Donnerstag, 28. Februar 2019

Auf Besuch in Burjatien

Als wir Mitte Januar aus Deutschland zurückkamen, hatte Maja schon eine Woche Schule verpassst – theoretisch. Praktisch waren die Schulen in der ganzen Stadt auf Anordnung des Gesundheitsministeriums geschlossen wegen einer grassierenden Virusinfektion, auch in der Musikschule fiel der Unterricht aus. Ende Januar war dann der erste Schultag im neuen Jahr. Maja kam nach Hause und tobte eine Stunde lang herum, wir sollten ihr unverzüglich ein Smartphone kaufen; sie ist wohl eine der wenigen in der Klasse, die nur ein einfaches Knopftelefon hat. Zweite Klasse, und alle Kinder laufen schon mit Smartphone herum, ob das in Deutschland auch so ist? Am liebsten hätte ich noch ein zweites Kind in einer deutschen Schule, um vergleichen zu können. Werden in Deutschland auch für vierzehn Tage die Bildungseinrichtungen geschlossen aus Quarantänegründen? Ich kann mich nicht erinnern. Am Morgen des nächsten Tages wachte Maja mit Fieber auf und lag drei Tage krank im Bett. Ich konnte meine Frau überreden, mit dem Rufen des Notarztes zu warten, bis die Temperatur auf über 39 Grad angestiegen war; der Notarzt diagnostizierte eine Akute Virale Atemwegsinfektion und verschrieb virenhemmend wirkende Tabletten. Ein wenig skeptisch wurde ich, als ich herausfand, dass die Wirkstoffe in Westeuropa nicht zugelassen sind und es in Deutschland nicht üblich ist, gegen Viren Tabletten zu schlucken. Ich glaube, in Russland ist man sehr schnell mit dem Griff zu Medikamenten, und schon bei geringem Fieber brechen die Leute in Panik aus. In der Apotheke gibt es alles Mögliche rezeptfrei.
Der erste Schultag für Maja hat also nicht so viel gebracht – hätten wir doch lieber noch eine Woche Urlaub gemacht!
Inzwischen ist die Kleine längst wieder gesund und unser Alltag eingezogen: ab dreizehn Uhr Schule, vormittags Musikschule. Anlässlich des Tages des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar, dem russischen Männertag, gab es einen kleinen Auftritt mit dem Kinderchor: „Unsere Heimat ist stark“, sangen die Kinder, „es gibt Panzerfahrer/ Matrosen/ Artilleristen/ gute Schützen/ Raketen und Schiffe / Unsere Kosmonauten sind das Wunder der ganzen Erde / unsere Heimat ist stark und beschützt den Frieden!“ Patriotische Heimatlieder habe ich in meiner Pionierzeit auch gesungen. „Unsre Heimat / das sind nicht nur die Städte und Dörfer…“ oder „Wie unser kleiner Trompeter / ein lustiges Rotgardistenblut“.
Ein eigenes Smartphone finde ich für ein 8-jähriges Kind zu früh, dafür habe ich Maja eine Digitalkamera gegeben. Die Lehrer schreiben kurz vor Stundenende die Hausaufgaben an die Tafel und geben keine Zeit zum Abschreiben: alle zücken ihr Handy, klick, fertig.
Abends, nachdem die Kleine vorgelesen bekommen hat und schläft, lesen meine Frau und ich zusammen auf Russisch Tolstojs Anna Karenina, einer meiner Lieblingsromane. Ich lese das Buch schon zum vierten Mal. Das letzte Mal war vor etwa acht Jahren während meiner Studentenzeit; inzwischen bin ich älter als Wronskij, Lewin und Oblonskij und habe ganz andere Gedanken zu ihnen.

Gerade haben wir Besuch aus der Heimat. Es kommt nicht so oft vor, dass sich jemand auf den Weg macht, um mich hinter dem Baikalsee zu besuchen. Mein Freund Simon ist mit seinem 11-jährigen Sohn Aeneas hier, der sich freut, mal einen richtigen Winter zu erleben und mit Maja auf den drei Meter hohen, sokúj genannten Eis- und Schneeauftürmungen herumrennt, die sich am Ufer des zugefrorenenen Sees gebildet haben, ein jedes Jahr wiederkehrendes Naturschauspiel. Mit dem Auto fahren wir bei Posolsk, wo ein orthodoxes Kloster direkt am Ufer steht, ein paar Meter auf das Eis hinaus, an einer Stelle, wo in die sokuj eine Art Durchbruch angelegt wurde und dahinter eine glatte Fläche, an deren Rand ein aus Eisziegeln gebautes Kreuz steht und in der Mitte die wieder gefrorenen Reste eines Loches sichtbar sind, in dem gebadet wurde – das traditionelle Eisbaden zum 19. Januar, ein an die Taufe Jesu erinnerndes Fest kreschtschenie.
Mit Simon zusammen habe ich ein Semester anthroposophische Theologie in Stuttgart studiert in einer Phase des intensiven Suchens und Ausprobierens nach dem Ende meines Zivildienstes in Leipzig. Der solidarische Landwirtschaft betreibende Bauer setzt sich bei uns zuhause ans Klavier und spielt Schubert, feingeistiger Kulturmensch und praktischer Arbeiter fallen in ihm auf interessante Weise zusammen. „Als ich die Gesichter der russischen Reisenden im Flugzeug studiert habe“, sagt Simon, „ist mir klargeworden, dass Europa ohne Russland nicht gehen wird. Man kann dieses Land nicht ignorieren oder ausgrenzen!“
Aeneas und Maja spielen Halli Galli und beschäftigen sich mit einer aus Holzleim und Rasiercreme selbst hergestellten schleimigen Masse, eine Art Kaugumme für die Hände; keine gemeinsame Sprache ist für Kinder ja zum Glück kein Problem. Mit Simon habe ich etwas, das mir sonst hier mitunter fehlt: lange Gespräche auf Deutsch. „Du hast dir wohl die Fremde gesucht, um die Bedeutung deiner Fähigkeiten besser zu spüren“, meint er, „dir wird hier eine bestimmte Achtung entgegengebracht, die du so in Deutschland nicht bekommst.“
Ende Februar gab es einen Wetterumschwung in Burjatien, seitdem sind es am Tage nur noch wenige Grad unter Null, die Sonne scheint und das Zwitschern der Vögel mancherorts lässt eine fast schon frühlingshafte Stimmung aufkommen – sehr ungewöhnlich für diese Zeit im Jahr. Gleichzeitig liegt ungewöhnlich wenig Schnee. Der Spätwinter ist touristische Hochsaison auf dem Baikalsee: die Zeit der Eiswanderungen. Damit meine Studenten besser verstehen, warum sie eigentlich Deutsch lernen, habe ich eine Reiseveranstalterin in die Uni eingeladen, damit sie den jungen Leuten etwas über das Touristengeschäft erzählt. „Es gibt einen großen Mangel an deutschsprachigen Reiseleitern in Burjatien“, sagt die junge Frau, „Moskauer Veranstalter schicken die deutschen Touristengruppen oft nur bis Irkutsk, weil es hier in Burjatien niemanden gibt, der sich in ihrer Sprache um die Besucher kümmert.“ Ich muss daran denken, wie schwierig es war, ein Hostel mit auch nur englischsprachigem Personal für meinen Vater zu finden. „Deutsche Touristen sind die dankbarsten überaupt, auch finanziell, das Trinkgeld übersteigt nicht selten das Einkommen, und auch das ist schon nicht schlecht, zwei- bis siebentausend Rubel am Tag!“ Die Studenten rollen mit den Augen, ich sehe einige schreiben. Vielleicht ist das ja mal ein Argument, das zieht für die Lernmotivation?

