Samstag, 30. November 2019

Grenzidylle



Am sonnigen letzten Novembertag fahren zwei silbergraue russische Autos die Grenzstraße entlang. Dem breiten, niedrigen Wolga scheint es schwerzufallen, unter hundert Stundenkilometern zu bleiben, immer wieder flitzt er davon und muss dann auf den schwerfälligeren Lada Niva warten. Eine hauchdünne, puderzuckergleiche Schneeschicht liegt am Straßenrand und zwischen den gelben Büscheln alten Steppengrases. Wenige hundert Meter parallel zur Linken verläuft die russisch-mongolisch Grenze, ein doppelter Stacheldrahtzaun mit einem gepflügten Erdstreifen dazwischen. An einer Stelle stehen zwei Soldaten, bestimmt gibt es überall Kameras und Bewegungsmelder.
Niso und ich fahren meinem Schwiegervater hinterher, der den Weg nach Kjachta kennt, einer kleinen Stadt im Süden Burjatiens, die, von ihrer großen Geschichte als bedeutendes Handelszentrum an der sogenannten Teestraße abgesehen, heute vor allem für ihren Grenzübergang in die Mongolei bekannt ist. Wir sind auf Besuch bei Rustam angemeldet, dem ältesten von Nisos Brüdern. Doch leider geschieht genau das, was nicht passieren sollte: wir geraten in eine Kontrolle der Grenzsoldaten. Als Ausländer benötigt man für den Aufenthalt im grenznahen Gebiet eine Sondergenehmigung, die zwei Monate im Voraus zu beantragen ist. Wie schade, dass ich davon nichts weiß und keine habe. Eigentlich sollte es auf dieser Nebenstrecke keine Kontrollen geben. War wohl ein Irrtum.
Der Wolga darf anstandslos die Schranke passieren, als nächstes kurble ich das Fenster hinunter und reiche dem Uniformierten, der seinen Namen murmelt und um die Dokumente bittet, meinen Pass und die Fahrzeugpapiere.
Gedanklich haben wir uns natürlich auch auf diesen Fall vorbereitet. Ich würde ein Protokoll ausfüllen, eine Strafe zahlen und dann zurückfahren müssen, meine Frau und Maja würden zum Schwiegervater ins Auto umsteigen und ohne mich nach Kjachta weiterfahren.
„Das können Sie behalten, wir sind keine Verkehrspolizei“, höre ich den Uniformierten sagen, der mir die Fahrzeugpapiere unbesehen zurückgibt. Ich bin so aufgeregt, dass ich ihn nicht einmal ansehe und nur das Rascheln wahrnehme, als er in meinem Pass herumblättert.
Im nächsten Moment geschieht etwas ganz und gar Unglaubliches.
Der Soldat klappt den Pass zu, reicht ihn durchs Fenster und winkt mich durch die Schranke.
Vor Freude vergesse ich die Schwerfälligkeit des Lada und schließe innerhalb von Sekunden zum Wolga auf.
„Los, ein Foto“, sage ich zu Niso, weise auf den Stacheldraht und bremse.
„Bist du verrückt, hier ist doch Grenze“, schimpft meine Frau.
„Gerade deshalb“, sage ich, bleibe im ersten Gang und fotografiere während der Fahrt durch die Frontscheibe.
Ein deutscher Bekannter, der ebenso schon seit Jahren in Russland lebt, meinte einmal zu mir, in diesem Lande herrsche doch in allen Lebensbereichen eine derartige Unordnung, dass es ein Irrtum sei, davon auszugehen, Polizei, Armee oder Geheimdienst würden eine Ausnahme bilden. Der Grenzsoldat konnte vielleicht nicht richtig lesen und hat meine im Pass liegende Migrationskarte für den Propusk, für die Sondergenehmigung,  gehalten. Oder man braucht für Kjachta keine. Oder er war neu im Dienst und kannte die für Ausländer geltenden Bestimmungen noch nicht genau.
Wir erreichen das zweigeschossige, langgezogene Reihenhaus, wo Rustam mit seiner neuen Frau und dem vier Monate alten Kind eine geräumige, warme und saubere Wohnung mietet. Von außen wirkt der Holzbau heruntergekommen und abbruchreif, auf den dunklen Brettern ist außen ein Metallgitter angebracht, von dem alter Putz herunterbröckelt. Wenige Schritte weiter steht ein ganzer Straßenzug des gleichen Gebäudetyps leer, schwarzgrau und zerfallend, geeignet für einen Film vom Leben nach dem Atomkrieg. Rustam und Niso sind die einzigen von den Geschwistern, die Tadschikisch sprechen, die Muttersprache ihres Vaters. Nach zentralasiatischer Sitte lassen wir uns auf dem Boden nieder und essen Plov aus einer gemeinsamen großen Schüssel. Bevor es Abend wird, muss Rustam auch schon los zur Arbeit, sprich: zur Armee, wo er seit elf Jahren dient. Noch drei Jahre, dann hat er das Rentenalter eines Vertragssoldaten erreicht. Endlich. „Ein schwerer Job“, sagt Rustam, steigt in ein Auto und fährt mit seinen uniformierten Kameraden davon.
Später wird mir Niso erzählen, dass der Bruder sich freiwillig für den Einsatz im zweiten Tschetschenienkrieg gemeldet hatte, wo alle Soldaten seiner Einheit bei einem Angriff getötet wurden. Seitdem fragt er sich, warum gerade er überlebte, und trägt außer dem kaputten Rücken die Last eines schweren Kriegstraumas mit sich herum.
Als es die transsibirische Eisenbahn und den Suezkanal noch nicht gab, wurde über die damals ein Teil von China bildende Mongolei ganz Europa mit chinesischem Tee versorgt: Kjachta war der Umschlagplatz, wo russische Händler Zobelfelle gegen Waren aus dem Reich der Mitte eintauschten. Viel ist vom alten Glanz nicht geblieben.  Für russische Verhältnisse ganz hervorragend ist das Heimatkundemuseum. Während ich  alte Landkarten, winzige Kännchen zur Tee-Verkostung und ein chinesisches Fahrrad aus dem neunzehnten Jahrhundert betrachte – ob die Chinesen es wohl unabhängig von den Europäern erfunden haben?, – ist Maja fasziniert vom Kuriositätenkabinett und bestaunt ein doppelköpfiges Kalb, ein sechsbeiniges Schaf und ein kopfloses Zicklein.
Im Slobodá genannten Stadtteil direkt an der Grenze schaut ein silbergrau getünchter Lenin von seinem hohen Sockel auf das kürzlich restaurierte Gebäude der Auferstehungskirche. Hinter seinem Rücken verfällt die steinerne Ruine des einen großen quadratischen Innenhof umschließenden ehemaligen Handelshofes. Durch die abbröckelnden, verlassenen Toreinfahrten hindurch lassen sich Wachturm, Abfertigungsgebäude und die Schlange der Autos erspähen, die auf die Weiterfahrt in die Mongolei warten. Wir verlassen die Grenzidylle in die entgegengesetzte Richtung. Die Sonne glänzt vom blauen Himmel herunter. Auf der neu asphaltierten Fernstraße nach Ulan-Ude, einer der besten Burjatiens, tanzt vom Wind aufgewirbelter Pulverschnee.


