Montag, 29. Oktober 2018

Bei uns ist das so üblich

Sie sind an der Burjatischen Staatlichen Universität immatrikuliert, und jetzt beginnt Ihr neues, studentisches Leben. Täglich werden Sie viel Zeit in den Gebäuden der Universität verbringen, in den Lehrräumen und Räumen der Verwaltung. Wie in jeder Organisation haben sich auch in unserer Universität bestimmte Verhaltensnormen herausgebildet, Regeln des Umgangs miteinander, die jeder beachten sollte.

Einlasskontrolle. Um die allgemeine Ordnung aufrechtzuerhalten und Straftaten zu verhindern, gibt es an der Universität eine strenge Einlasskontrolle. Die Wache kontrolliert alle Gebäude und das Territorium der Universität. Jeder Eintretende muss sein Eintrittsdokument vorweisen – in Ihrem Falle ist das die elektronische Spezialkarte der Sparkasse.

Begrüßung. Im Unterschied zur Schule werden Sie an der Universität als erwachsene Leute wahrgenommen, welche allgemein anerkannte Umgangsregeln beherrschen. Wenn sich am Eingang oder an Fahrstühlen Schlangen bilden, müssen Studenten die Lehrkräfte und Männer die Frauen vorlassen. Gut erzogene Leute grüßen, wenn sie sich begegnen. Studenten grüßen zuerst: den Rektor, die Universitätsmitarbeiter und alle Lehrer, unabhängig davon, ob sie bei ihnen Unterricht haben.

Kleidung. An der Universität gibt es eine Reihe unbedingter Anforderungen an die Kleidung. Beim Betreten des Gebäudes müssen Männer die Kopfbedeckung abnehmen, egal ob Pelzmützen oder Baseball-Caps. Die Oberbekleidung ist an der Garderobe zu lassen. Manchmal zwingt uns die Kälte, von dieser Regel Abstand zu nehmen – auf keinen Fall jedoch dürfen Verwaltungsräume in Jacken oder Mänteln betreten werden. Den Studenten wird geraten, zum Unterricht ordentlich gekleidet und frisiert zu erscheinen, vorzugsweise in einem Business-Stil: Jackett und Hose bzw. Röcke bei Frauen. Wenn Sie nach dem Unterricht noch in die Disco oder zum Sport wollen, denken Sie lieber rechtzeitig darüber nach, wo Sie sich umkleiden.

Sprachregelungen. Sprechen Sie einen älteren oder unbekannten Menschen mit „Sie“ an.
Erlauben Sie sich keinen familiären Ton den Lehrkräften und Mitarbeitern gegenüber.
Vermeiden Sie Jargon-Ausdrücke und Füllwörter.
Verwenden Sie niemals Flüche, das ist eine Beleidigung für alle in der Umgebung und in den Wänden der Universität streng verboten.

Essen und Hygiene. Die Esseneinnahme hat an den dafür vorgesehenen Orten zu erfolgen und nicht in den Lehrräumen oder im Gehen. Müll auf den Tischen zu hinterlassen, spucken und überall den Kaugummi zurückzulassen ist unzulässig.

Gesunde Lebensweise. Das Trinken von Alkohol einschließlich Bier und der Aufenthalt in betrunkenem Zustand an der Universität ist streng verboten und hat die Exmatrikulation zur Folge. Das Rauchen in den Gebäuden und auf dem Gelände der Universität ist verboten auf Grundlage des Gesetzes vom 23.02.2013 „Über den Gesundheitsschutz der Bürger“.

Und noch zum Benehmen: Leider gibt es in den Korridoren der Universität keine Sitzmöglichkeiten, auch wenn Sie mitunter ein großes Bedürfnis zum Hinsetzen haben. Gehen Sie in diesem Falle in die Mensa, in die Bibliothek oder finden Sie einen leeren Raum, aber knien Sie sich niemals entlang der Wände oder sitzen Sie nicht auf den Treppen – das ist sehr unschön.

Sie sind alle junge, gesunde und schöne Menschen. Bald werden sich bei Ihnen die ersten romantischen Sympathien entwickeln, darunter auch ernste. Denken Sie daran, dass das demonstrative Zeigen intimer Verhältnisse in der Öffentlichkeit (Umarmen, langes Küssen usw.) von tiefer Nichtachtung nicht nur den Mitmenschen, sondern auch sich selbst gegenüber zeugt.

