programm. Die Kommission. Das Examen. Die Disziplin. Das ist die Welt der sowjetischen Pädagogik. Eine eiserne Schule: wohl dem, der dem Druck standhält, gequält, aber gestählt und leistungsfähig wird er daraus hervorgehen und sein eigenes Gequält-worden-sein an die nächste Generation weitergeben, weil er nichts anderes kennengelernt hat. Wer ein Schwächling ist, wird zerbrechen, wird nach einem halben, einem oder drei Jahren weinend davonlaufen und nie wieder ein Instrument anfassen.
„Geht Maja wirklich in dieses Irrenhaus?“, hatte mein Bekannter Mischa vor kurzem gefragt, dessen eigene Tochter nach drei Monaten Musikschule frustriert das Handtuch geworfen hatte, und ich hatte ihn gebeten, in Majas Gegenwart nicht so zu sprechen, da sie die Freudlosigkeit und Strenge im Moment ganz gut aushält, noch perlt es an ihrem kindlichen Gemüt ab.
Molodjéz“, sage ich zu Maja auf dem Heimweg, „gut gemacht heute!“ Sie freut sich über mein Lob. Ich freue mich auf unsere Übersiedlung nach Deutschland. Die trockene, kleinliche und verkrampfte Pädagogik, deren Geist wohl als ein Erbe aus vergangenen Zeiten in Russland noch heute überall weht, steht ganz oben auf der Liste von Dingen, von denen ich die Nase, nein: die Schnauze ordentlich voll habe.