So sieht die russisch-mongolische Grenze aus.

Auf der Grenzstraße fuhr ich dem Wolga meines Schwiegervaters hinterher.

Familienessen auf tadschikische Art.

Niso mit dem ältesten ihrer Brüder.

Ruinen werden in Russland selten beseitigt und verbreiten noch jahrzehntelang Endzeitstimmung.

Unweit des Grenzüberganges in Kjachta wacht Lenin über einen verfallenen Handelshof.

Durch die Toreinfahrt lassen sich die Abfertigungsgebäude am Grenzübergang erspähen.

Montag, 25. November 2019

Familienidylle



Maja hat in der Musikschule im Fach „Musikliteratur“ die Aufgabe bekommen, einen kleinen Text über das Leben von Pjotr Tschaikowskij zu schreiben. Um ihre Liebe zu Büchern zu fördern, nehmen wir die Informationen nicht aus dem Internet, sondern von Band neunundzwanzig der zweiunddreißigbändigen Großen Sowjetischen Enzyklopädie, die unsere Vermieter in der Wohnung hinterlassen haben. Ich diktiere ihr einige Sätze: geboren, gestorben, bekannte Werke, seine Bedeutung. Die Große Russische Enzyklopädie, Nachfolger der sowjetischen, soll in drei Jahren online gehen und eine vollwertige Wikipedia-Alternative werden. Vielleicht ist das ein Schritt hin zum Aufbau eines von der übrigen Welt vollständig unabhängigen russischen Internets „ohne westliche Propaganda“, von dem einige russische Politiker wiederholt gesprochen haben.

Abends sitzen wir zu dritt im Schlafzimmer, Niso liest aus Michael Endes Unendlicher Geschichte, Maja und ich häkeln oder stricken um die Wette. Als Kind habe ich gelernt, Luftmaschen zu häkeln. An diesen Erfolg knüpfe ich jetzt an und lerne das Handarbeiten gemeinsam mit Maja. Ihr gelingen schon kleine Deckchen, ich produziere löcherige quadratige Lappen. Während nördlich der Alpen seit dem dreizehnten Jahrhundert gestrickt wird, kam diese Kunst wohl erst vierhundert Jahre später mit Peter dem Großen nach Russland.

Die Familienidylle wechselt sich ab mit Ereignissen am Arbeitsplatz. Neulich hatten wir das Thema Uhrzeit. An einer großen runden Uhr stelle ich verschiedene Zeiten ein und demonstriere anschaulich „viertel nach acht“ und „viertel vor neun“. Die Studenten müssen ein wenig umdenken, da man auf Russisch wörtlich „ein Viertel der achten Stunde“ (ähnlich dem sächsischen Viertel acht) und „ohne Viertel neun“ sagt. Nach einer Weile haben es die meisten verstanden. Eine Studentin meldet sich schüchtern.
„Wenn einer der Zeiger auf der Drei steht, bedeutet das Viertel, ja?“
In diesem Moment erst ist mir klar geworden, dass die Schwierigkeit für sie nicht in der Sprache bestand. Die Studentin kann kein Ziffernblatt einer analogen Uhr lesen. Ich habe bereits erzählt von meinem Eindruck, dass die jungen Leute langsam das Schreiben mit der Hand verlernen. Im Zuge der Digitalisierung verschwindet nun auch das Vermögen, die Position von Uhrenzeigern deuten zu können.

Im Schreibwarengeschäft neben dem Institut kaufe ich drei Fläschchen Leim, in der Apotheke Natriumtetraborat und in der kleinen Drogerie gegenüber unserer Wohnung Rasierschaum und Rasiercreme. Es ist nicht so, dass wir zuhause kleben wollen, Wanzen ausrotten müssten oder ich mich nass zu rasieren plane: Maja stellt mit diesen Zutaten einen Slime genannten zähflüssigen Schleim her, ein unter ihren Altersgenossen außerordentlich populäres Spielzeug. Im Schreibwarengeschäft gibt es ein eigenes Etikett am Regal: Kleber für den Slime.


