In größeren Häusern in der Stadt
grüßen unbekannte Nachbarn einander nicht. Das Grüßen nicht näher bekannter
Menschen ist überhaupt weniger verbreitet als in Deutschland und bedeutet
meistens, dass man gewillt ist, ein Gespräch anzuknüpfen. Man wirft den Gruß
also nicht einfach so in den Raum, sondern hat dazu ein Anliegen – oder geht
gleich schweigend aneinander vorbei. „Priwjet“ hört man deshalb sehr viel
seltener als bei uns „Hallo“.
Um nicht sofort als Ausländer
aufzufallen, habe ich mir das Grüßen in meinem Wohnhaus bisher verkniffen und
kenne deshalb leider auch niemanden – außer meinem Nachbarn Sergej Ivanowitsch,
den ich einmal an der Tür aufhielt, um mich ihm nett vorzustellen und ihn zu
bitten, das Radio um 6 Uhr morgens nicht so laut zu stellen, dass meine Wohnung
gleich mit beschallt wird. Ja, natürlich, kein Problem, war die Antwort, und zu
meiner Überraschung blieb die Frage aus, wo ich eigentlich herkomme. Einige
Tage später kam ich abends nach Hause und fand Sergej Ivanowitsch schlafend im
Treppenhaus vor seiner Wohnungstür liegen. Wahrscheinlich hatte er einen über
den Durst getrunken und war nicht mehr imstande gewesen, die Tür zu öffnen. Ich
ließ ihn einfach liegen. So etwas kommt im Alltag schon einmal vor.
In dieser Woche habe ich
Bekanntschaft mit dem Opernsänger Maxim gemacht. Maxim ist ein stämmiger junger
Mann burjatischen Äußeres mit einer tiefen Stimme, der gut Deutsch und Englisch
spricht und davon träumt, noch einmal Gesang zu studieren – und zwar in
Deutschland. Ich lud ihn an die Uni in mein Büro ein und erzählte ihm etwas von
den Aufnahmebedingungen an deutschen Musikhochschulen und von
Stipendienprogrammen. Und dann sagte ich ihm, wovon ich im Moment träume:
nämlich davon, hier ein Cello zu finden. „Ach, du spielst Cello?“, meinte
Maxim. „Willst Du nicht bei uns im Opernorchester anfangen? So mit halber
Stelle? Es gibt nur drei oder vier Celli hier, sie finden nicht genug Leute…“
Erstmal brauche ich ein Instrument, erwiderte ich. Mein neuer Bekannter
versprach, sich zu kümmern, und nahm mich gleich mit in die Generalprobe von
Puccinis „Toska“, wo er im zweiten Akt den Polizeichef singt. Das Operntheater
von Ulan-Ude ist von außen und innen ein prächtiges Gebäude, „Iskusstvo
prinadlezhit narodu“, steht in goldenen Lettern unterhalb der Decke im Saal, „Die
Kunst gehört dem Volk. Sie soll ihre tiefsten Wurzeln in der breiten Masse der
arbeitenden Klasse haben. W.I. Lenin.“
Weniger prächtig ist dagegen
leider die Ulan-Ude’er Altstadt. Sie verdient ihren Namen auf eher traurige
Weise: viele der Holzhäuser, wohl noch aus Zeiten von vor der kommunistischen Revolution
stammend, sind total herutergekommen, die Straßen sind ausgestorben.
Zwischendurch erfreut immer einmal ein Schmuckstück mit neu gestrichenen
Fensterläden und schönen Schnitzereien den Blick. Hinter der blau-weiß
leuchtenden Kirche entdeckte ich in einer Sackgasse ein Denkmal an die Opfer
politischer Repressionen – eine gar nicht mal kleine Statue und viele
Gedenktafeln an Menschen mit einem Todesdatum in den 30er Jahren, der Zeit der
Stalinschen Säuberungen.
Als ich gerade um das Denkmal
herumlief, bekam ich einen Anruf von der Lehrstuhlleiterin Elena. Es gäbe ein
wichtiges Treffen mit dem Dekan, wo ich eigentlich dabei sein könnte. Kein
Problem, meinte ich, wann das Treffen denn wäre? Heute um eins? Ich holte meine
Taschenuhr hervor. Aber es ist doch schon zehn nach eins? Naja, stimmt, aber vielleicht
könnte ich es ja noch schaffen, dazuzukommen?
Ich bin gerade dabei, mich daran
zu gewöhnen, dass viele Dinge – auch im offiziellen Uni-Betrieb - hier oft keinen
Planungsvorlauf haben, sondern von einem Augenblick auf den anderen stattfinden
können. Das verlangt Spontanität und Humor – dank langjähriger
Russlanderfahrung habe ich darin schon etwas Übung.
Mein derzeitiger Couchsurfing-Gast
heißt Gaé – eine Französin mit einem keltischen Namen, seit fast 3 Monaten von
West nach Ost in Russland unterwegs und nun für einige Tage hier in der Stadt.
Heute nehme ich sie mit ins Institut zu den Französisch-Studenten, damit diese
auch einmal die Gelegenheit haben, mit einem Muttersprachler zu sprechen.
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Das Denkmal an die Opfer politischer Repressionen |
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Mein aktuelles Couchsurfer-Foto, diesmal: Gaé aus Frankreich |