Aus einer Broschüre für Erstsemestler, Herbst 2018

Freitag, 19. Oktober 2018

Heiraten in Russland


Am siebzehnten Oktober haben meine Freundin Niso und ich geheiratet, genau zwei Jahre und sieben Monate, nachdem wir zusammengekommen sind. Am Abend vor der Heirat blättern wir in der  Hochglanzbroschüre zum Thema „Hochzeit“, die uns vor einem Monat ausgehändigt wurde, als wir den Termin beim Standesamt vereinbart hatten, und lesen auf der ersten Doppelseite zwei Grußworte, verfasst von Vertretern der beiden größten Religionen in Burjatien.
„Grundlage eines langen Eheglücks ist die Weisheit“, schreibt der Lama, der in leuchtend roten und orangen Kleidern von seinem Porträtfoto blickt. „Ist die Grundlage der Ehe von geistiger Natur, dann wird die Beziehung eine ewige werden, ähnlich der Lotosblume, welcher der Schmutz der materiellen Welt nichts anhaben kann.“
„Die orthodoxe Kirche schlägt das Modell einer christlichen Familie vor“, lesen wir bei dem in düsteres Schwarz gekleideten Metropoliten Saawatij. „Frauen, folgt euren Männern nach wie dem Herrn, denn der Mann ist das Haupt der Familie, wie Christus das Haupt der Kirche ist; wie die Kirche sich Christus unterordnet, so auch die Frau dem Manne in allem.“
Würden wir mit einer religiösen Institution heiraten, dann wohl lieber mit den Buddhisten, stellen Niso und ich fest und müssen lachen.
Das Standesamt Ulan-Ude befindet sich – wahrscheinlich vorläufig, während das eigentliche Gebäude renoviert wird – im Erdgeschoss eines tristen Plattenbaus. Um neun Uhr morgens sind wir zur Stelle. Nachdem festgestellt wurde, dass kein Übersetzer nötig ist, bittet uns die Standesbeamte in den repräsentativen Raum mit dem doppelköpfigen russischen Adler an der Wand, hält eine kurze Ansprache und erklärt uns zu Mann und Frau.
„Ihnen als Oberhaupt der Familie überreiche ich die Heiratsurkunde“, sagt sie und händigt mir das Dokument aus, auf der einen Seite in Russisch und auf der Rückseite auf Burjatisch abgefasst, das allerdings weder meine Frau noch ich verstehen.
„Und der Ehefrau als Hüterin der häuslichen Heimstätte gebe ich den Pass mit Stempel zurück“, bekommt Niso zu hören und nimmt ihren Inlands-Pass in Empfang, in dem sich nun auf der Seite „Familienstand“ ein Stempel über die Registrierung der Eheschließung befindet. Der nun folgende Teil einer typisch russischen Hochzeit, das Durch-die-Stadt-Ziehen mit lärmendem, trinkendem Gefolge, Fotografiertwerden vor dem Hintergrund von Opernhaus und Leninkopf und abendlichem Versacken an übervoll gedeckten Restauranttafeln, ist nichts für uns; wir heiraten ohne große Party ähnlich meinem Freund Robert, auf dem Kühlschrank in dessen Berliner WG ich eines schönen Tages die standesamtliche Urkunde erblickte. Still und unspektakulär fahren Niso und ich nach Hause und dann in die Musikschule, wo Maja einen kleinen Auftritt mit dem Kinderchor hat und die „Musikanten-Weihe“ bekommt.
Die mit einer russisch-deutschen Heirat verbundene Bürokratie ist etwa gleich aufwändig, ob man nun in Russland oder in Deutschland heiratet. Russische Standesämter verlangen ein Ehefähigkeitszeugnis des ausländischen Partners, in Deutschland müsste man eine Befreiung von der Vorlage des Ehefähigkeitszeugnisses für den russischen Partner beantragen. Deutlich einfacher soll es in Drittländern wie zum Beispiel Dänemark sein. Die Kombination „Frau aus Russland und deutscher Mann“ ist wohl wesentlich häufiger als umgekehrt. Bei youtube gibt es stundenlange Lehrvideos für die russischsprachige Damenwelt -  „Heiraten nach Europa mit Olga Schröder“ und so ähnlich – in denen erklärt wird, was zu tun ist, um das Eheglück in Westeuropa zu finden; rein statistisch kommen in Russland auf sechs Frauen nur fünf Männer.
In Russland wird der Ehering an der rechten Hand getragen. Ich finde das ungewöhnlich – die rechte ist doch die Arbeitshand, die Hand des Alltags. Wir tragen ihn an der linken.