Es ist ordentlich kalt in Ulan-Ude, morgens etwa minus zwanzig Grad, im Unterschied zum Vorjahr liegt aber fast kein Schnee. Unser Auto steht an der Straße auf Höhe des Küchenfensters. Damit der Motor nicht einfriert, ist die Alarmanlage auf Autostart-Funktion programmiert, so dass er alle vier Stunden für zehn Minuten anspringt. Sollte das nicht helfen, könnten wir ein fünfzehn Meter langes Stromkabel aus dem Fenster zum Auto spannen und die elektrische Heizung unter der Motorhaube anwerfen.
Der Fußraum des Wagens ist mit roten Spritzern bedeckt: von irgendwoher kommt Kühlmittel in den Fahrgastraum. Also fahre ich in eine Werkstatt, wo ich den Wagen neben vier anderen Toyotas in der Halle abstelle. Die Mechaniker versammeln sich gutmütig witzelnd um meinen ihnen schon bekannten Lada. Einer nimmt die klappernde Plastikverkleidung vom Armaturenbrett und legt das staubige Gewirr frei herumhängender Drähte dahinter frei. Ich stehe daneben, schaue zu und amüsiere mich wie jedesmal köstlich über die Reaktionen, die mein Auto hervorruft.
„Baujahr Zweitausenddreizehn? Unfassbar. Das ist Stand der Technik aus den Achtzigern.“ Der Wärmetauscher der Innenraumheizung muss erneuert werden, und während wir warten, bis ein Kollege das Gerät besorgt hat, wird der junge Mechaniker gesprächig. „Jeder dreißig Jahre alte Japaner ist moderner. Bei uns kommen die Autos schon mit Mängeln aus der Fabrik, schau doch mal her!“ Er fordert mich auf, einen Blick auf die Schmalseite der Tür zu werfen, deren Blech mit kleinen Unebenheiten und Beulen übersät ist. Dann zum Vergleich die gleiche, völlig ebene Stelle an einem Toyota. „Bei den Japanern machen das Roboter. Bei uns irgendein angetrunkener Arbeiter, dem für seine paar Kopeken Lohn alles scheißegal ist. Russische Autoindustrie ist einfach peinlich.“
Ich bitte ihn, noch ein kleines Loch ins Auspuffrohr zu bohren, damit  das in den Abgasen enthaltene Kondenswasser herauströpfeln kann und das Rohr nicht vom Eis verstopft, wie es mir im letzten Winter passierte. Das Ersatzteil, welches gleich-gleich gekauft werden sollte, ist nach drei Stunden da. Beim Anblick der lachenden, fluchenden und herumschlendernden Mechaniker habe ich auch hier den Eindruck, dass die Arbeit ein wenig egal ist. So banal es klingt, aber ich vermisse eine professionelle Einstellung der Menschen zu ihrer Arbeit, Kompetenz, Tempo, Genauigkeit, Sachlichkeit. Ich wünsche mir Aufklärung über Wartezeiten, eine Trennung von Beruflichem und Privatem. Früher habe ich Servicequalität und Kundenorientierung immer für hohle, überflüssige kapitalistische Phrasen gehalten. Inzwischen denke ich, dass es schon irgend etwas damit auf sich zu haben scheint.
Der Mechaniker nimmt pro Arbeitsstunde tausend Rubel – fünfzehn Euro, nicht wenig bei einem Durchschnittslohn von dreihundert Euro in Burjatien.

Unser Frühstück besteht aus Obstsalat, manchmal zusammen mit mannaja kascha – Grießbrei. Die Zutaten für den Salat kaufe ich immer in dem gleichen kleinen Früchtekiosk bei Tariel, einem Aserbaidschaner, dessen Sohn eine Zeitlang den Plan hatte, in Deutschland zu studieren und sich von mir beraten ließ. Der Kiosk ist meistens leer. Zweimal wöchentlich fülle ich meinen kleinen Rucksack mit aserbaidschanischen Äpfeln, chinesischen Pomelos, argentinischen Birnen, armenischem Tschurtschchela – an einem Faden aufgehängte Nüsse in Fruchtgelee – und australischen Makadamia-Nüssen, die mit ihrer dicken Schale verkauft werden, in die ein kleiner Schlitz gesägt ist, da man sie sonst kaum öffnen könnte. Ich vermute, ich bin sein wichtigster Kunde. „Dafür kaufen wir fast kein Fleisch“, erkläre ich ihm, damit er sich nicht zu sehr wundert.




Donnerstag, 7. November 2019

Skizzenhafte Schilderung einiger flüchtiger Eindrücke vom Rande der östlichen Wüste Gobi