Wegen der zweiwöchigen Quarantäne im Januar werden die Frühlingsferien für Maja ausfallen. Da niemand längerfristig etwas plant, stört das auch keinen. Wann genau Schulferien sind, weiß sowieso niemand.Die Klassenlehrerin zuckt auf Anfrage mit den Schultern und verweist auf die noch nicht erfolgte Anweisung vom Direktor. Man erfährt es einige Tage im Voraus. Einzig das Ende der Sommerferien steht fest: diese dauern ungefähr von Ende Mai bis ganz genau zum letzten Augusttag. Darauf ist Verlass.


Dienstag, 19. Februar 2019

Auf Besuch bei den Tieren im Walde


„Neben indifferenten, uninteressanten Menschen, die ja überall in der Welt dutzend- und hundertweise herumlaufen und dem lieben Gott die Luft verpesten, habe ich auf meinen sibirischen Reisen so manche markante Persönlichkeit kennengelernt.“
Egon Freiherr von Kapherr, „Drei Jahre in Sibirien als Jäger und Forscher“, 1919

Vor dem Hauseingang treffe ich Anatolij, unseren bulligen, breiten Nachbarn, der zwei Etagen weiter oben wohnt. Die Umgebung seines rechten Auges ist blau; mitten auf der Nase und über der Nasenwurzel hat er zwei rote Wunden, als hätte ihn jemand mit dem Messer ins Gesicht geschnitten. „Na, wann geht’s los?“, fragt er. Schon lange planen wir, dass er mich einmal auf die Jagd mitnimmt. Ich will den Grund für seinen verunstalteten Anblick wissen.
„Beim Zweikampf von einem jungen Kerl eins auf die Schnauze bekommen“, sagt Anatolij. „Ich war schließlich früher Box-Meister und dachte, sowas kann ich noch.“
Eigentlich sähe es eher aus wie eine Messerattacke und nicht wie ein Faustschlag, meine ich.
„Keine Ahnung“, antwortet er, „ich war besoffen. Also am Wochenende fahren wir? Benzingeld hast du?“
Benzin und Lebensmittel gingen auf meine Kosten, sage ich voller Vorfreude auf das Erlegen eines Braunbären, nicht wissend, dass diese im Winter ja schlafen.
„Es gibt zwei Möglichkeiten: wir können nachts Scheinwerferjagd machen oder tagsüber zu Fuß pirschen. Vom Scheinwerfer leuchten die Augen des Wildes in der Dunkelheit, das ist aber illegal, wenn sie uns erwischen, kommen wir in den Knast. Für die zweite Variante habe ich eine Lizenz.“ Ich entscheide mich für den letztgenannten Vorschlag.
In diesem Jahr ist es bis Mitte Februar in Burjatien ungewöhnlich kalt. Wochenlang steigt das Thermometer auch am Tag nicht auf über minus zwanzig Grad. Das Katastrophenschutzministerium schickt SMS-Nachrichten an die Bevölkerung und warnt vor Temperaturen von bis zu minus fünfzig im Norden der Republik. Am Tage vor unserer geplanten Abreise sehe ich aus dem Fenster, wie Anatolij an seinem Toyota Landcruiser herumwerkelt. Als ich zu ihm komme, drückt er mir einen kleinen Gasflammer in die Hand und bittet mich darum, bestimmte erfrorene Schläuche und vor Kälte weißlich angelaufene Metallteile im Motorraum mit der offenen Flamme zu erhitzen, damit der Wagen anspringt. Ich bin etwas unschlüssig und erkundige mich, wo genau sich eigentlich der Tank befände? Anatolij baut verschiedene Akkumulatoren ein und wieder aus, sprüht irgendeine Schnellstarter-Flüssigkeit in den Ventilator, kippt Anti-Gefrier-Gel in den Diesel und beratschlagt sich mit verschiedenen Nachbarn, die zufällig vorbeikommen. Nach einer Weile geben wir auf und rufen den Autoaufwärm-Service. Ein junger Mann positioniert eine benzinbetriebene Wärmekanone unter dem Motorraum und hängt den Wagen seitlich mit einer Plane zu; tausendzweihundert Rubel kostet die Dienstleistung, nach einer halben Stunde ein traktorartiges Röhren: der Vier-Liter-Hubraum-Koloss des Geländewagens springt an.
So kam es, dass ich zum ersten Mal im Leben in einer echten sibirischen Winterhütte übernachtete, mit einem Jäger auf Pirsch ging und ein paar Schüsse aus einer Feuerwaffe abgab.
Hundert Kilometer fahren wir zunächst durch ein steppenbedecktes, weites Tal nach Osten, um dann nach Norden in den Taigawald hinein abzubiegen, bis wir schließlich an einer Simovjó ankommen, wie die Hütten in Sibirien genannt werden, die meist im Winter von Jägern benutzt werden. Tritt man durch die niedrige Tür, geht es erst einmal einen halben Meter nach unten in die Erde hinein, die Wände bestehen aus übereinandergeschichteten Rundbalken von etwa fünfzehn bis zwanzig Zentimetern Durchmesser, die gerade Bretterdecke ist so niedrig, dass ich nicht stehen kann. Ein schräg darübergebautes offenes Dach ermöglicht es, dass der Schnee seitlich abrutschen kann. In einer Ecke des Raumes steht ein quaderförmiger Blechofen, um den herum Steine geschichtet sind; links und rechts eine Pritsche zum Schlafen, in der Mitte ein Tisch, an den Wänden Bretter als Ablage an zwei Seiten kleine, schmale Fensterchen. Zehn Kilometer bis zum nächsten Dorf, eigentlich kann man sagen, dass wir noch in der Zivilisation sind; kein Problem, wenn am Abfahrtstag das Auto nicht anspringen sollte, ein kleiner Fußmarsch ins Dorf, mehr nicht.
