Montag, 20. Mai 2019

Auferstanden und verfallen. Reisebericht aus einem verwunschenen Land




Agudsera

Ich bin ein Liebhaber von Landkarten. In unserem Wohnzimmer hängen gleich vier: russische Karten vom Baikalsee, von Burjatien und von der Welt, sowie eine deutschsprachige Europakarte. In Anpassung an den hiesigen Kulturraum habe ich die Europakarte russifiziert: das ukrainische Hellgrün der Halbinsel Krim mit russischem Dunkelrot übermalt und den westlichen Zipfel Georgiens umgefärbt, so dass ein neues Land hinzugekommen ist. Ein Land, sich selbst als unabhängig betrachtet und von Russland und einer Handvoll kleinerer Länder auch als eigenständiger Staat anerkannt wird, im Verständnis der übrigen Welt allerdings zu Georgien gehört.
Dieses auf meiner Karte kleine Dreieck, nicht größer als Schleswig-Holstein, eingeklemmt zwischen Russland und dem Schwarzen Meer, bin ich nun gerade dabei zu betreten, es fehlen noch ein paar Schritte, vor mir in Sichtweite ist schon die Brücke über den Grenzfluss Psou – aber es gibt eine Verzögerung. Der russische Grenzbeamte hinter der Glasscheibe meint, zunächst müsse ich noch ein paar Fragen beantworten und verweist mich an seinen Kollegen, der mich darum bittet, ihm in ein separates Zimmer zu folgen. Was soll ich ihm sagen, warum ich hier bin? Weil ich auf den Spuren der Schwarzmeerreise meiner Großeltern von vor fast 60 Jahren wandle? Weil mich der postsowjetische Raum interessiert, wenig bereiste Regionen der ehemaligen Sowjetunion auch ohne deutsche Botschaft, zu denen das Auswärtige Amt deshalb Reisewarnungen ausspricht, weil kein „konsularischer Schutz“ gewährt werden kann und die von meinen Landsleuten üblicherweise gemieden werden? Zu kompliziert.
„Warum ausgerechnet Abchasien?“, fragt mich der russische Beamte und blättert in meinem Pass herum, skeptisch auf meine armenischen, tadschikischen und kirgisischen Stempel schielend.
„Meer und Berge, soll wunderschön sein“, sage ich.
Ein paar Minuten später bin ich auf der anderen Seite des Flusses. Dort bekomme ich ein abchasisches Visum als A6-formatiges Zettelchen, das freundlicherweise nicht in den Pass geklebt wird, wie ansonsten bei Visa üblich: sollte ich künftig noch nach Georgien reisen wollen, würde mir die Einreise verweigert werden mit der Begründung, ich sei ohne Genehmigung auf „okkupiertem Gebiet“ gewesen. Statt weiß-blau-roter Flagge nun eine grün-weiß gestreifte mit einer weißen Hand auf rotem Grund in der oberen rechten Ecke. Der russische Rubel gilt weiterhin, überall russischsprachige Aushänge und Schilder, und auch die abchasischen Wörter sind in vertrauten kyrillischen Buchstaben, allerdings mit verschiedenen Schwänzen und Häkchen. Nur in Googlemaps stehen die Ortsnamen auf Georgisch, in der Realität gibt es von dieser Sprache keine Spur. Auch dass die Uhr meines Handys automatisch auf georgische Zeit umspringt, eine Stunde nach vorn, ist falsch. In der Praxis gilt die Moskauer Zeitzone.
Nach anderthalb Stunden Busfahrt bin ich in der Hauptstadt Suchum, wo ich mich per Couchsurfing mit Walerij im Vorort Agudsera verabredet habe. Walerij ist Russe, fünfundsechzig Jahre alt und schreibt in seinem Profil, dass er sich mit Fragen der gesunden Lebensführung beschäftigt. Klingt sehr sympathisch, ein Gastgeber, der nicht raucht und nicht trinkt, bestimmt geht er auch früh ins Bett und steht früh auf, so wie ich. Unser vereinbarter Treffpunkt, das Clubhaus, erweist sich als Ruine mit vernagelten Eingängen. Auch die danebenliegenden Gebäude haben keine Türen und Fenster und stehen bestimmt schon seit einigen Jahrzehnten leer.
