Samstag, 26. September 2015

Bürokratie

Mein derzeitiges russisches Visum gilt bis Anfang November und ist ein Einmalvisum. Sollte ich also vor lauter Begeisterung über die tolle Steppenlandschaft versehentlich die Grenze zur Mongolei überqueren, die nur ein paar hundert Kilometer weiter südlich liegt, gibt es keine Chance, nach Russland zurückzukehren. Demnächst wird das Visum um ein Jahr verlängert und in ein Mehrfachvisum umgewandelt – dann steht natürlich ein Besuch von Ulan-Bataar auf dem Programm, und Anfang Januar auch Heimaturlaub in Deutschland.
Um einen Arbeitsvertrag mit der Uni zu bekommen, musste ich mir eine russische Rentenversicherungsnummer und eine Steuernummer besorgen. Die Rentenversicherung und der Föderale Steuerdienst bemühen sich um ein modernes, westliches Auftreten: die Kunden ziehen eine Wartemarke und werden aufgerufen, an der Wand gibt es einen großen Aushang, der die Leitlinien „Transparenz, Effektivität, Serviceorientierung“ erläutert. Um die Steuernummer beantragen zu können, wurde ich ins Nachbargebäude geschickt, um dort in einem Übersetzungsbüro eine beglaubigte Übersetzung meines Passes anfertigen zu lassen. Das Büro hieß „Nippon“, während ich wartete, bis die junge Dame meinen Pass übersetzt hatte, studierte ich die große Karte von China an der Wand. Offensichtlich hat man eher mit ostasiatischen Dokumenten zu tun, die Mitarbeiterin fragte mich, was denn „Landeshauptstadt“ und „Oberbürgermeister“ bedeutet und wollte auch wissen, was „blaugrau“ heißt. Manchmal schmunzeln die Leute hier über die Angabe der Augenfarbe -in russischen Pässen gibt es diesen Punkt nicht.
Für die Verlängerung von Visa und die Registrierung von Ausländern ist die Migrationsbehörde zuständig. Ich habe mit dieser direkt nichts zu tun, das macht die Internationale Abteilung der Uni für mich. Bei meinem letzten Besuch dort plauderte die nette Kollegin dort ein wenig mit mir, telefonierte dann in meiner Gegenwart gemütlich mit einer Freundin und teilte dieser mit, dass sie am nächsten Tag übrigens beabsichtige zu kündigen, für 7000 Rubel monatlich habe sie keine Lust mehr, hierherzukommen und an einer Sprachschule ja noch einen anderen Job. Bei offiziellen Stellen erlebe ich oft zwei Extreme: entweder eine gelassene, nette, ins Private hineingehende Gesprächigkeit oder eher unfreundliche, abweisende Schroffheit. Nicht üblich ist die sachliche, geradlinige westeuropäische Höflichkeit und auch das damit verbundene Arbeitstempo. Die Menschen haben viel weniger eine offizielle, vom Privaten getrennte Seite ihrer Persönlichkeit entwickelt. Auskünfte werden mitunter erstaunlich minimalistisch erteilt. Ist Galina Sergeevna da? Nein. Dass sie aber schon in 5 Minuten wiederkommt, erfahre ich nur, wenn ich explizit die Frage stelle, wann Galina Sergeevna wiederkommt.
Am Montag, dem 21. September wurde ich in meiner Wohnung Zeuge eines großen Momentes. Ich saß gerade beim Nachmittagstee, als es in den Rohren an der Wand auf einmal zu knistern und zu rauschen begann. Wenig später begann ein rhythmisches Pochen in den Heizkörpern, die sich mit heißem Wasser füllten: die beiden Wärmekraftwerke (auf Russisch „TEZ“ – Teploelektrozentral) in Ulan-Ude hatten die Heizsaison 2015/16 eröffnet! Meine Heizkörper sind ziemlich modern und sogar einzeln abstellbar. Bei älteren Modellen ist dies oft nicht möglich, man reguliert die Temperatur in den dauerbeheizten Räumen durch das Öffnen der Fenster.
"Ohne Papier bist du ein Kacke-Häufchen" (russisches Sprichwort): Visum, Migrationskarte, Registrierung, Rentenversicherungsausweis