Anatolij bringt mir bei, wie man auf dem nahegelegenen Flüsschen Eis hackt zur Trinkwassergewinnung – Schnee zu schmelzen ist viel umständlicher, außerdem er enthält keine nützlichen Mineralstoffe wie das Eis – und lehrt mich das Entzünden eines Feuers ohne Zuhilfenahme von Papier, nur mit leicht entzündlichen Kiefernnadeln oder mit der Axt von einem harzigen Stamm abgeschabten Spänen. Zum Abendessen koche ich vor der Hütte Nudeln mit Dosenfleisch, während mein Nachbar sich innen um das Anheizen des Ofens kümmert; zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot des nächsten Tages wird es in Ermangelung eines selbsterlegten Hasen ebenfalls Nudeln mit Dosenfleisch geben, am Morgen des Abreisetages habe ich die Nase voll und beschließe Abwechslung: es gibt nur Nudeln. Ohne Dosenfleisch.
Die erste Nacht in der Hütte ist kühl, ich krieche tief in meinen Daunenschlafsack. Alle zwei Stunden steht jemand von uns auf und legt ein paar schon auf die richtige Länge zurechtgesägte Holzstücke in den Ofen nach. Die zweite Nacht wird deutlich gemütlicher, da Holz und Boden nun bereits durchwärmt sind. Kein Laut außer das Flackern und Knistern des Feuers, ich gehe nach draußen und blicke in Sterne und Mond, der sein fahles Licht durch die Kiefernwipfel auf die weiße Schneedecke wirft.
„Romantik, was?“, sagt Anatolij und lacht. Ich höre mir noch einmal seine Lebensgeschichte an: die älteste Tochter ist in Amerika und seine Ex-Frau gleich mit dort geblieben, er selbst hat auch einen Aufenthaltsstatus und könnte in den USA wohnen, will das aber nicht. Heimat ist unersetzbar. Hier in Burjatien kennt er, so scheint es, fast jeden, sicher hat das auch mit seiner früheren Arbeit als Chef der Gebietspolizei zu tun. Jetzt ist er Rentner, jagt, angelt, boxt mitunter oder versucht sein Auto zum Anspringen zu bringen. Zum Jagen hat er natürlich alle nötigen Lizenzen und den Waffenschein. „Fünf Jahre Freiheitsentzug, wenn dich jemand mit der Knarre hier erwischt“, sagt er, „aber keine Sorge, wir sind ja zusammen unterwegs.“
Nachdem ich am Vormittag Brennholz gesägt und gehackt habe, gibt mir Anatolij eine seiner beiden Jagdwaffen, ein doppelläufiges Gewehr vom Typ Bjelka (Eichhörnchen), 1964 in Izhewsk hergestellt, und stellt eine quadratische Holzplatte fünfzig Meter weiter an einen Baumstamm. Ein kurzes, trocken peitschendes Geräusch, das Fünfeinhalb-Millimeter-Geschoss schlägt fast in der Mitte ein Loch durch das anderthalb Zentimeter dicke Holz. Irgendwie hätte ich mir Schießen spektakulärer vorgestellt, lauter zumindest. Wie trägt man eigentlich so ein Teil beim Gehen? „Jäger tragen das Gewehr mit dem Lauf nach unten, Soldaten mit dem Lauf nach oben. Verdammt, hast du denn wirklich so wenig Ahnung?“ Ich erklärte, seine etwas derbe Sprache imitierend, dass ich kranken Leuten den Hintern abgewischt hätte, statt zur Armee zu gehen, was doch viel nützlicher gewesen sei. Anatolij knurrt verständnisvoll.
Mein Nachbar liest in der Taiga wie in einem Buch. Wo ich außer durchlöchertem Schnee nichts sehe, zeigt er mir Hasenpfade, auf denen später ein Zobel folgte, Reh- und Hirschspuren und solche, die von einem Wolf sein könnten. Als erstes lerne ich zu sehen, in welche Richtung das Tier ging, und wie man frische von alten Spuren unterscheiden kann; je härter der Schnee, desto älter. Leise vorwärtsstapfend begeben wir uns auf die Pirsch durch das ansteigende Tal nach oben, vorbei an Liegeplätzen des Wildes und immer wieder frischen Spuren, ich mit meiner Bjelka und Anatolij mit seinem viel wuchtigeren Selbstlader, aus dem er zehn Schuss hintereinander abfeuern könnte, ohne nachzuladen. Einige Male steckt mein Gefährte die beiden oben zusammengebundenen Stöcke, die er mitführt, in den Schnee, bringt das Gewehr darauf in Anschlag und schaut durch das Zielfernrohr. Nein, kein Hirsch, nur ein Baumstamm. Bis zum Einbruch der Dämmerung schleichen und lauschen wir, aber dabei wird es auch bleiben. Umsonst habe ich meine Frau gebeten, auf dem Balkon Platz für das Wildschwein zu machen!
„Du schenkst mir doch bestimmt eine deiner drei Taschenlampen“, meint Anatolij beim Aufbruch zurück, „ich brauche gerade eine!“ Ich erkläre ihm, dass es drei sehr verschiedene Modelle seien, eine von meinem Bruder, die zweite mit Elektroschock-Funktion zur Hundeabschreckung und die dritte mit Teleskopstab zum Ausziehen und ich auf keine verzichten möchte. „Man sagt, die Deutschen sind ein kleinliches Volk. Offensichtlich stimmt das!“ Er scheint aber nicht tiefgreifend beleidigt zu sein über das nicht bewilligte Geschenk. „Und, fährst du nochmal mit? Wenigstens ein paar Enten verspreche ich Dir das nächste Mal! Nicht böse, dass wir nichts erlegt haben?“ Ich schüttle den Kopf. Der Besuch bei den Tieren im Walde war auch ohne sie gesehen zu haben ein Erlebnis.