„Ich kann dir Übungen zeigen, damit du ohne Brille wieder scharf sehen kannst“, begrüßt mich mein Gastgeber. So ähnlich hatte ich ihn mir auch vorgestellt: hager, muskulös und kerzengerade. Zu Fuß gehen wir vorbei an dutzenden vom Walde halb überwucherten Betonruinen, davon solche gigantischen Ausmaßes, die die Bäume weit überragen, über eine unkrautbewachsene Eisenbahnstrecke und weiter entlang einzelnstehender Häuser auf sympathischen Gartengrundstücken. Zwei von dreien stehen leer, die üppige Vegetation ist dabei, sie zurückzuerobern. „Hier wohnten mal Georgier“, erklärt Walerij. „Als 1992 der Krieg ausbrach, mussten sie fliehen, sonst hätten die Abchasen sie erschlagen.“ Wir gelangen an den von Geröllkieseln bedeckten Schwarzmeerstrand und springen kurz in das kühle Salzwasser, bis wir wieder ins Gestrüpp abbiegen und an einem Grundstück ankommen, wo sich mein Gastgeber in einem bis vor kurzem noch leerstehenden Haus provisorisch eingerichtet hat.
Zum Abendessen gibt es Rote-Beete-Salat und auf meinen Wunsch hin noch warme Linsensuppe. „Erhitzte Speisen sind eigentlich schädlich für den Organismus“, sagt Walerij, stellt sich neben den Tisch, nimmt seinen Teller und isst mit einem kleinen Löffel Salat. Ob es nicht einen Stuhl gäbe?
„Es ist viel besser, im Stehen zu essen“, sagt Walerij, gibt mir aber doch einen Hocker. Ich nehme Platz und frage ihn, wie lange er schon in Abchasien lebt und was er hier macht.
„Wenn ich esse, bin ich taub und stumm“, kommt die Antwort mit einem russischen Sprichwort, „während des Essens soll man nicht reden, sondern sich auf die Nahrung konzentrieren.“
Schweigend essen wir auf. Ich spüle meinen Teller und Löffel ab. „Wenn du einen großen Löffel benutzt, verschluckst du Luft, das ist nicht gut für die Verdauung. Man soll mit einem kleinen Löffel essen“, werde ich belehrt.
Woher er das alles so genau wisse, frage ich ihn, ob er das von dem Esoteriker Nikolai Roerich habe, dessen Portrait an seiner Wand hängt?
„Ich habe die physiologischen und kosmischen Gesetze genau studiert. Du hast sie nicht studiert. Ich weiß, was gut und richtig ist. Du weißt es nicht. Meine Aufgabe ist es, die Menschen, denen ich begegne, auf ein höheres Niveau des Wissens zu heben.“
Die ganze Nacht gibt es ein nicht verstummendes Konzert aus Froschgequake und Vogelstimmen; um sechs Uhr morgens ist es schon hell bei zwanzig Grad. Zum Frühstück löffle ich die Reste der kalten Linsensuppe vom Vortag, wieder sitzend und mit großem Löffel, während mein Lehrer im Garten arbeitet. Versehentlich verschwende ich einen Gedanken an verderbliche Zivilisationsdrogen wie Tee oder Kaffee. Gemütlichkeit will sich nicht einstellen, und ich möchte das Angebot, doch noch länger zu bleiben, nicht annehmen. Ob er mir empfehlen könne, auf welcher Straße ich am besten in die Berge gelange von hier aus?