Mittwoch, 10. Oktober 2018

Keine Lust und kein Flug


Der Montagmorgen beginnt für mich jede Woche mit Bauchschmerzen: meine erste Unterrichtsstunde habe ich in einer Gruppe von lustlosen Journalistik-Studenten. Sie sind entweder nicht anwesend, oder, wenn sie anwesend sind, dann wollen sie nichts und können nichts. Von den sechs Frauen sitzen zwei vor mir, und zwar jedes Mal zwei andere. Mit so einer Gruppe zu arbeiten ist für einen Pädagogen eine Strafe, denke ich frustriert und bin ratlos, was ich wohl neunzig Minuten lang anstellen soll. Mir etwas Interessantes auszudenken ist jedenfalls unmöglich.
„Wollen Sie nach dem Studium bei einer Zeitung arbeiten oder beim Fernsehen“, hatte ich sie einmal gefragt.
„Wir wollen überhaupt keine Journalisten werden“, hatten sie geantwortet, „der Unterricht der journalistischen Fächer hier an der Uni ist so schlecht, dass uns die Lust vergangen ist.“
Weil der Unterricht schlecht ist, sind Sie unmotiviert, und weil Sie unmotiviert sind, ist der Unterricht schlecht, hatte ich darauf gedacht, aber nicht gesagt.

Am Abend vor dem Tag der Deutschen Einheit stehe ich am Bahnsteig in Ulan-Ude, in der Hand ein Zugticket nach Irkutsk, auf dem wie auf allen russischen Zugfahrkarten neuerdings die Ortszeiten angegeben sind – was das umständliche Umrechnen von Moskauer Zeit erspart – und schaue dem Zug, in dem ich sitzen sollte, beim Abfahren zu. Die Zugbegleiter an den Türen jedes Wagens steigen nach oben und klappen die Treppchen ein; während sie noch in der Öffnung stehen und ihr kleines grünes Fähnchen heraushalten, setzt sich das stählerne Ungetüm langsam in Bewegung. Von Irkutsk wollte ich nach Novosibirsk fliegen, wo das deutsche Konsulat zu einem feierlichen Empfang eingeladen hatte. We hope you are doing great today!, hatte ich eine Email von der amerikanischen Flugbuchungs-Seite gelesen, während der Zug einfuhr. We do apologize to inform you that your flight has been canceled by the airline. Flug ohne Angabe von Gründen gestrichen! Ich mache mich enttäuscht auf den Heimweg. Die Zugfahrt nach Novosibirsk würde anderthalb Tage dauern. Bis dahin wäre der Tag der Deutschen Einheit schon wieder vorbei.

Mit Niso und Maja besteige ich einen markanten Hügel in der Steppe bei Ivolginsk, auf dem mit weißen Steinen das buddhistische Gebet Om Ma Ne Bad Me Hum geschrieben steht. Ich lege mich auf die Steine und genieße einen der letzten richtig sonnigen Tage. Maja bereitet mir ein weiches Bett aus Steppenroller-Pflanzen. Etwas weiter an einer Felswand zelebrieren zwei murmelnde und räuchernde Gestalten ein schamanistisches Ritual. An einem anderen freien Tag fahren wir die Klosterrunde: vorbei am Troizko-Selenginski-Kloster an der Selenga, in dessen Innenhof Maja den ersten dicken, pappenden Schnee zu einer großen Kugel rollt, und weiter zum Spaso-Preobrazhenski-Kloster in Posolsk, vor dessen Mauern der aufgewühlte, unruhige Baikal hohe braune Wellen schlägt. In der kleinen Kapelle, vor der eine kleine Gedenktafel für den im Jahre 1650 an dieser Stelle von Mongolen ermordeten russischen Botschafter angebracht ist, zu dessen Ehren das Kloster gegründet wurde, ist außer uns kein Mensch – ich singe Dona nobis pacem und genieße die Akustik. In einem Wäldchen mit Blick auf den See entzünden wir ein Lagerfeuer.