Mittwoch, 7. November 2018

Von Ulan-Ude nach Ulan-Bator



Vier Autostunden südlich von Ulan-Ude endet die Herrschaft Moskaus, es beginnt das Reich der Nachkommen Dschinghis-Khans. Die Grenzabfertigung dauert über zwei Stunden. Auf russischer Seite müssen sämtliche Türen, Kofferraum und Motorhaube des Autos geöffnet werden, die Zollbeamten schauen mit einem Spiegel in alle Ritzen von unten und fragen mich, was für ein unüblicher Luftfilter in meinem Lada eingebaut sei. Während Drogenhunde unser Gepäck umschnüffeln, entleere ich den Kofferraum, damit noch die Reserverad-Mulde besichtigt werden kann. Auf dem Rückweg, bei der Wiedereinreise nach Russland, kein Fleisch und keine Milchprodukte, belehrt man uns, Wodka maximal drei Liter.
Auf der mongolischen Seite geht es informeller zu. Nachdem wir durch einen vielleicht mit einem Desinfektionsmittel getränkten Sandkasten gefahren sind, werde ich hierhin und dorthin geschickt, bis sich der richtigen Beamte findet, der die Daten unseres Autos in den Computer einzugeben bereit ist. Währenddessen fragt sein sich offenbar langweilender Kollege Niso und mich in gebrochenem Russisch über unsere Familiensituation und möchte wissen, was wir denn eigentlich nachts machen würden, da wir noch keine gemeinsamen Kinder hätten. Kurz vor der Ausfahrt werden wir noch einmal gebeten zu halten. Ein junger, keiner Fremdsprache mächtiger Soldat geleitet mich in ein kleines Häuschen mit mongolischer Aufschrift und lässt mich dort zunächst allein mit einem kleinen Kind, das mich von der anderen Seite des Tisches neugierig beäugt. Meine Vermutung bestätigt sich, als nach einer Weile die Mitarbeiterin erscheint: hier wird die obligatorische Auto-Haftpflichtversicherung abgeschlossen.
Ziel unserer Reise – man könnte sagen: unserer Hochzeitsreise, schließlich haben Niso und ich vor Kurzem geheiratet – ist die mongolische Hauptstadt Ulan-Bator. In Altanbulag, der kleinen Siedlung hinter der russischen Grenze, funktioniert mangels Strom gerade kein Bankautomat, weshalb wir zunächst ohne mongolische Tugrik die Fahrt fortsetzen. Die nicht schlecht asphaltierte Straße führt durch weite, braungelbe Streppentäler mit großen Viehherden, die sich als hunderte kleine Punkte an den Hängen der Hügel abzeichnen oder sich beim Überqueren der Fahrbahn aus der Nähe studieren lassen. Zwischen Kühen, Pferden, Schafen und Ziegen schreitet stolz ein mächtiges Kamel dahin. Kilometerweit geht es geradeaus, dann wieder in Windungen einen kleinen Pass hinauf, links und rechts mitunter ein paar Häuser oder eine verlorene Jurte, ansonsten ist die Mongolei vor allem eines: leer.
Irgendwann dann – größer könnte der Kontrast nicht sein – taucht die Silhouette Ulan-Bators auf. Rauchende Schlote der Heizkraftwerke und ein Meer von Hochhäusern: die Hälfte aller Mongolen wohnen inzwischen hier, anderthalb Millionen. Auf der sechsspurigen Straße anstrengender Stop-and-go-Verkehr, an den Kreuzungen wedelnde und pfeifende Polizisten, und doch ist ein Hauch Weichheit und Harmonie im Chaos spürbar. Unser russischer Lada erntet neugierige Blicke, die Mongolen fahren fast ausschließlich Japaner, und zwar vor allem Toyota Prius mit Hybridantrieb.
Wir quartieren uns in ein einfaches Hotel einige Kilometer vor dem Zentrum ein. Am zweiten Abend flitzt eine Maus in unserem Zimmer über den Fußboden, wo die wohl herkommt – in der dritten Etage? Ich schlage das Wort im Wörterbuch nach und begebe mich zur Dame an der Rezeption, die nur Mongolisch spricht.
„Chulgana!“, sage ich.
Die junge Frau versteht nicht.
„Chulgana“, wiederhole ich und imitiere mit der Hand die Bewegungen einer Maus über den Fußboden.
Ungläubige Blicke. Ich schreibe ihr das Wort auf einen Zettel.
„Ah, chlgn!“ ruft die Rezeptionistin erstaunt – in ihrem Mund schrumpfen die Laute zu einem kratzigen, spuckigen Konsonantenknäuel zusammen – und ruft sofort den Chef, der ein wenig Russisch kann und uns sofort ein neues Zimmer gibt. Mongolische Wörter sind hart und kurz, auch wenn man das kyrillische Alphabet lesen kann, scheint es noch ein weiter Weg bis zur richtigen Aussprache.
Im Zentrum der mongolischen Hauptstadt wird der sowjetischen Stalin-Klassizismus von Theater und Opernhaus durch futuristisch anmutende Wolkenkratzer überragt, dazwischen globalisierte Coffee-Kultur und Tourist Information-Zentren. Ein wenig außerhalb dann das alte Ulan-Bator, schmutziggraue Jurten hinter einfachen, hohen Bretterzäunen, Rußgeruch in der Luft, an einer Wasserausgabestelle mit Kanistern anstehende Menschen. An einem buddhistischen Tempel baumelt an einem holzgeschnitzen Drachenkopf ein Hakenkreuz. Die Lebensmittel im Supermarkt kommen zu großen Teilen aus Deutschland, der Inhalt einiger Regale könnte unverändert in einem Edeka-Supermarkt stehen.
Auf dem Rückweg kommen wir wieder durch Altanbulag vor der russischen Grenze, wo wir diesmal übernachten. Auf einer Anhöhe steht überlebensgroß Suchebator, der mongolische Revolutionär, der mit Lenins Unterstützung das Land von China unabhängig und nach der Sowjetunion zum zweiten kommunistischen Staat der Welt machte: Ulan bedeutet rot. Im Schein der untergehenden Sonne fällt unser Blick auf den sich über die Hügel hinziehenden, beidseitig von Stacheldraht umgebenen lehmgelben Ackerstreifen, der die Grenze bildet, und dahinter auf die silbriggrau leuchtenden Dächer der orthodoxen Kirche in der russischen Stadt Kjachta, einst ein blühendes Zentrum an der Tee- und Seitenstraße, heute eine unbedeutende Grenzsiedlung, für Ausländer nur mit Sondergenehmigung betretbar. Auch das ruinöse Altanbulag sieht aus, als hat es bessere Zeiten erlebt – zu unserer großen Verwunderung hat jedoch das Museum geöffnet, das Revolutionsmuseum, ein Geschenk des sowjetischen Volkes an das mongolische Brudervolk im Jahre 1971, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des kommunistischen Umsturzes.
Der Verkauf von Zigaretten in der Mongolei ist verboten, entsprechend sieht man sie in den Geschäften nirgendwo. In den Hotelzimmern jedoch steht der Aschenbecher bereit: es darf geraucht werden. Jedes Land hat wohl seine Widersprüche.




In einem mongolischen Imbiss. An der Wand die Nachkommen Dschinghis-Khans