„Du hast einen Buckel, und dein Körper riecht säuerlich. Schon von sauer und basisch wirkenden Lebensmitteln gehört? Du ernährst dich falsch. Du könntest so viel von mir erfahren, was du für dein Leben brauchst. Hast du eine Garantie, nicht krank zu werden? Nein. Ich habe sie, denn ich kenne die physiologischen und kosmischen Gesetze. Du gehst den Weg des Leidens. Ich gehe den Weg des Wissens. Auf Wiedersehen!“

Amtkjal

Der Weg des Leidens, ob Walerij vielleicht Recht hat? Als nächstes führt mich der Weg des Leidens in ein kleines Bergdorf namens Amtkjal zwei Fahrtstunden durch das Kodori-Tal auf einer holprigen, schmalen Straße nach Norden. Wo ich karge, spartanisch bewachsene Felsen erwarte, erstreckt sich auf den Bergen rundum üppiger, sattgrüner Wald mit duftenden, weiß blühenden Akazien. Auf einem schmalen Pfad gelange ich durch einen verwunschenen Wald aus über und über mit trockenem Moos bedeckten, abgestorbenen Buchsbäumen zu einem Flüsschen vor einer hunderte Meter hohen Wand, von welcher der schmale Schakuranski-Wasserfall hinabrieselt. Dort, wo das Wasser unten auftrifft, hat sich ein schwarzer, baumhoher Kegel aus mineralischen Ablagerungen gebildet, auf dessen oberster Spitze die Tropfen zerstieben. Wieder ein Froschkonzert und Vogelstimmen, welch ein Kontrast zum Schweigen der sibirischen Taiga. Unweit daneben eine horizontal in den Felsen hineinführende Höhle, in der auch nach mehreren Dutzend Metern kein Ende abzusehen ist. In Abchasien gibt es die weltweit tiefsten Höhlen überhaupt, über zwei Kilometer sind Speleologen ins Innere der Erde gestiegen.
In einem der etwa zwanzig intakten Häuser von Amtkjal quartiere ich mich zur Übernachtung ein. Hausherr Arschak ist Armenier, seine Vorfahren sind 1915 aus der Türkei hierher geflohen, um dem, wie es sein Volk heute nennt, vom Osmanischen Reich organisierten Völkermord zu entkommen. Heute sind die Armenier neben den Abchasen die größte Volksgruppe im Land. Arschak macht auf mich einen gebildeten und kultivierten Eindruck, das Grundstück ist sauber und müllfrei, sogar den Rasen hat er gemäht. Laute Touristen mag er nicht, sagt Arschak, an die stillen, die er aufnimmt, verkauft er Chatschapur genannte gefüllte Fladenbrote, selbstgemachte Pfefferminzlimonade mit Kohlensäure und echten Berghonig. Mir weist er ein Zimmer im weiß getünchten Steinhaus seines – längst verstorbenen – Großvaters zu. Strom gibt es, aber die Glühbirne ist kaputt; solange es hell ist, sammle ich dutzende Wanzen von der Gardine ab in der Hoffnung auf eine ruhige, insektenfreie Nacht.
