Mittwoch, 30. Dezember 2015

Prüfungszeit



Gestern habe ich ein sächsisches Räuchermännchen mit in den Kurs zu den Studenten genommen und eine Räucherkerze dazu angezündet. Während aus dem Mund der Figur wohlriechender Tannenduft strömte, besprachen wir die von mir kontrollierten Klausurarbeiten. Am Ende der Doppelstunde spielten wir DIXIT, im Deutschunterricht hervorragend als Übung zum Beschreiben einsetzbar, mit wunderschön gezeichneten, fantastisch-surreal aussehenden Karten. Dann gaben mir alle ihr A6-formatiges Studienbüchlein, und ich schrieb die Semesternote hinein: otlitschno, ausgezeichnet.
Das russische Studienhalbjahr endet nicht im Februar, sondern im Dezember, und das Ende des Monats sowie der Januar ist für die Studierenden Sessia, die Prüfungszeit. In einigen Kursen gibt es keine Prüfungen, der Dozent vergibt lediglich zatschót, das heißt so viel wie „bestanden“ und entspricht etwa einem Sitzschein an einer deutschen Uni. In anderen Kursen, wie es bei meinen Masterstudenten der Fall war, findet eine Prüfung mit einer Bewertung statt. Das russische Notensystem umfasst die Zensuren fünf bis zwei. Eine Zwei bedeutet „durchgefallen“. Die Fünf ist die beste Note und entspricht etwa einer deutschen Eins oder Zwei. Ich habe den Eindruck, dass man den ganzen Formalismus mit Prüfen, Bewerten, Durchfallenlassen, Prüfung wiederholen und so weiter hier nicht so ganz ernstnehmen kann – letztendlich kommt jeder durch, der hin und wieder einmal auftaucht, da die Gruppen sehr klein sind und die Dozenten sich selbst ihrer Arbeitsplätze berauben würden, wenn sie konsequent aussieben würden. Das System lässt es nicht zu, dass einzelne Kurse wiederholt werden, man studiert die ganzen Jahre mit den gleichen Kommilitonen in einer Gruppe zusammen. Nachdenklich stimmt mich, dass nur etwa die Hälfte aller Studis, die das Deutschstudium beginnen, es auch tatsächlich beenden. Viele verschwinden zwischendurch im akademitscheskijotpusk, also zwei Urlaubssemestern, aus denen sie nicht wieder auftauchen.
Der Ablauf einer mündlichen Prüfung unterscheidet sich sehr von dem, was ich aus meiner Studienzeit kenne. Alle Studenten sind in einem Raum und ziehen einen Zettel mit einer Prüfungsfrage. Nach 10 oder 15 Minuten Vorbereitungszeit fordert der Dozent jemanden auf, zu ihm an den Tisch vorzukommen, und es findet ein etwa ebenso langes Prüfungsgespräch statt – im gleichen Raum, während die anderen an ihren Tischen sitzenbleiben und sich gedanklich weiter mit ihren Fragen beschäftigen können. Das wäre in Deutschland undenkbar, denn es heißt doch, dass die anderen mehr Zeit zur Vorbereitung haben, wo bleibt da die Gerechtigkeit? Außerdem: warum dürfen andere Studenten die Prüfung mitanhören – was ist mit dem Datenschutz? Und wo, bitteschön, ist der Beisitzer, die neutrale dritte Person? In Russland macht man darum weniger Aufwand, es läuft alles einfacher und irgendwie „kollektivistischer“.
Die Temperatur ist in den letzten Tagen wieder auf minus fünfzehn Grad gestiegen, es ist trocken und windstill, niemand würde es als besonders kalt bezeichnen. Die Leute bereiten sich auf das Neujahresfest vor, die wichtigste Feier für Russen im Kreise von Familie und Verwandten mit Tannenbaum und Geschenken. Weihnachten wird nur von wirklich religiösen Menschen am 7. Januar gefeiert, von den deutschen Feiertagen Ende Dezember (die „katholischen Weihnachten“, wie man hier etwas vereinfachend sagt) ist nichts zu merken. Eine Kollegin schenkte mir ein Porzellan-Äffchen: der chinesische Tierkalender erfreut sich großer Verbreitung, 2015 war das Jahr des Schafes (wie auch mein Geburtsjahr), 2016 wird das Jahr des Affen sein. Die „Umstellung“ auf das neue Tier-Jahr findet erst im Februar statt, wenn die Burjaten das mongolische Neujahresfest Sagaalgan feiern, was mit dem chinesischen Frühlingsfest zusammenfällt.