Mein vierzigster Geburtstag steht kurz bevor. Die Jugend ist vergangen, es nähert sich die Zeit der Reife und der Weisheit. Jesus zog vierzig Tage durch die Wüste, bevor er seine Lehren verkündete und seine Wunderwerke vollbrachte. Auch ich möchte vor dem Eintritt in den neuen Lebensabschnitt für zumindest  ein paar Tage in der Wüste weilen, um vielleicht endlich zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gemeinsam mit meiner Frau mache ich mich auf den Weg in die Wüste Gobi, welche sich dreiundzwanzig Eisenbahnstunden südlich von Ulan-Ude befindet.
Einmal wöchentlich verkehrt ein durchgehender Zug von Moskau nach Peking, abwechselnd betrieben von der Chinesischen Staatsbahn und der Russischen Eisenbahn. Als unserer, ein chinesischer, nachmittags in Ulan-Ude ankommt, war er schon vier Tage unterwegs. Nach einem flüchtigen Blick auf die Fahrkarten lässt uns der kleine schwarzhaarige Zugbegleiter einsteigen. Wir beziehen unsere zwei Betten im Viererabteil, ein oberes und ein unteres; noch bevor mir ein Gesprächsbeginn mit dem südeuropäisch aussehenden jungen Mann uns gegenüber einfällt, verlässt dieser das Abteil und wird es bis zur Grenze nicht mehr betreten. Lieber ein abwesender Nachbar als ein anwesender, der stört. Die südburjatische Steppe zieht an uns vorüber, es wird dunkel. Unser Wagen ist der letzte. Niso und ich spazieren einmal durch den ganzen Zug und wieder zurück. Die Waggons sind schmuddelig und offensichtlich schon älter, an einer Stelle entdecke ich eine Metallplakette mit der deutschen Aufschrift „VEB Waggonbau-Ammendorf, Deutsche Demokratische Republik“. Auf den verdreckten Böden der Vorräume liegen glänzend schwarze Kohlebrocken herum. Eine meist offene Tür gibt den Blick frei auf das flackernde Feuer der kleinen Metallöfen, mit denen die Wagen geheizt werden und die Temperatur  in den Wasserkesseln gegenüber des jeweils ersten Abteils auf neunzig Grad gehalten wird. Jeder Passagier kann sich hier seine Instantnudeln oder Tee aufbrühen.
In der Morgendämmerung des nächsten Tages erreichen wir Ulan-Bator. Unser nicht anwesender Südeuropäer packt seine Sachen und verlässt das Abteil, ein älteres Paar aus Bristol steigt zu. Während die Steppe immer karger und die Anzeichen von Zivilisation draußen immer seltener werden, führen wir eine kultivierte Konversation über den Brexit, die Europäische Union und die Zukunft Deutschlands. Die Zeit vergeht schnell mit Warten,  ein wenig Lesen und hin und wieder Hinaustreten auf den Gang, um die (allerdings fast gleiche) Aussicht aus dem gegenüberliegenden Fenster zu genießen und dabei neugierig die anderen Passagiere zu betrachten, die dasselbe tun. Unsere Mitreisenden im Wagen sind etwa zur Hälfte Chinesen und zur anderen Hälfte westeuropäische Touristen. Zwei Stunden südlich von Ulan-Bator bitte ich unseren Zugbegleiter um einen Putzlappen; er gibt mir einen gebrauchten Kopfkissenbezug, mit dem und einer Flasche Wasser der größer als ich gewachsene Engländer auf dem nächsten Bahnhof versucht, die verdreckten Fensterscheiben von außen zu reinigen.
Für jemanden wie mich, aufgewachsen inmitten von gesättigter Hochkultur und dichter Zivilisation, ist die Leere ein Erlebnis, das Nichts, aus dem jedes Anzeichen menschlicher Aktivität hervorsticht und in den Rang von etwas Besonderem erhoben erscheint: jeder Strommast grüßt wie ein vertrauter Freund zu mir herüber, jede Behausung in der kilometerweiten Einöde verwandelt sich in der Vorstellung zu einer gemütlichen, vertrauten Zuflucht. Bei einer Tasse Kaffee im mit hölzernen Drachenköpfen und Hakenkreuzornamenten geschmückten mongolischen Restaurantwagen – welche in jedem Staat wechseln, so dass der Reisende immer in den Genuss der landestypischen Küche kommen kann – notieren wir die Dinge, die an uns vorüberziehen und staunen, wie sich die gelbgraue Leere beim zweiten und dritten Hinsehen erfüllt mit Leben: gelbe, trockene Grasbüschel, Pferde-, Kuh- und Schafherden (meine Frau bringt mit bei, dass es im Russischen für „Herde“ je nach Tierart ein anderes Wort gibt), Vögel, ausgetrocknete Bächlein, Plastiktüten, blauer Himmel und strahlende Sonne, Plastikflaschen, selten ein Auto, ein Motorrad, ein mit erhobenem Arm den nicht vorhandenen Verkehr an einem Bahnübergang regulierender Polizist, die eine und andere steinerne Ruine oder weiße Jurte, Windräder am Horizont und mit Gras und Erde abgedeckte rechteckige Erhebungen: Bunker und Kasernen eines getarnten Armeestützpunktes.