Spät senkt sich die Dunkelheit über Amtkjal. Das Grün der Berge verwandelt sich in eine schwarze Silhouette. „Früher wohnten hier über tausend Leute“, sagt Arschak, „überall an den Hängen war Licht aus den Häusern, es gab eine Schule, eine Post. Dann kam der Krieg, die Georgier schossen von der einen Seite der Schlucht, die Abchasen von der anderen, ich versteckte mich im Haus und fuhr nicht mehr in die Stadt. Inzwischen hat der Wald das Gelände zurückgeholt. Orthodoxe Mönche wohnen nebenan, und übrigens haben kürzlich zwei Deutsche ein Haus bezogen, eine Mutter mit ihrem Sohn. Soll ich dich mit ihnen bekanntmachen?“
Zwei Deutsche in den abchasischen Bergen? Ungläubig folge ich Arschak zu einem hinter einer Wegbiegung versteckten Haus. Tatsächlich! Sebastian, ein hagerer, großer Mann Ende zwanzig, mit hippigen langen Haaren, und seine Mutter Silvana haben über einen abchasischen Mittelsmann – Ausländer dürfen keine Immobilien kaufen – ein verfallenes Haus mit Grundstück erworben und möchten hier ein neues Leben beginnen. Und das ohne Russischkenntnisse, es scheint mir ein mutiger, nun, auch etwas exzentrischer Entschluss. Die Natur gibt alles her, was man braucht, Sebastian kann als Programmierer nebenbei Geld per Internet verdienen – vorher will er noch ein Mobilfunk-Relais auf einen der benachbarten Berge setzen, damit die Netzqualität ordentlich wird –, und Silvana, gelernte Psychologin, träumt von einem Kulturzentrum und möchte ihr Klavier aus Deutschland hierherholen. Sie ist Anhängerin des russischen Wunderheilers Gribovoj und wird sich mithilfe seiner Methode die ihr fehlenden Schneidezähne materialisieren lassen.
Es riecht ein wenig schimmlig in Arschaks großväterlichem Haus; die vertriebenen Wanzen gelangen über unbekannte Ritzen wieder ins Zimmer und hindern mich, über meine Hand krabbelnd, am Einschlafen. Ich lege mich in meinem dünnen Sommerschlafsack draußen auf die Terrasse, zum Glück ist es nicht kalt. Unter dem Dach rascheln nistende Schwalben oder heraufgekletterte Ratten, eine Hornisse summt mich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen holpere ich im russischen UASik-Geländewagen mit dem Hausherren nach unten in die Stadt. „Diese Straße ist das Gesicht der Regierung“, sagt Arschak wütend. „Zu Sowjetzeiten war hier glatter Asphalt. Seitdem zerfällt alles. Für die Landbevölkerung wird nichts gemacht, man hat uns auf den Dörfern vergessen.“ Während die nächtliche Kühle der Vormittagshitze weicht, schwärmt er von der alten, untergegangenen arischen Zivilisation und erläutert mir die heutige geheime Weltherrschaft der Juden. Unten angekommen, bedanke ich mich – vor allem auch für den leckeren Honig – und werde eingeladen, im Spätsommer zur Haselnussernte wiederzukommen. Wer mithilft, dürfe auch kostenlos im großväterlichen Haus wohnen. Ob mit oder ohne Wanzen, wird sich dann sicherlich zeigen.

Suchum

Auf westlichen Karten heißt die abchasische Hauptstadt Suchumi. Die Endung -i ist die georgische Aussprachevariante. Seit dem bis September 1993 währenden, ein Jahr dauernden Krieg, im Zuge dessen die Hälfte der damals eine halbe Million Einwohner das Land verlassen haben (unter anderem fast alle Georgier), wurde das öffentliche Leben gründlich ent-georgisiert. Wenn man genau hinschaut, kann man an der Ruine des einst stolzen Bahnhofs mit Sowjet-Stern auf der Turmspitze, auf dessen erster Etage inzwischen Bäume wachsen und wo jeden Tag ein Direktzug nach Moskau ankommt und abfährt, die übertünchten und kyrillisch übermalten georgischen Schriftzeichen des Stadtnamens erkennen. Im Jahre 2008, nachdem der damalige georgische Präsident Saakaschwili einen vergeblichen Versuch unternahm, das aus seiner Sicht russisch okkupierte Süd-Ossetien zu erobern, hat Russland neben Süd-Ossetien auch Abchasien als unabhängigen Staat anerkannt und unterstützt ihn seitdem maßgeblich. Trotzdem ist es ein Staat, der bis heute überwiegend aus Ruinen besteht, wohl auch deshalb, weil niemand den Wiederaufbau leisten kann: Fremde Investoren lassen die Abchasen nicht ins Land, aus Furcht, wieder zur Minderheit zu werden, wie es Anfang des 20. Jahrhunderts schon einmal geschah, als sich massenhaft Georgier ansiedelten. Die Mischung aus Zerfall und üppigster subtropischer Küstenvegetation, die sich innerhalb weniger Jahre der Ruinen bemächtigt, die bestimmt zwei Drittel aller Gebäude ausmachen, erzeugt eine merkwürdig verwunschene Atmosphäre. Als sei das beliebte sowjetische Urlaubsgebiet – Stalin hatte allein hier fünf Datschen – nach gewonnenem Krieg und Auferstehung als eigener, unabhängiger Staat in Vergessenheit geraten und warte darauf, dass es jemand wachküsst.
