Freitag, 18. September 2015

Kontraste



In größeren Häusern in der Stadt grüßen unbekannte Nachbarn einander nicht. Das Grüßen nicht näher bekannter Menschen ist überhaupt weniger verbreitet als in Deutschland und bedeutet meistens, dass man gewillt ist, ein Gespräch anzuknüpfen. Man wirft den Gruß also nicht einfach so in den Raum, sondern hat dazu ein Anliegen – oder geht gleich schweigend aneinander vorbei. „Priwjet“ hört man deshalb sehr viel seltener als bei uns „Hallo“.
Um nicht sofort als Ausländer aufzufallen, habe ich mir das Grüßen in meinem Wohnhaus bisher verkniffen und kenne deshalb leider auch niemanden – außer meinem Nachbarn Sergej Ivanowitsch, den ich einmal an der Tür aufhielt, um mich ihm nett vorzustellen und ihn zu bitten, das Radio um 6 Uhr morgens nicht so laut zu stellen, dass meine Wohnung gleich mit beschallt wird. Ja, natürlich, kein Problem, war die Antwort, und zu meiner Überraschung blieb die Frage aus, wo ich eigentlich herkomme. Einige Tage später kam ich abends nach Hause und fand Sergej Ivanowitsch schlafend im Treppenhaus vor seiner Wohnungstür liegen. Wahrscheinlich hatte er einen über den Durst getrunken und war nicht mehr imstande gewesen, die Tür zu öffnen. Ich ließ ihn einfach liegen. So etwas kommt im Alltag schon einmal vor.
In dieser Woche habe ich Bekanntschaft mit dem Opernsänger Maxim gemacht. Maxim ist ein stämmiger junger Mann burjatischen Äußeres mit einer tiefen Stimme, der gut Deutsch und Englisch spricht und davon träumt, noch einmal Gesang zu studieren – und zwar in Deutschland. Ich lud ihn an die Uni in mein Büro ein und erzählte ihm etwas von den Aufnahmebedingungen an deutschen Musikhochschulen und von Stipendienprogrammen. Und dann sagte ich ihm, wovon ich im Moment träume: nämlich davon, hier ein Cello zu finden. „Ach, du spielst Cello?“, meinte Maxim. „Willst Du nicht bei uns im Opernorchester anfangen? So mit halber Stelle? Es gibt nur drei oder vier Celli hier, sie finden nicht genug Leute…“ Erstmal brauche ich ein Instrument, erwiderte ich. Mein neuer Bekannter versprach, sich zu kümmern, und nahm mich gleich mit in die Generalprobe von Puccinis „Toska“, wo er im zweiten Akt den Polizeichef singt. Das Operntheater von Ulan-Ude ist von außen und innen ein prächtiges Gebäude, „Iskusstvo prinadlezhit narodu“, steht in goldenen Lettern unterhalb der Decke im Saal, „Die Kunst gehört dem Volk. Sie soll ihre tiefsten Wurzeln in der breiten Masse der arbeitenden Klasse haben. W.I. Lenin.“
Weniger prächtig ist dagegen leider die Ulan-Ude’er Altstadt. Sie verdient ihren Namen auf eher traurige Weise: viele der Holzhäuser, wohl noch aus Zeiten von vor der kommunistischen Revolution stammend, sind total herutergekommen, die Straßen sind ausgestorben. Zwischendurch erfreut immer einmal ein Schmuckstück mit neu gestrichenen Fensterläden und schönen Schnitzereien den Blick. Hinter der blau-weiß leuchtenden Kirche entdeckte ich in einer Sackgasse ein Denkmal an die Opfer politischer Repressionen – eine gar nicht mal kleine Statue und viele Gedenktafeln an Menschen mit einem Todesdatum in den 30er Jahren, der Zeit der Stalinschen Säuberungen.
Als ich gerade um das Denkmal herumlief, bekam ich einen Anruf von der Lehrstuhlleiterin Elena. Es gäbe ein wichtiges Treffen mit dem Dekan, wo ich eigentlich dabei sein könnte. Kein Problem, meinte ich, wann das Treffen denn wäre? Heute um eins? Ich holte meine Taschenuhr hervor. Aber es ist doch schon zehn nach eins? Naja, stimmt, aber vielleicht könnte ich es ja noch schaffen, dazuzukommen?
Ich bin gerade dabei, mich daran zu gewöhnen, dass viele Dinge – auch im offiziellen Uni-Betrieb - hier oft keinen Planungsvorlauf haben, sondern von einem Augenblick auf den anderen stattfinden können. Das verlangt Spontanität und Humor – dank langjähriger Russlanderfahrung habe ich darin schon etwas Übung.


Mein derzeitiger Couchsurfing-Gast heißt Gaé – eine Französin mit einem keltischen Namen, seit fast 3 Monaten von West nach Ost in Russland unterwegs und nun für einige Tage hier in der Stadt. Heute nehme ich sie mit ins Institut zu den Französisch-Studenten, damit diese auch einmal die Gelegenheit haben, mit einem Muttersprachler zu sprechen.

Das Denkmal an die Opfer politischer Repressionen
Mein aktuelles Couchsurfer-Foto, diesmal: Gaé aus Frankreich