In Sainshand hat der Zug eine halbe Stunde Aufenthalt. Der chinesische Zugbegleiter bedankt sich mit einem Kopfnicken für die Rückgabe des nunmehr sehr schmutzigen und nassen Kopfkissenbezuges. Viele Passagiere vertreten sich auf dem Bahnsteig die Beine. Wir steigen auch aus, als einzige mit Rucksäcken, also für immer. Links vom Gleis gelbe Einöde, rechts das Bahnhofsgebäude, ein paar Lebensmittelkioske und eine Straße, die zu einer kleinen Siedlung zu führen scheint – auf den ersten Blick wirkt Sainshand wenig einladend. Ich frage mich, was das Grinsen im Gesicht unseres Engländers bedeutet; ob wir wirklich hier in der Mitte vom Nirgendwo bleiben wollen, scheint er sich zu wundern. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, eine Frau und ein Mann warten darauf, dass sich jemand für ihre Socken und Aquarellbilder interessiert. Nebenbei registriere ich, dass die Bahnstrecke tatsächlich eingleisig und nicht elektrifiziert ist, den Zug zieht eine Diesellok. Der Bahnsteig wird leer, die Wagen setzen sich in Bewegung. Mit den Socken und Aquarellbildern bleiben wir allein auf dem Bahnsteig zurück.
Ohne genaue Pläne und Verabredungen an einem ganz neuen Ort zu sein ist immer aufregend. Weil niemand und nichts auf uns wartet, wartet scheinbar jeder und alles auf uns, hinter jedem Gesicht könnte sich die nächste spannende Begegnung verbergen, hinter jeder Hausecke, an jedem Baum und Denkmal die große Offenbarung ihrer Entdeckung harren, von jedem noch unbestiegenen Hügel aus sich des großen Gottes ganze Herrlichkeit in ihrer ungeahnten Fülle darbieten. Am nächsten Morgen – inzwischen haben wir ein kleines Hotel gefunden – betreten wir das Heimatkundemuseum und fragen nach einem Auto mit Fahrer, der uns die Wüste zeigen möchte, möglichst einer, der alle Geheimnisse und Hintergründe in uns verständlicher russischer Sprache erläutern kann. Hunderttausend Mongolische Tugrik würde ein solcher Ausflug kosten, gibt uns die Großmutter an der Kasse zu verstehen, bei einem Kurs zum Euro von eins zu dreitausend kein allzu hoher Preis für einen ganzen Tag, und wir sind einverstanden. Zehn Minuten später begrüßt uns mit Handschlag ein ehemaliger Schüler der Großmutter, ein bulliger Typ mit kurzen Haaren und Sonnenbrille, und geleitet uns zu seinem Geländewagen. Er arbeitet abends und morgens als Brotlieferant und hält sich tagsüber bereit als Fahrer für spontan auftauchende Touristen.
Unser Reiseführer spricht ein exzellentes Russisch, da er noch zu kommunistischen Zeiten an eine sowjetische Schule gegangen ist, und hat einen Namen, dessen Knäuel aus fremdartigen mongolischen Klängen wir nicht verstehen können, auch nachdem er dreimal wiederholt wurde, bis ich ihn bitte, die Buchstaben auf einen Zettel zu schreiben. Das kehlige, spuckige Lauteknäuel soll Zhabchsan heißen. Ich werde mich im Verlaufe des ganzen langen Tages nie trauen, ihn mit seinem Namen anzusprechen.
Zhabchsan – niemand verlangt vom Leser lautes Vorlesen, deshalb können wir ihn im Schriftlichen ruhig so nennen – Zabchsan jedenfalls bricht mit uns in die Wüste Gobi auf. Um gerüstet zu sein für eine Vielzahl von heiligen Stätten, Hügeln und Bergen, besuchen wir zuerst ein Lebensmittelgeschäft und kaufen eine kleine Flasche Wodka und eine Packung Milch. Südlich von Sainshand verwandelt sich die immer karger werdende Steppe endgültig in Wüste, das gelbe Gras weicht bräunlichem Lehm und Steinboden. Links und rechts trotten Kamelherden an uns vorbei. Es ist windig, aber nicht kalt und schneefrei. Ich erinnere mich, dass wir vor genau einem Jahr in der Mongolei in einer dünnen Schneedecke unterwegs waren. In Burjatien wohnt ihr, sagt unser Reiseführer erfreut, das ist ja auch mongolische Erde! Die Russen fänden es bestimmt nicht lustig, wenn man ihnen erzähle, dass Burjatien eigentlich mongolische Erde sei, sage ich.
Am Stadtrand halten wir kurz, um an einem Kontrollposten eine kleine Mautgebühr zu zahlen. Unser Reiseführer gibt der Polizistin das Ticket sofort zurück, da es ohnehin niemand prüfen würde. „Dann kann sie es nochmal verkaufen“, sagt er. Nach einer Stunde erreichen wir eine Anhöhe mit zwei Steinhaufen, die aus der Entfernung an das Profil einer Mutterbrust erinnern. Frauen, so erläutert Zhabchsan, sollten hier den Geistern Milch opfern, um für all das zu danken, was sie von ihrer eigenen Mutter bekommen haben, um so ihre eigene Mütterlichkeit zu stärken. Niso spritzt den Inhalt der Milchpackung gegen die Steine, die schon von einer dicken weißen Schicht aus erstarrter Milch bedeckt sind von den vielen Müttern, die vor ihr da waren.
In einer Senke unweit des Mutterberges zeigt uns unser Reiseführer ein an der Oberfläche offen herumliegendes Dinosaurierskelett, kein ganzes Skelett, um genau zu sein, sondern nur die drei Meter lange versteinerte Wirbelsäule und einige Brustknochen, aber trotzdem beeindruckend: ob die Knochen schon lange hier so herumliegen und warum sie niemand einfach mitnimmt, möchte ich wissen. Nun, sagt Zhabchsan, das wäre ja hier ein heiliger Ort, wenn man auch nur einen einzigen Stein in die Tasche stecke, brächte das Unglück über die ganze Familie, aber bei genauem Hinsehen könne man durchaus erkennen, dass schon einige der Wirbel durch einfache Felsbrocken ersetzt wurden. Vielleicht habe man sie an die Chinesen verkauft, die Grenze sei nicht weit und das Nachbarvolk ganz heiß auf solche Dinge.