Für meine dritte Nacht bin ich wieder mit einem Couchsurfer verabredet. Meine Hoffnung auf jemanden, der nicht schweigend neben mir stehend Rote-Beete-Salat löffelt, sollte sich erfüllen. Artur lädt mich an der Uferpromenade zu Kaffee und Chatschapur ein und erklärt mir Vegetation und Geschichte. Dattelpalmen, Bananenstauden – deren Früchte allerdings nicht ganz reifen –, Japanische Wollmispel, Brasilianische Guave, Oleander, Lorbeer, Scharonfrucht, was es nicht alles gibt. Wir kommen am Hotel „Riza“ vorbei, von dessen Balkon Trotzki zur Fortsetzung der kommunistischen Revolution aufrief, nachdem der Tod Lenins bekannt wurde. „Meine Großeltern sind früher schon hier gewesen“, erkläre ich.
Artur schaut mich fragend an.
„Als Touristen“, sage ich.
„Ach so. Die Uferpromenade hier wurde nämlich von deutschen Kriegsgefangenen gebaut.“
Auch Artur ist Armenier, mit einer Moskauerin verheiratet; im Sommer arbeitet er als Bergführer für die in der Regel russischen Touristen. Wie die meisten Einwohner hat er zwei Pässe, einen abchasischen und einen russischen, den man leicht bekommt und der auch nötig ist, da man mit dem Pass eines nicht anerkannten Landes kaum verreisen kann. „Bis 2008 lebten wir in der ständigen Angst, dass die Georgier uns irgendwann überfallen. Das wirkt sich natürlich auf die Psyche aus, man hat gar keine Lust, sich irgendwas aufzubauen. Als der Krieg in Südossetien begann, habe ich mich freiwillig zum Panzerregiment gemeldet, um die Georgier, die sich damals noch bei uns in den Bergen eingenistet hatten, zu vertreiben. Sie sind allerdings dann freiwillig abgezogen. Damals fand ich es fast schade, dass es keine Gelegenheit gab zu schießen. Jaja, ich war eben noch jung. Inzwischen, mit zwei kleinen Kindern, denkt man natürlich anders…“ Unterwegs zeigt er mir Einschusslöcher in Wohnhäusern und Gedenktafeln „für die Helden Abchasiens“ an einer Brücke über eine Schlucht nördlich von Suchum, entlang der die Front verlief; links und rechts war alles vermint, aber die Brücke – eine fragil wirkende Betonkonstruktion – wurde nicht gesprengt, da sie beiden Seiten nützlich schien.
Die Sprache, die ich in der Öffentlichkeit am meisten vernehme, ist Russisch. Auch der Armenier Artur spricht kein Abchasisch. „Es gibt überhaupt keine vernünftigen Lehrbücher für Nicht-Muttersprachler“, sagt er, „und die Sprache ist sehr schwer, eine Anhäufung unaussprechbarer Konsonanten.“ Fremdwörter werden über das Russische ins Abchasische integriert, indem ihnen ein A vorangestellt wird; auf diese Weise entstehen abilet, amusej, ateatr und aburger.