"Starke Fröste im Februar" - das Katastrophenschutzministerium warnt die Bevölkerung per SMS-Nachricht

Autoaufwärm-Service mit einer Wärmekanone
An und in der Winterhütte, zehn Kilometer vom Dorf entfernt in der Taiga
Wo ich nur Löcher sehe, erkennt Anatolij genau, wer wann wohin lief
Blick durchs Zielfernrohr - aber es war dann doch nur ein Baumstamm und kein Wild

Montag, 4. Februar 2019

Auf Besuch bei den Nachbarn

Die längste Menschenkette der Welt spannte sich am 23.8.1989 von Vilnius (Litauen) über Riga (Lettland) nach Tallinn (Estland)



  Vor einiger Zeit schrieb ich meinem Bekannten Wowa eine Mail, ob er sich nicht über meinen Besuch in Riga freuen würde? Schließlich sei ich noch nie in der estnischen Hauptstadt gewesen, und überhaupt täte es mich freuen, ihn einmal in seiner Wahlheimat wiederzusehen. Wowa, eigentlich Wladimir, ist ein in Moskau geborener Sprachwissenschaftler, der zehn oder zwölf Sprache fließend spricht und von wahrscheinlich noch einmal ebenso vielen den Grundwortschatz beherrscht sowie ihre „Struktur versteht“, wie er sich wohl ausdrücken würde. Wir hatten uns in Ulan-Ude kennengelernt, als er mit seiner Frau Kristina ein Jahr dort lebte, die in dieser Zeit für ihre Doktorarbeit über den burjatischen Buddhismus forschte, und damals hatte mich Wowa eingeladen, ihn doch einmal im Baltikum zu besuchen. Eine Einladung, der ich gern nachkommen wollte, zumal die Menschen in Sibirien wegen meiner äußeren Erscheinung und meines Akzentes im Russischen mitunter vermuten, ich käme von dort. Der Verkäufer im Supermarkt um die Ecke hielt mich neulich für einen Esten.
  „Ich wohne nicht im lettischen Riga, sondern in Vilnius“, kommt Wowas Antwort in fehlerfreiem Deutsch, „und außerdem ist das die Hauptstadt von Litauen. Aber du kannst mich natürlich gern hier besuchen.“ Peinlich berührt über meine bloßgestellte Unkenntnis der baltischen Länder, buche ich einen Flug von Moskau nach Vilnius. Drei wenig bedeutsame kleine Staaten, die den Übergang von der Sowjetunion zur Europäischen Union vollzogen haben und jetzt Russlands Nachbarn im Westen sind, mehr fällt mir nicht ein, ach ja, und dass die NATO dort nach der Krimkrise ihre Präsenz verstärkt hat. Diesem Unwissen kann abgeholfen werden, denke ich und besteige voller Erwartung eine Aeroflot-Maschine, die mich in anderthalb Stunden von der einen in die andere Hauptstadt bringt.