Immer wieder kommen wir an leuchtend weißen Stupas vorbei, quadratische, massiv gemauerte buddhistische Schreine, wie wir sie auch aus der Baikalregion kennen. An einer Stelle stehen Dutzende von ihnen in einem großen Quadrat, in dessen Mitte zwei Mongolen telefonierend auf dem Rücken im Schotter liegen. Dieser Ort sei als spirituelles Energiezentrum bekannt, die empfangene kosmische Kraft könne man sogar per Telefon an seine Verwandten und Freunde weitergeben, erläutert uns Zabchsan. In einer Art großen metallenen Kanne mit seitlichen Öffnungen entzündet er ein grünes wohlriechendes Pulver, wohl das buddhistische Gegenstück zum christlichen Weihrauch, und führt uns zu einem ungeordneten Steinhaufen. Der Dämonenmagen, erfahren wir, und wenn man an einer bezeichneten Höhlung seine Sünden hineinflüstert, würde er sie schlucken und einen auf diese Weise davon befreien. Niso und ich überlegen einen Moment und murmeln dann nacheinander einige nur uns bekannte Worte in die genannte Vertiefung.
Ein paar Kilometer werden wir zur Besichtigung einiger dunkler Felshöhlen aufgefordert, in denen Mönche einst meditierend einhundertacht Tage zubrachten, bis 1937 das Ende kam; Parteichef Tschoibalsan, der Stalin der Mongolei, ließ das benachbarte Kloster zerstören und die Lamas verjagen oder verhaften. Erst später, nach der Reise, werde ich bildungshungrig in Wikipedia blättern und lernen, dass einhundertacht im Buddhismus eine heilige Zahl ist, die sich wiederum als Produkt aus anderen heiligen Zahlen zwölf (Anzahl der Tierkreiszeichen) und neun (klassische Anzahl der Planeten, noch mit Pluto) ergibt und der Menge an Perlen auf einer Gebetskette entspricht, welche wiederum die Anzahl an Wiederholungen eines Mantra-Spruches vorgibt, und so fort – doch noch bin ich nicht zuhause am Laptop, sondern in der Wüste: gerade steuert Zhabchsan mit uns das Chamaryn-Kloster an und führt uns in einem der Tempel durch eine mit Hakenkreuzornamenten umrahmte Tür. Hinter einem mit verschiedenen Metallgefäßen, Ketten und Räucherpulvern vollgestellten Tisch sitzt im orangenen Umhang ein glatzköpfiger Lama und rezitiert mit kehliger, tiefer Stimme heilige Worte.  Auf der mit einem spitzen Ende nach unten hängenden Tischdecke prangt schon wieder ein Hakenkreuz. Unser Reiseführer scheint ihn gut zu kennen; der Lama unterbricht seinen Gesang, um mit ihm zu scherzen, erkundigt sich nach unserem Wohlergehen und erlaubt mir, ein Foto zu machen. Um der Heiligkeit und Besonderheit des Ortes gerecht zu werden, erhebt sich wie von selbst meine rechte Hand, um das Kreuz zu schlagen. Im letzten Moment besinne ich mich und nehme dazu noch die linke, um die aneinandergelegten Handinnenflächen vor die Brust zu führen – sicher auch nicht korrekt, aber immer noch besser, als sich im buddhistischen Tempel zu bekreuzigen. Obwohl auch das nicht schlimm wäre. Mir scheint, es geht unkompliziert und pragmatisch zu mit einer Portion Humor.
Bevor sich die Sonne dem Horizont nähert, steuern wir den einige hundert Meter hohen Berg der Wünsche an. Am Fuße der Erhebung kauft sich Niso im Souvenirstand eine Klangschale, dann begeben wir uns die gemauerte Treppe hinauf und schreiben an einer Art gusseisernem Ofen unsere geheimen Wünsche auf einen Zettel. Wenig später steigt der Rauch von unseren verbrennenden Zetteln zu den Göttern auf, auf dass sie nun die Erfüllungswürdigkeit unserer Bitten prüfen mögen. Fünfzig Meter unterhalb des Gipfels lasse ich Niso zurück und steige allein die letzte Etappe hinauf. Die Tradition verbietet es Frauen, den Weg ganz bis zum Gipfel zurückzulegen. Neben den im Winde flatternden Gebetsfahnen auf dem Berg der Wünsche erinnere ich mich an die kleine Flasche Wodka in meiner Jackentasche und lasse den gesamten Inhalt von einer Böe hinwegtragen, wie es der Brauch verlangt. In Burjatien wird dieses Ritual in einer Abwandlung praktiziert; den Geistern opfert man nur ein paar Tropfen, der Rest geht an die eigene Leber.
Südlich von Sainshand gibt es ein großes Feld mit Solarzellen, dahinter stehen fünfundzwanzig Windräder, schnurgerade in einer Reihe in die lehmgelbe Hügellandschaft hinein. Am nächsten Tag fahren wir mit Zhabchsan zu seinen Bekannten, die in einer Jurte in einer Senke zwei Kilometer westlich von Windrad Nummer fünf wohnen. Neben der runden weißen Behausung steht ein offenes Stallgebäude mit einem aus gedrockneten Viehdung-Ziegeln errichteten Zaun davor. Wir treten ein durch die leuchtend blau und rot lackierte Holztür und werden gebeten, auf Hockern in der linken Hälfte Platz zu nehmen, die für Gäste und Männer vorgesehen ist. Uns gegenüber sitzen die Gastgeber, eine jüngere und eine ältere Frau mit wettergegerbtem Gesicht und einem dunkelgrünen Deel mit orangenem Gürtel, der traditionellen mongolischen Bekleidung. Die Jurte ist sehr sauber und aufgeräumt, fast ein wenig leer; wie uns Zabchsan mitteilt, wohnen die anderen Familienmitglieder in der Stadt. Eine Autobatterie spendet morgens und abends Strom für die Deckenlampe. Mich wundert die Abwesenheit des Fernsehers und das Vorhandensein einer großen funktionierenden Wanduhr, hatte ich doch geglaubt, dass in der Mongolei die Zeit im Sinne der westlichen Welt keine Rolle spiele.