Geschichte ist eine vielschichtige Angelegenheit. Ein bronzener Soldat an der Uferpromenade ehrt die russischen „Friedensstifter“ in den Jahren nach dem Unabhängigkeitskrieg. Ein paar hundert Meter weiter sieht man einen vom Pferd stürzenden Reiter mit Gedenktafel „an die Abchasen, die im 19. Jahrhundert das Land zwangsweise verlassen mussten“. Warum, steht aus Rücksicht auf den heutigen Verbündeten nicht geschrieben. Damals war es das russische Imperium, das im Kaukasus Krieg geführt und sich die Bergvölker unterworfen hat.
Ausreise am Grenzübergang nach Adler, noch ein paar Schritte fehlen, dann bin ich wieder in Russland – aber es gibt eine Verzögerung: die Zollbeamten finden die Flasche mit dem Berghonig aus Amtkjal in meinem Rucksack. Ich werde zu einer – von mir übersehenen – Schautafel geführt, auf der groß und deutlich die Einfuhr von Lebensmitteln und unter anderem ausdrücklich auch Honig untersagt wird. Aus Angst vor der Schweinepest, erklärt mir der russische Zöllner. Dann öffnet er die Honigflasche, riecht daran und lacht. „Da haben Sie Zuckersirup gekauft, den können Sie mitnehmen. Gute Weiterreise!“

Diesen Bericht schreibe ich auf dem Flughafen Sotschi, in einem Café der Kette Schokoladnitsa. Interessanterweise kann ich bei dem menschlichen Hintergrundrauschen der großen Flughafenhalle besser am Laptop arbeiten als wie am Vortag allein im stillen Zimmer eines der monotonen, fünfetagigen Gebäude der Hotelstadt im zu Sotschi gehörenden Ortsteil Adler, nach eigenen Angaben der weltweit größte Hotelkomplex weltweit mit 8247 Räumen: einer der gigantomanischen Anlagen, die zur Winterolympiade 2014 fertiggestellt worden waren, wenige hundert Meter von der abchasischen Grenze entfernt. Bald bin ich zuhause, und meine Frau wird genüsslich am Honig riechen und sagen, dass er sehr wohl echt ist - nachzuweisen durch einen einfachen Test in warmem Wasser, bei dem sich die goldgelbe Flüssigkeit in Wabenform strukturiert. Der Zöllner hatte entweder keine Ahnung oder Mitleid.

2018 feierten die Abchasen 25 Jahre Sieg im ein Jahr dauernden Krieg gegen Georgien. (oben) "Das Schrecklichste liegt hoffentlich hinter uns, das Schwerste noch vor uns" - Plakat mit Wladislaw Ardsinba, unter dessen Führung das Land die Unabhängigkeit erlangte (unten)
Einschusslöcher in einer Hauswand (oben). Der Bahnhof von Suchum ist heute eine Ruine. Täglich kommt und fährt ein Zug von und nach Moskau (unten)

Zwischen dem Namen der Hauptstadt in abchasischer und russischer Sprache sind die früheren übertünchten georgischen Schriftzeichen zu erkennen (oben). Eine Vitrine im Staatlichen Museum ist den Ländern gewidmet, die Abchasien als unabhängigen Staat bis heute anerkennen (unten)
Der Weg zum Schakuranskij-Wasserfall
Aus Rücksicht auf Reisende, die künftig noch nach Georgien wollen, wird das abchasische Visum nicht in den Pass geklebt


Rostow am Don


„Heute haben wir einen Panzer gezeichnet“, sagt Maja mit zärtlicher Stimme, als ich sie von der Schule abhole, „ich habe eine Fünf bekommen.“
Maja hat einen Schulweg von knapp zehn Minuten. Meistens wird sie von meiner Frau gebracht und geholt, manchmal von mir. Wenn sie dann ganz selbstverständlich nach meiner Hand greift, ohne dass ich sie ihr aufdränge, denke ich: das Mädchen ist wirklich noch ganz ein kleines Kind. Mit acht Jahren ist das auch gut so. Auf dem Spielplatz tobt sie mit Freunden, die Zeit vergessend; wenn gerade keine anderen Kinder draußen sind, bittet sie mich manchmal, mit ihr Verstecken oder Fangen zu spielen. In der Wohnung bettet sie liebevoll ihre Puppen in eine unter dem bettlakenbedeckten Wäschetrockner errichtete Höhle oder knetet stundenlang einen wassergefüllten Luftballon in den Händen.