  Dem Vermieter der von mir gebuchten, kleinen und gemütlichen AirBNB-Dachgeschosswohnung in einer der engen Gassen der Vilniuser Altstadt fällt mein Nachname ins Auge. Ranft, da gäbe es hier noch einen, ob wir verwandt seien? Im Internet stoße ich später auf Christian Michael Ranft, einen deutschen Holzhändler, der schon seit langem in Litauen wohnt, und überlege einen Moment, ihn anzumailen und ein Treffen vorzuschlagen: haben Sie nicht Lust, mit mir ein wenig über unsere möglichen gemeinsamen Vorfahren zu plaudern? Doch ich verwerfe die Idee wieder, da ich kaum etwas beizusteuern hätte zum Gespräch: mein Großvater väterlicherseits ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen, damit endet für mich die Nachverfolgung der Linie Ranft schon nach zwei Generationen.
  In der stimmungsvollen Altstadt von Vilnius, die größte erhaltene historische Altstadt Osteuropas und UNESCO-Weltkulturerbe, kommt der Spaziergänger auf Schritt und Tritt an einer Kirche vorbei, meist katholischen Barockbauten mit charakteristischem Doppelturm; die Dunkelheit in der St. Peter-und Paul-Kirche wird erst nach dem Einwurf von zwei Euro in einen Automaten durch die Deckenlampen erhellt, für genau fünf Minuten. Im Kontrast dazu die gedrungener wirkenden, weil am Quadrat und nicht am Rechteck als Grundmaß orientierten russisch-orthodoxe Gotteshäuser, in denen keine Sitzbänke stehen und das Abnehmen der Kopfbedeckung für Männer und das Aufsetzen einer solchen für Frauen Pflicht ist. In Souvenirläden wird Bernsteinschmuck verkauft, und auf dem großen Platz vor der klassizistischen Sankt-Stanislaus-Kathedrale thront auf seinem Ross der Stadtgründer Fürst Gediminas, unter dessen Führung Litauen zur Großmacht aufstieg, dessen Territorium zeitweise von der Ostsee bis zu den Toren Moskaus und zum Schwarzen Meer reichte, eine Größe, der jedoch keine Dauer beschieden war.
  Im ehemaligen Gebäude des sowjetischen Geheimdienstes KGB befindet sich heute das „Museum der Okkupation und des Freiheitskampfes“. Zum Ausgangspunkt seines staatlichen Selbstverständnisses nimmt das moderne Litauen die Unabhängigkeitserklärung von 1918, als es sich nach dem Ersten Weltkrieg von Russland abtrennte. Der Einmarsch der Roten Armee im Jahre 1940 nach der Aufteilung Osteuropas im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes, die faschistische Besetzung des Landes 1941 und der erneute Einmarsch der Sowjettruppen 1944 sehen viele Litauer als Okkupationen – drei Okkupationen über ein halbes Jahrhundert hinweg, während in der sowjetischen Geschichtsschreibung natürlich von einem freiwilligen Anschluss die Rede war. Die Loslösung von der UdSSR, bei der es am Vilniuser Blutsonntag bei der Erstürmung des Fernsehturmes durch das sowjetische Militär vierzehn Tote gab, betrachten sie als Wiederherstellung ihrer rechtmäßigen Unabhängigkeit. Ausführlich berichtet das Museum über die Aktivitäten der Litauischen Aktivistenfront und über die Waldbrüder, die noch lange nach Kriegsende im Untergrund gegen die Kommunisten kämpften. Ein nicht unproblematisches Kapitel, werde ich von Wowa später erfahren, haben doch viele Litauer die Nazis als Befreier begrüßt und waren am Holocaust an Vilniuser Juden beteiligt, und zwar auch schon vor dem Einmarsch der Wehrmacht. Davon wird in der Ausstellung nichts erzählt.
  Im Keller des Museums laufen die Besucher durch das ehemalige KGB-Gefängnis, betreten die düsteren, ehemals feuchten Zellen, davon eine Nasszelle, in welcher der gefangene Dissident oder Volksfeind auf einer kleinen Erhöhung hockte, während um ihn herum der Boden mit eiskaltem Wasser bedeckt war, und besichtigen den Hinrichtungsraum mit einem Abflussloch für das Blut. Eine Reiseleiterin erzählt einer Gruppe jüngerer Männer dazu Fakten und Jahreszahlen in deutscher Sprache, muskulöse Typen mit kurzgeschorenen Haaren, ich höre den Dialekt meiner Heimat.
  „Na, auch aus Sachsen?“, frage ich kumpelhaft in die Runde.
 „Nicht alle“, kommt die Antwort nach einigem Zögern. Und nach einer kleinen Pause, etwas unwillig: „Wir sind Soldaten.“
  Statt genauer nachzufragen, wähle ich den Weg, der am wenigsten Mut erfordert und hole das Smartphone hervor: seit 2017 ist in Litauen die NATO-Battlegroup Lithuania stationiert, unter Führung der deutschen Bundeswehr im Rahmen der etwa tausend Mann starken NATO Enhanced Forward Presence als Abschreckung gegen Russland. Alles klar, Jungs!
  Zur Erholung von der schweren Geschichte betrete ich wenig später mit Wowa und Kristina ein Katzencafé. Am Eingang werden wir von einer jungen Dame in weißem Hemd und schwarzer Fliege begrüßt und auf Russisch in die Regeln eingeführt: fünfzehn Katzen leben hier, es ist verboten, sie am Schwanz zu ziehen, aufzuwecken (im Falle, sie schlafen gerade) und sie mit Kuchen zu füttern; die Mindestbestellsumme beträgt fünf Euro. In der Mitte des erstaunlich katzengeruchfreien Raumes steht eine große Kletterburg, Rassekatzen verschiedener Farbe und Felllänge durchstreifen das Lokal und holen sich von heißgetränkeschlürfenden Gästen Streicheleinheiten ab. Kurz nach uns betreten einige muskulöse jüngere Männer mit kurzgeschorenen Haaren das Katzencafé; ihre Gesichter kommen mir bekannt vor. Die junge Dame erläutert wiederholt die Regeln, diesmal auf Englisch: nicht am Schwanz ziehen, nicht wecken, nicht füttern.
  „Hauptregel: die Katzen nicht essen“, raune ich einem der Jungs auf Sächsisch ins Ohr und grinse.
  „Nee, das ist wohl ein bisschen zu viel für uns“, sagt ein anderer, nachdem die junge Dame fertig ist mit ihren Erläuterungen, und schon sind meine Landsleute wieder draußen.
  Obwohl schwere historische Themen gerade hinter uns liegen, sind wir nach kurzer Zeit schon wieder bei Politik, die auch nicht fröhlicher ist. Wowa ist entschiedener Putin-Gegner. Er sei Ende der Neunziger in eine Moskauer Vorstadtschule gegangen und dort von Gopniki verprügelt worden, den damaligen kleinkriminellen Gangstern, und ihre Sprache sei genauso gewesen wie die Putins heute: matschomäßig und brutal. Bis zum Jahre 2000 habe er in einem freien Land gelebt, das jetzt ein autoritäres Regime sei ohne wirkliche Meinungsfreiheit. Behaupte mal einer in Russland öffentlich, die Krim sei Teil der Ukraine – dann habe er doch gleich den FSB am Hals, wohingegen in der Ukraine jeder im Fernsehen sagen könne, er scheiße auf die Krim, lasst sie doch den Russen! Wowa sagt, er habe Freunde, die sich in der Oppositionsbewegung engagieren – in der echten, nicht der Marionettenopposition wie Kommunisten und Liberalen – für ihn selbst sei das aber zu gefährlich.
  „Die Russen brauchen einen starken Mann an der Spitze, sonst gibt es Chaos wie in den Neunzigern“, versuche ich es mit einem vorsichtigen Gegenstandpunkt.
  Was ich denn gegen die Neunziger hätte, sagt Wowa, eine Zeit des Um- und Aufbruchs, nicht wie heute, wo jede wirkliche Initiative von unten von den Machthabern erstickt werde.
  "In russischen Medien gibt es durchaus Meinungsvielfalt", sage ich und führe ein paar Beispiele aus der Zeitungs- und Zeitschriftenwelt an. Kein Wunder, dass ich so denke, entgegnet Wowa, wer nicht fern sähe, habe keine Ahnung, was eigentlich los sei, gleichgeschaltete Propaganda von früh bis spät.