Man reicht uns zwei Schalen mit Archi, aus vergorener Milch gebranntem Wodka. Ich fühle mich inspiriert und glücklich. Mir scheint, der große Moment naht, das zentrale Schlüsselerlebnis unserer Reise: der lang ersehnte Dialog mit den Eingeborenen der Wüste Gobi. Als studierter Sprachwissenschaftler habe ich mich selbstverständlich über Tage darauf vorbereitet. Irgendwo in meinem Rucksack liegen drei DIN-A4-Zettel, eng beschrieben mit einigen hundert mongolischen Wörtern, Sätzen und grammatischen Grundregeln. Jetzt, da ich endlich zwei echten Mongolen in einer mongolischen Jurte gegenübersitze, fallen mir allerdings nur zwei davon ein. Macht nichts, denke ich, der Rest wird aus den Tiefen des Gedächtnisses im Verlaufe unseres philosophischen Austausches sicher hervortreten.
„Minij ner Thomas. In minij echner“, sage ich mit einladendem Lächeln. Das bedeutet soviel wie dass mein Name Thomas sei und sich neben mir meine Ehefrau befände.
Die jüngere der beiden Frauen gießt aus der Thermoskanne Tee in meine Schale nach. Die ältere schaut ausdruckslos vor sich hin.
„In minij echner“, sage ich.
Die jüngere Frau steht auf und zeigt unserem Reiseführer etwas auf ihrem Smartphone.
Abendelang habe ich die mongolische Phonetik studiert, weiß, dass die am Ende der Worte geschriebenen Vokale nicht ausgesprochen werden, dass beim „L“ die Luft so hart hinter die an den Gaumen gepresste Zunge gepustet werden muss, dass sie links und rechts seitlich über dieser entweicht und überhaupt, dass die Laute tief hinten im Rachen gebildet werden und es irgendwie archaisch, erdig und hart klingen muss.
„Minij echner“, sage ich zweifelnd.
 Meine Sicherheit im Mongolischen beginnt zu bröckeln.
Aus den Gesichtern unserer zwei Gastgeber ist nicht abzulesen, ob sie mich verstanden haben und wenn ja, ob sie dem Gesagten eine Bedeutung beimessen.
Wir schweigen.
Es gibt Wege zu den Herzen aller Menschen, doch diese können sehr verschieden sein. Man muss nur den richtigen finden.
„Gibt es viel Schnee hier im Winter?“, frage ich auf Russisch mit einem Seitenblick auf unseren Reiseführer und Dolmetscher.
„Nein, gibt es nicht“, antwortet Zhabchsan, anstatt zu übersetzen.
„Können Sie meine Frage an die Frauen bitte auf Mongolisch wiederholen?“, sage ich.
„Warum denn, wenn ich die Antwort selbst weiß.“
Wir schlürfen Milchtee und knabbern süßen getrockneten Quark. Rechte Gemütlichkeit will sich nicht einstellen, vielleicht liegt es daran, dass es draußen warm ist und deshalb der Metallofen in der Mitte ungeheizt bleibt, vielleicht auch daran, dass das Gespräch mit den Eingeborenen der Wüste Gobi nicht in Gang kommt. Nach einer Weile verlassen wir die Jurte und steuern einen dornigen Baum in einigen hundert Metern Entfernung an, vor dessen Stamm ich mich in nachdenklicher Pose niederhocke, damit Niso ein paar eindrucksvolle Fotos machen kann.
Noch ehe die Gelegenheit kommt, dem teuflischen Versucher zu wiederstehen, der wie das biblische Vorbild sicher auch mich bald heimsuchen würde (erst später fällt mir wieder ein, dass die Gobi ja eine buddhistische Wüste ist) – ehe jedenfalls drei Minuten vergangen sind, winkt uns Zhabchsan zurück zur Jurte. Wir betrachten neugierig die Reste einer russischen Panzerabwehrminen-Attrappe im Lehmboden – von 1966 bis 1992 waren sowjetische Truppen in der Mongolei stationiert, und hier war ein Übungsgelände – dann geht es wieder nach Sainshand.
Ich drücke Zhabchsan vierzigtausend Tugrik als Dankeschön für die heutige Exkursion in die Hand, wir verabschieden uns und spazieren vom Zentrum zum etwas außerhalb gelegenen Bahnhof. Außer ein paar verkümmerten, angepflanzten Bäumen am Straßenrand ist weit und breit kein größeres Gewächs zu sehen. Viele Mongolen wohnen in Jurten, nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt. Die kleinen kahlen Grundstücke sind umgeben von Zäunen aus Holz oder Metall, zum Beispiel aus den Boden- und Seitenteilen aufgeschnittener und glattgepresster Fässer. An einer interessanten Stelle setzen wir uns auf den Boden, ich zeichne ein kleines Aquarellbild. Charakteristisch für mongolische Siedlungen ist ein bestimmter chemischer Geruch, wie eine Mischung aus Kohlerauch und verbranntem Gummi – sicher nur im Winter, wenn geheizt wird, aber ich kenne das Land nur aus der kalten Jahreszeit.