Die Bestnote verdient natürlich elterliches Lob. „Gut gemacht“, sage ich zu ihrer Fünf. Neulich lautete die Hausaufgabe, ein Bild zum Thema „Heldentat“ zu zeichnen. Der neunte Mai steht schließlich vor der Tür. Mit Nisos Hilfe wurde ein die Grenze schützender Soldat ins Heft gemalt. Die Erziehung zu Patriotismus und Heimatliebe kann gar nicht früh genug beginnen.
Am „Tag des Sieges“ geht Niso mit Babuschka auf den Sowjetplatz, um der großen Siegesparade beizuwohnen. Ich bin ganz froh darüber, dass Maja nicht mitkommen möchte, und bleibe mit ihr zuhause. Ich weiß gar nicht, ob der Anblick von tausenden marschierenden Soldaten, schwerer Kriegstechnik und das Getöse frenetischer Marschmusik so gut für die kindliche Seele sind.
Während in Ulan-Ude die Temperatur zeitweise noch auf unter null Grad absinkt und es zwischendurch sogar schneit, fliege ich nach Rostow am Don zu einem Treffen an der Südlichen Föderalen Universität mit meinen fast dreißig Kollegen, die in anderen russischen Städten tätig sind. Nach Sibirien ein echter Klima- und Vegetationsschock: grüne Wiesen statt grauem Sand, blühende Kastanien und Robinien, auf der Uferpromenade entlang des Don Caféstände, Straßenkünstler, junge Leute auf Elektrorollern und englischsprachige Wegweiser – meine Wahlheimat Ulan-Ude kommt mir auf einmal vor wie ein unwirtlicher, provinzieller Vor- und Außenposten. Rostow am Don wurde von den Faschisten zweimal besetzt – ein paar Tage und dann noch einmal ein halbes Jahr – und ist heute eine von fünfzehn russischen Millionenstädten; neben fünfundvierzig anderen trägt sie den Ehrentitel „Stadt militärischen Ruhmes“. Der nagelneue Flughafen wurde pünktlich zur Fußball-WM 2018 fertiggestellt und trägt den Namen Platov, Kosake und einer der Helden des Vaterländischen Krieges, die gegen Napoleon kämpften. Täglich verkehren Busse nach Donezk und Lugansk, einige Studenten und Lehrkräfte kommen von dort, ansonsten ist der Konflikt in der nahen Ostukraine hier gefühlt weit weg und interessiert die Leute nicht besonders.
Trotz außenpolitischer Spannungen ist es um die Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Bildung zwischen Russland und Deutschland nicht so schlecht bestellt, erfahren wir auf unserem Treffen, und zwar solange es gelingt, bestimmt strittige Fragen auszuklammern. Bei gemeinsamen Konferenzen tut die deutsche Seite so, als wüssten alle, dass die Krim natürlich Teil der Ukraine sei, und die russische Seite tut so, als wüssten die Deutschen, dass die Krim natürlich zu Russland gehört. Wenn allerdings ein Vertreter der Universität Simferopol unter russischer Flagge zusammen mit einem deutschen Rektor auf dem Podium platziert werden soll, ist der Frieden gestört. Dann kann es auch schon einmal zum Skandal kommen, wobei dieser nicht offen ausgetragen wird, sondern die deutsche Seite nach einem Blick auf die Teilnehmerliste bereits im Vorfeld ihre Mitwirkung an der Veranstaltung absagt.