  Weiter geht es mit dem Bus nach Norden; an der Grenze von Litauen zu Lettland werden wir angehalten, ein uniformierter Mitarbeiter des lettischen Immigationsdienstes kontrolliert die Pässe der Passagiere. Ein deutscher Pass ist Eintrittskarte für alle drei baltischen Staaten, die seit 2004 Mitglieder des Schengenraumes sind. Meine Mitreisenden sind Litauer, Letten und Russen  – Endstation der Fahrt ist St. Petersburg – und außerdem zwei Ukrainer, die nicht belegen können, wo sie in Riga zu wohnen gedenken. Sie beginnen mit dem bulligen Beamten zu diskutieren, bis er sie auffordert, auszusteigen. Nach zehn Minuten kommen die beiden jungen Männer wieder, die Fahrt kann weitergehen. Ukrainische Touristen können seit 2017 visafrei in den Schengenraum reisen, allerdings nur mit zeitlicher Begrenzung, und sie müssen auf Verlangen Unterkunft und finanzielle Mittel nachweisen.
  In Riga hat sich die 61-jährige Anita gut auf meine Ankunft vorbereitet, auf ihren ersten Couchsurfer: sie stellt mir ihr Wohnzimmer zur Verfügung, Bettdecke und Handtücher liegen bereit, ich bekomme einen kostenlosen Stadtplan und einen kleinen Zettel mit dem WLAN-Passwort. In der Küche darf ich jederzeit den BOSCH-Kaffeeautomaten nutzen, leckerster Kaffee aus auf Knopfdruck frisch gemahlenen Bohnen, kräftig und zugleich mild, wunderbar selbst für einen Teeliebhaber wie mich. Anita war Personaldirektorin bei verschiedenen großen Firmen, jetzt nennt sie sich Travel Blogger und verbringt ihre Zeit damit, in nähere oder exotische Länder zu fliegen, zu fotografieren und darüber auf Englisch zu schreiben, über zwanzigtausend Seitenaufrufe jeden Monat, das sind schon andere Dimensionen als in meinem Blog. Anita spricht fließend Russisch, obwohl sie es erst ab der zweiten Schulklasse als Fremdsprache gelernt hat, lernen musste wie alle. Sonstwohin reist die rüstige Rentnerin, nur nach Russland nicht, ein wenig fühlt sie sich unwohl in dem Land, das ihrem Urgroßvater sein Haus weggenommen hat, zu viel hatte er besessen und wurde als Kulake enteignet. Zusammen spazieren wir durch ein Stadtviertel mit hohen, frisch renovierten Jugendstilhäusern, aufwendig verziert mit den charakteristischen Rundformen. Riga ist die Stadt mit der größten Anzahl Gebäuden aus dieser Epoche. Wir begeben uns auf den Turm der Akademie der Wissenschaften, im Stalinschen Zuckerbäckerstil erbaut, und schauen von oben auf die an Norddeutschland erinnernde Altstadt, den breiten Fluss Daugava, zu deutsch Düna, und den markanten, auf drei Füßen stehenden Fernsehturm, der dritthöchste seiner Art in Europa. Mövengekreisch kündet von der nahen Ostsee. Riga, von einem Bremer Bischof gegründet, war jahrhundertelang eine deutsche Handels- und Hansestadt, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellten die Deutsch-Balten den Adel und den Großteil des Bürgertums.
  Unweit des Okkupationsmuseums – auch hier gibt es eines, das eine ganz ähnliche Geschichte erzählt wie das in Vilnius – ragt die nach Westen blickende weibliche Figur der Freiheitsstatue in die Höhe, 1935 im unabhängigen Lettland aufgestellt. Den Sowjets war sie ein Dorn im Auge, sie trauten sich jedoch nicht, sie zu entfernen und errichteten einige hundert Meter weiter eine Leninstatue mit Blick nach Osten. An der Stelle Lenins steht nun ein Torbogen aus tausenden kleinen Lämpchen, die auf- und abpulsierende leuchtende Bilder des Landes zeigen, die rot-weiße Nationalflagge und der Schriftzug „100 Jahre Lettland“, ein beeindruckender Anblick vor dem Hintergrund des winterlichen Graus und einer großen russisch-orthodoxen Kirche. Dreißig Prozent Russen leben in Lettland, die größtenteils nach dem Krieg als Arbeitskräfte für die angestrebte Industrialisierung eingewandert sind oder umgesiedelt wurden. Nach der Unabhängigkeit haben sie nicht automatisch die Staatsbürgerschaft bekommen, sondern einen „Nichtbürger“-Pass, der es ihnen zum Beispiel nicht erlaubt, an Wahlen teilzunehmen. Erst nach Ablegen eines lettischen Sprachtests können die Russen hier den Letten gleichberechtigte Staatsbürger werden.
  Im August des Jahres 1989 hat sie am Baltischen Weg teilgenommen, erzählt Anita. Es war die längste Menschenkette der Welt und Ausdruck des Unabhängigkeitswunsches der baltischen Staaten: zwei Millionen Leute auf sechshundert Kilometern von Vilnius über Riga bis Tallin standen an der Straße, in Riga dicht aneinander Hand in Hand, auf dem Dorf, wo es nicht so viele waren, mit von einem zum nächsten gespannten Tüchern, damit die Kette geschlossen bleibt. Fünf Tote hatte es auch in Riga beim Sturm auf das Innenministerium durch sowjetische Militärkräfte gegeben, im Sommer 1991 schließlich erkannte Gorbatschow die Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands an.