Mit dem Nachtzug fahren wir nach Ulan-Bator. Der Waggon begrüßt uns wie ein alter Bekannter: ein russischer Großraumwagen mit den Pritschen zum Übernachten in üblicher Anordnung. Wir fühlen uns schon fast wieder wie zuhause. Da der Regionalzug ständig anhält und Leute ein- und aussteigen, kann ich nicht einschlafen und lese lieber: die transmongolische Eisenbahnstrecke wurde von der Sowjetunion gebaut; das siebzig Jahre alte Abkommen zwischen dieser und der damaligen Mongolischen Volksrepublik über den Betrieb und die Netzunterhaltung ist noch heute gültig, die Bahn ist Eigentum der russisch-mongolischen Ulan-Bator-Eisenbahn-Aktiengesellschaft, fährt auf russischer Breitspur und mit russischer Technik. Einige Unterschiede zu den Zügen im heimischen Russland – habe ich eben vom heimischen Russland gesprochen? Höchste Zeit für die Rückkehr nach Deutschland! – fallen uns dann doch auf: niemand will unsere Pässe sehen, die neue Bettwäsche ist nicht in Folie eingeschweißt, die beiden erstaunlich sauberen Toiletten nach Geschlecht getrennt und auf der Plattform am Wagenende wird geraucht.
In der Morgendämmerung erreichen wir die Hauptstadt. Vor der Rückreise kaufe ich etwas, das es in Ulan-Ude nicht gibt: Haverland Bauern-Schwarzbrot mit würzigem Malzgeschmack, herrlich rustikal. Mongolische Supermärkte sind gefüllt mit deutschen Lebensmitteln in Originalverpackung. Die Straßen sind gefüllt mit japanischen Autos. Das Lieblingsauto der Mongolen ist der Toyota Prius, welche geschätzt zwei Drittel aller Fahrzeuge ausmachen. Extrem chaotisch, aber weich und ganz leise gleiten sie dahin, fast lautlos deshalb, weil es Hybridautos mit Elektromotor sind; unglaublich knapp wird beim Spurwechsel geschnitten, Ampeln werden übersehen und Fußgängerüberwege ignoriert, aber die rätselhafte asiatischer Harmonie verhindert jedesmal in letzter Sekunde einen Zusammenstoß. Nach wie vor materialisieren sich Taxis innerhalb von Sekunden. Man braucht nur die Hand auszustrecken, und schon sitzt man im übernächsten Auto.
Obwohl meine Frau und ich in der Mongolei fast nichts verstehen von dem, was gesprochen wird, können wir doch die Eigennamen und Beschriftungen auf Schildern und Aushängen zumindest lesen. Nach der kommunistischen Revolution wurde das kyrillische Alphabet eingeführt, das bis heute gültig ist. Auf den Banknoten, an vielen Denkmälern und einigen Gebäuden finden sich darüberhinaus die wie an einem hängenden Faden von oben nach unten verlaufenden Buchstaben der altmongolischen Schrift. Seit einigen Jahren ist ihr Erlernen an den Schulen wieder ein Pflichtfach, Beamte müssen wohl ihre Kenntnis nachweisen.
Zurück nach Ulan-Ude fahren wir mit dem Bus. Nach etwa vier Stunden erreichen wir die Grenze. Die Fahrgäste müssen aussteigen und ihr Gepäck persönlich durch die Zollabfertigung tragen, zuerst auf der mongolischen, dann auf der russischen Seite. Nach zwei Stunden kann es eigentlich weitergehen, wenn da nicht eine Frau wäre, die offensichtlich etwas Verbotenes mitführt oder deren Tasche die Gewichtsobergrenze von – seit diesem Jahr ein neues Gesetz – fünfundzwanzig Kilogramm überschritten hat oder beides, jedenfalls füllt sie eine geschlagenen Stunde lang irgendwelche Formulare aus, während die anderen Passagiere in einem Vorraum des Zollgebäudes warten müssen. Ich zähle unterdessen die vielen A4-formatigen Zettel an Wänden, Türen und Fenstern und komme auf ungefähr einhundert: manche ordentlich eingerahmt auf Schwarzen Brettern, andere mit Klebestreifen an der nackten Wand befestigt; die einen uralt und ausgeblichen, die anderen offensichtlich neueren Datums, manche mit Überschrift, die meisten ohne, eine wirre, chaotische Vielfalt von Gesetzestexten, Warnungen, Regeln, Vorschriften, Hinweisen und Formalitäten. In Russland wird man entweder von einer tausendfachen unstrukturierten Informationsflut erschlagen oder erfährt überhaupt nichts. Auf unserer Reise von der Morgen- bis zur Abenddunkelheit haben unsere Fahrer nicht ein einziges Mal die Passagiere mit einer Ansage über irgendetwas aufgeklärt. Aber eigentlich ist das wohl gar nicht wesentlich, Erwartungen eines flixbusverwöhnten Westlers. Spät erreichen wir die burjatische Hauptstadt. Die Wüste Gobi versinkt in der Erinnerung.
Am nächsten Tag werden Niso und ich Maja von den Großeltern abholen. Mein Schwiegervater ist inzwischen stolzer Besitzer eines silbergrauen Wolga 3105, fünfzehn Jahre alt, aber in sehr gutem Zustand. Er wird mir einen Geburtstagswunsch erfüllen: mit Genuss werde ich das reichlich Benzin schluckende, breite, weiche und flache Gefährt mit Hinterradantrieb eine Runde selbst durchs Dorf steuern.

Die Wasserkessel im Fernzug von Moskau nach Peking (oben) werden mit Kohle geheizt (unten).
Im mongolischen Speisewagen (oben). Blick aus dem letzten Wagenfenster (unten)
Niso opfert den Göttern Milch am Mutterbrustberg (oben). Unser mongolischer Reiseführer Zhabchsan sprach zum Glück ausgezeichnet Russisch (unten)
Leuchtend weiße Stupas umrahmen einen als kosmisches Energiezentrum bekannten Ort (oben). Das Hakenkreuz ist in der Mongolei ein Symbol mit positiver Bedeutung (unten)
Am Berg der Wünsche schreibt Niso die ihren auf einen kleinen Zettel, der dann verbrannt wird (oben). Mein Gespräch mit den Gobi-Eingeborenen in der Jurte verlief nicht ganz zufriedenstellend (unten)
An meinem 40. Geburtstag ließ mich der Schwiegervater ans Steuer seines neuesten Stolzes: ein Wolga 3105