  Die baltischen Länder sind klein, jedes nicht größer als Bayern. Hundert Kilometer nördlich von Riga passiert der ECOLINES-Bus schon die estnische Grenze (der in Deutschland omnipräsente FLIXBUS ist wohl noch nicht bis hierher expandiert), diesmal ohne Halt und Passkontrolle. Ich sitze in der oberen Etage links am Fenster, in der vergeblichen Hoffnung, einen Blick auf die Ostsee zu erhaschen; die Straße führt nahe an der Küste vorbei, trotzdem versperren gebüschumrandete Felder oder Wälder den Blick auf das offenen Wasser, zuerst Mischwald, aus dem nach und nach die Laubgehölze verschwinden, bis nur noch Nadelwald übrigbleibt. Spätestens in Estland fahren wir durch die wunderschönste Winterlandschaft, mit wattigem Weiß bedeckte Flächen wechseln mit Fichten oder Tannen ab, auf deren graubraunen Zweigen plüschige Schneepakete liegen; hin und wieder wirbelt der Wind dicke Flocken gegen die Busfenster. Der blaugraue Himmel dazu schafft eine geheimnisvolle, etwas düstere Atmosphäre, ganz anders als ein sonnendurchfluteter und trockener Winter in Sibirien. Immer wieder dazwischen ragt ein spargeldürrer metallener Handymast auf: in Estland gibt es flächendeckendes Handynetz und Highspeed-Internet im kleinsten Dorf.
  Die Zimmer in meinem Hostel in der Tallinner Altstadt heißen Uks, Kaks und Kolm. Ich beziehe eines von sechs Betten im Zimmer Kaks, was estnisch ist und Zwei bedeutet. Im Gegensatz zu den baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch – letztere hochinteressant für Sprachwissenschaftler, wie Wowa sagen würde, da sie der vermuteten gemeinsamen indoeuropäischen Ursprache am nächsten steht – ist estnisch eine finno-ugrische Sprache und als solche dem Finnischen und Ungarischen verwandt. Die jungen Leute an der Rezeption sprechen allerdings genauso viel Estnisch wie ich, nämlich keines: sie kommen irgendwo anders her aus der globalisierten Backpacker-Welt, sie können auch nicht Russisch, sondern Global English, Spanisch und Französisch. Von der Landesfahne abgesehen, die an der Wand des großen, mit relaxten Polstersofas ausgestatteten Aufenthaltsraumes hängt, könnte das Tallinn Backpackers Hostel mit seinen open minded und easy going people auch ein Ort irgendwo anders im vereinten EU-Europa sein.
  Die engen, hügeligen Gassen mit den mittelalterlichen Gebäudefassaden begrüßen mich in wundervoller, märchenhafter Winterstimmung. Um siebzehn Uhr ist es schon völlig dunkel, Laternen beleuchten wild umherwirbelnde Schneeflocken und eine knirschende Neuschneedecke; auf dem Markplatz versuchen Schneeräumfahrzeuge vergeblich, hinterherzukommen und türmen weiße Berge vor dem Rathaus auf. Gegenüber einer häuserfreien Brache mit einer Eislaufbahn entdecke ich ein Antiquariat mit Büchern auf Russisch, Estnisch, Deutsch, Englisch, Dänisch und Französisch aus einhundertfünfzig Jahren. „Freude und Arbeit“-Zeitschriften von 1937 mit dem Führer, der Europa zur Abwehr der kommunistischen Pest einen möchte; ein DDR-Atlas aus den frühen Fünfzigern, in dem Deutschland noch ungeteilt eingezeichnet ist; Eisenbahn-Netzpläne aus der UdSSR, geografische Abhandlungen aus der Zarenzeit und Fotobände des neuen, kapitalistischen Estland, alle Irrungen und Wirrungen des zwanzigsten Jahrhunderts in Buchstaben und Bildern. Auf der anderen Seite der Straße, vor der häuserfreien Fläche, informiert ein Schild über die Zerstörung von Teilen der Tallinner Altstadt durch ein Bombardement im Jahre 1944, kein faschistisches, sondern eines der Roten Armee, und darüber, dass diese in den darauffolgenden fünfzig Jahren leugnete, an dem Angriff auf zivile Gebäude beteiligt gewesen zu sein. Es war wohl ein Racheakt der Roten Armee für den Kampf estnischer Einheiten in den Reihen der Nazis; das steht allerdings nicht dort geschrieben.
  Googelt man free walking city tour, findet man in jeder größeren europäischen Stadt eine Guide, der für ein meist jüngeres Publikum englischsprachige Stadtführungen anbietet, kostenlos und auf Trinkgeldbasis. Mich und vier allerdings ältere Londoner führt ein bärtiger Isländer durch Tallinn, der sich als seit zehn Jahren in Estland lebender Archäologe vorstellt. Auf dem Domberg spazieren wir an der schmucken orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale vorbei, Sinnbild für die Russifizierung der Region Ende des 19. Jahrhunderts, und an den Mauern von Präsidenten- und Parlamentsgebäude; weit und breit zeigt sich kein Wächter und keine Polizei. Präsident und Parlamentarier in Estland sind ziemlich jung, erklärt uns Jonas, der Guide, die alte Sowjetelite hat man endgültig zum Teufel gejagt, vielleicht ist deshalb das Land eines der digitalisiertesten der Welt: die Steuererklärung geht online in fünf Minuten, die Gründung einer GmbH am Laptop dauert einer halben Stunde; gewählt wir neuerdings auch per Internet. Estnische Programmierer haben 2003 Skype erfunden. Estland ist die wohlhabendste der drei baltischen Republiken, schon seit 2011 gibt es hier den Euro, während Lettland und Litauen erst 2016 und 2017 in die Euro-Zone dazugekommen sind. Das digitalisierteste Land ist auch das unreligiöseste, eines der unreligiösesten weltweit mit über der Hälfte Einwohnern als erklärten Atheisten. Erotische Massagestudios und Nachtclubs, beim Rundgang durch Tallinner Straßen unübersehbar, würde man im katholischen Vilnius vergebens oder zumindest deutlich länger suchen.
  Am vorletzten Tag bin ich endgültig genervt von meinen Sommerhalbschuhen, die jedes Mal nach zwei Stunden Spaziergang durch die matschigen Straßen hoffnungslos durchweicht sind und an der Heizung getrocknet werden müssen. Also bleibe ich am nächsten Vormittag im Hostel und höre mir auf youtube Arvo Pärt an, der einzige estnische, ja, der einzige baltische Komponist von Weltrang, 1980 auf Druck Moskaus nach Österreich ausgewandert. Interessant finde ich seine Dritte Sinfonie und das Credo, der Reiz der meditativ gemeinten Simplizität seiner späteren Werke im sogenannten Tintinnabuli-Stil bleibt mir verschlossen. Für den Nachmittag möchte ich mir noch ein Ziel in der Stadt suchen. Ich entscheide mich dagegen, zum dritten Mal ein Okkupationsmuseum aufzusuchen, das es natürlich auch hier gibt, und mache mich statt dessen auf den Weg an den Stadtrand, wo auf einem menschenleeren eingeschneiten Soldatenfriedhof ein etwa zwei Meter hoher Rotarmist aus Bronze steht, der mit geneigtem Kopf und abgenommenem Helm nach unten schaut. Bis 2008 stand er im Zentrum, bis er auf Beschluss des Parlaments hierher verlegt wurde, da die estnischstämmige Bevölkerung in dem Bronzesoldaten kein Symbol für die Befreiung vom Faschismus, sondern für die Unterdrückung durch die Rote Armee und das kommunistische Regime sah. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen, von der die Verlegung des Denkmals und die Umbettung der neben ihm begrabenen sowjetischen Soldaten begleitet wurden, gab es Verletzte und einen Toten. Für den estnischen Staat hatte das Verluste in Millionenhöhe zur Folge, weil in Russland kaum noch estnische Lebensmittel gekauft wurden, russische Touristen ausblieben und Warenströme auf nicht-estnische Häfen umgeleitet wurden – ein informeller Boykott als Reaktion auf diese Nicht-Ehrung der Helden des Großen Vaterländischen Krieges, ein Sakrileg für das russische Geschichtsverständnis.
Die Kommunisten haben die baltischen Länder 1944 besetzt und Teile der Bevölkerung nach Sibirien deportiert, weil nicht wenige 1941 mit den einmarschierenden Deutschen gemeinsame Sache gemacht und gegen die Rote Armee gekämpft haben. Viele Balten haben die Faschisten als Befreier empfangen, weil sie wiederum ein Jahr zuvor von den Sowjets besetzt worden waren, als eine der Folgen des Hitler-Stalin-Paktes und sicher auch als selbstverständliches Zurückholen von Gebieten, die vor dem ersten Weltkrieg ohnehin zum zaristischen Imperium gehörten. Warum hat Peter der Große 1710 seinem Reich das Baltikum einverleibt? Weil ihm die Ostseemacht Schweden, zu denen Livland damals gehörte, keine Ruhe ließ. Zuvor hatte der Deutsche Orden das erste Staatsgebilde in der Region errichtet. Geschichte ist kompliziert, und immer weiter in die Vergangenheit zurückgeschobene Schuldzuweisungen bringen wohl keinen Frieden.
  All dies ist beim Betrachten der unspektakulären Figur weit weg. Meine Fußspuren sind die einzigen im Schnee, vom Rauschen der nahen Autobahn abgesehen herrscht Grabesstille. Sogar einen Grabstein mit einer deutschen Aufschrift entdecke ich: „Ihre Namen sind im Buche des Lebens – dem Andenken der deutschen Krieger, die ihr Leben 1918 in Reval ließen.“ Bis 1918 trug Tallinn diesen Namen, wie Riga ist es eine von Deutschen erbaute Handels- und Hansestadt gewesen, bis es 1939 mit dem Deutschtum ein Ende hatte und Hitler die Umsiedlung der Deutschbalten weiter nach Westen, in neu eroberte polnische Gebiete anordnete.
  Mit der Straßenbahn – der europaweit einzige auf der schmalen Kapspur – fahre ich zurück in die Altstadt. Die Wagen sind lang und modern wie in Dresden oder Leipzig, nur gibt es einen wichtigen Unterschied: die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist für Einwohner kostenlos; wer Tourist oder nicht in Tallinn behördlich gemeldet ist, hält eine vorher mit Geld aufgeladene Magnetkarte an den Entwerter. An Tankstellen gibt es tatsächlich weder Bargeld noch Personal, bezahlt wird per Bankkarte an einem Terminal neben der Zapfsäule.
  Gerade will ich meine Schritte zurück ins Hostel lenken, da zieht ein rhythmisches Brüllen aus einer benachbarten Seitenstraße meine Neugierde auf sich. Vor der Botschaft der Russischen Föderation, an der majestätisch die weiß-blau-rote Fahne weht, haben sich sechs Menschen aufgepflanzt und skandieren Anti-Putin-Parolen, dabei die ukrainische und estnische Flagge schwenkend: „Putin – der Pirat des Asowschen Meeres“, „Krim – Ukraine“, „Hitler kaputt – Putin kaputt“ oder „Raschismus lassen wir nicht durchgehen“ (eine Wortneubildung aus Russland und Faschismus), aggressive, energische Sprechchöre. Die Botschaft bleibt natürlich geschlossen, ein paar japanische Touristen huschen verwundert vorbei, außer mir bleibt niemand stehen.

  Mein Besuch bei den baltischen Nachbarn, deren Länder ich in Zukunft sicher nicht mehr verwechseln werde, ist zu Ende. Ich bin wieder in der russischen Hauptstadt und warte auf den Ausruf des Abfluges nach Ulan-Ude. Der Taxifahrer, der mich von einem Flughafen zum anderen bringt – zum Glück ist in Moskau das Taxifahren so billig wie in kaum einer anderen europäischen Hauptstadt – erzählt mir gern und ausführlich von seinem ostukrainischen Heimatdorf, wo sein Haus und Grundstück genau auf der Frontlinie zwischen West und Ost lägen, weshalb er jetzt lieber in Moskau sei. In einer der kostenlos ausliegenden Zeitungen am Abfluggate lese ich von einem geplanten neuen Gesetz, das nicht korrekte Wiedergaben der Russischen Föderation auf Landkarten unter Strafe stellen soll, etwa wenn Kaliningrad, die Kurilen oder die Krim nicht dabei sind – wie vor ein paar Jahren versehentlich im Rahmen einer Coca-Cola-Werbekampagne geschehen; anschließend entschuldigte sich das Unternehmen öffentlich und berichtigte den Fehler. Für Estland, Lettland und Litauen ist ihre mit Russland verbundene Vergangenheit Geschichte, abgelegt im Kapitel Okkupation; der Kommunismus ist auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Das Russische hat trotzdem die Rolle einer überregionalen Verständigungssprache behalten, von den Leuten, die etwa vierzig oder älter sind, sprechen es alle, von den jüngeren zumindest die russischstämmigen – in Lettland und Estland immerhin ein Drittel der Bevölkerung.
  Von den vierzehn Ländern, welche nach dem Zerfall der UdSSR von Russland unabhängig wurden, haben neben den drei baltischen Republiken noch Georgien und die Ukraine einen ähnlichen, radikal westlichen Weg eingeschlagen; im moldawischen Transnistrien und in Weißrussland sind die sowjetischen Verhältnisse hingegen bis heute am deutlichsten konserviert – noch. Es lohnt sich sicher, auch dort einmal vorbeizuschauen, um Licht- und Schattenseiten von Lenins Erbe zu studieren, bevor die Zeiten vielleicht für immer vorbei sind. Nach der Reise ist vor der Reise!

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich Litauen zügig auf den Weg Richtung EU begeben, wie auch die anderen beiden baltischen Länder
In jeder der drei Hauptstädte gibt es ein Okkupationsmuseum. Hier der Blick in eine "Nasszelle" des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Vilnius
Im Katzencafé speisen die Gäste umgeben von von fünfzehn lebendigen Katzen. Zu den wichtigsten Regeln gehört: nicht am Schwanz ziehen und nicht mit Kuchen füttern (weiter unten)
Wo einst Lenin stand, befindet sich in Riga heute ein futuristischer, pulsierend leuchtender Torbogen, dessen Bilder "Hundert Jahre Lettland" feiern
Im modernen Geschichtsverständnis der baltischen Staaten wurde die Unabhängigkeit der Länder durch drei Okkupationen unterbrochen. Unten: Teile der Rigarer Bevölkerung begrüßen die Wehrmacht zunächst als Befreier
Im Tallinner Hostel wohne ich in Zimmer Nummer Kaks (Zwei). Die Winterabende mit viel Schnee sind außergewöhnlich stimmungsvoll (unten)
Deutsche Propagandazeitschriften von 1937 im Schaufenster eines Tallinner Antiquariates. Isländer Jonas führt uns durch die Altstadt und erläutert anschaulich die Geschichte Estlands (unten)
Die Versetzung des Tallinner Bronzesoldatens vom Zentrum auf einen Soldatenfriedhof an den Stadtrand löste energische Proteste der russischen Bevölkerung aus, die etwa ein Drittel aller Einwohner ausmachen und die Sowjetunion nicht als Unterdrücker, sondern als Befreier sehen
Anti-Putin-Demo vor der Tallinner Russischen Botschaft. T-Shirt-Verkauf auf einem Moskauer Flughafen (unten)