Feststimmung im Stadtzentrum mit von innen farbig beleuchteten Eiskunstwerken

Samstag, 26. Dezember 2015

Minus vierunddreißig



Gestern früh verließ ich das Haus und spürte: irgendetwas ist anders als sonst. Nachdem ich einige Schritte auf die Straße hinaus gelaufen war, schaute ich unwillkürlich an mir hinunter – hatte ich vielleicht vor lauter professoraler Zerstreutheit vergessen, Hosen anzuziehen und war halb nackt aus dem Haus gegangen? Eine unerwartete Kälte fuhr mir in die Beine, zwackte im Gesicht und beim Einatmen in der Lunge. Als ich wenig später an einem Thermometer vorbeikam, bestätigte sich meine Vermutung: es hatte nachts einen heftigen Temperatursturz gegeben. Die digitale Anzeige zeigte minus vierunddreißig. In einigen Gegenden der Stadt ist es sogar noch kälter, erzählten mir die Studenten. Wenn die Temperatur auf unter minus dreißig fällt, ist für die Grundschüler schulfrei. Wenn die Kälte sich vierzig Minusgraden annähert, fällt die Schule für alle aus. Gestern war wohl in Ulan-Ude letzteres der Fall.
Am Montag hatte ich zum ersten Mal mit dem Cello das Haus verlassen. Damit es nicht auskühlt, hatte ich über die dünne Hülle zusätzlich meinen Schlafsack gestülpt. Auf der Straße trafen mich einige verwunderte Blicke – es sah wohl so aus, als ob ich eine eingewickelte Leiche transportiere. Im Foyer des philharmonischen Saales warteten 30 Drittklässler, mit denen ich zwei deutsche Weihnachtslieder sang und ihnen ein Bach-Präludium auf dem Cello vorspielte. Zuvor hatten die Schüler ein „virtuelles Konzert“ erlebt – die Aufzeichnung einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums mit dem Thomanerchor in Leipzig, groß an eine Leinwand projiziert. Diese vertrauten Klänge hier zu hören, hat mich sehr berührt, und mir ist wieder einmal bewusst geworden, welche unglaubliche Ausstrahlung in alle Welt hinein der „Klassik-Standort Deutschland“ hat. Viele Menschen hier würden davon träumen, einmal eines der Konzerte zu erleben, für die die Deutschen nur mal eben ein paar Schritte vor die Haustür machen müssen.
Von der Ernsthaftigkeit, Präzision und Perfektion, mit der in Deutschland klassische Musik gemacht wird, ist man hier weit entfernt. Konzerte bestehen oft aus einem Potpourri von kurzen Stücken, umrahmt von glitzernden, blinkenden Dekorationen, unterbrochen von Ansagen und anderem Firlefanz, zwischendurch wird plötzlich etwas aus der Konserve gespielt – als ob der Atem der Musiker nicht für ein längeres Werk reicht oder man es dem Publikum nicht zutraut.
Heute habe ich der seit 42 Jahren im Opernorchester spielenden Cellistin Tatjana Sanchojeva 32000 Rubel vorbeigebracht. Damit ist das Cello, was ich von ihr ausgeliehen habe, in mein Eigentum übergegangen. Für einen solchen Preis (Kurs 1:75) bekommt man in Deutschland kein solches Instrument. Auch wenn es völlig verschrammt und reparaturbedürftig ist und der Steg korrigiert werden muss, damit der Bogen beim Spiel auf der A-Saite nicht die Zarge berührt – ich finde den Klang abgerundet, es hört sich gut eingespielt an, irgendwie „mit Seele“. Tatjana gab mir einen Instrumenten-Pass mit Fotos und einer genauen Beschreibung dazu, damit es bei der Ausfuhr aus Russland keine Zollprobleme gibt. „Dieses Instrument fällt nicht unter das Gesetz über die Ausfuhr wertvoller kultureller Güter“, steht darauf.
Von russischen Bekannten habe ich zwei SMS auf Deutsch bekommen: „Herzlichen Glückwunsch zu Weihnachten!“ Klingt ungewöhnlich (um nicht zu sagen: ist keine zulässige Formulierung), aber warum nicht? Der 24.12. war für mich ein ausgefüllter Arbeitstag: am Morgen Unterricht, ab Mittag Lehrstuhlsitzung, abends zwei Doppelstunden schriftliche Kontrollarbeit mit den Masterstudenten. Ich wollte, dass die Studenten die Klausuren auf A4-Papier schreiben und suchte vergeblich in der Stadt nach einem Schreibwarenladen, der linierte A4-Ringblöcke verkauft. Wenn überhaupt A4, dann gibt es nur karierte – etwas so Exotisches wird selten nachgefragt, russische Unis sind eine A5-Kultur (ein größeres Format würde nicht in die schicken Handtäschchen der Studentinnen passen). - Nach dem offiziellen Teil der Lehrstuhlsitzung begann der inoffizielle Teil mit ausgiebigem Essen und Trinken, reihum standen die Kollegen auf, hielten kurze Ansprachen und es wurde auf das erfolgreich abgeschlossene Semester angestoßen.
Das für mich persönlich schönste Weihnachtsgeschenk war der gestrige Auftritt „meines“ Chores im Ballsaal der Universität im Rahmen eines Konzertabends unseres Institutes. Die Sänger – zehn Studentinnen, sieben Dozentinnen und ein Schüler - waren alle in schickes Schwarz gekleidet, die Institutsdirektorin Polina Purbujevna hatte allen einen blauen Schal als Accessoire dazu spendiert und mir farbig auf diesen abgestimmtes blaues Papier im Büro vorbeigebracht, damit ich die Noten darauf ausdrucke – der optische Eindruck muss stimmen. „Unser klassischer Chor funktioniert ohne Technik“, klärte ich das Publikum auf, „auch wenn der Strom ausfällt, kein Licht, kein Kühlschrank, kein Mikrofon – wir singen!“ Allgemeines Lachen. Unser 20minütiger Auftritt war ein schöner Erfolg: „Bruder Jakob“ in fünf Sprachen (darunter wahrscheinlich die Welt-Uraufführung auf Burjatisch, für Polina Purbujevna ein wichtiger politischer Moment), „O Tannenbaum“ auf Deutsch, Englisch und Russisch, „Hejo, spann den Wagen an“ unter anderem auf Französisch (damit sich die Französisch-Kollegen mit ihrer schönen Sprache auch wahrgenommen fühlen), den wunderschönen Taize-Kanon „Da pacem cordium“ und mehr. Ich hatte mein erstes richtiges Debüt als Dirigent – in Deutschland wohl undenkbar, Burjatien machts möglich!
Auf meiner verglasten Terrasse, wo ich Wäsche aufhänge, ist es kaum wärmer als draußen. Es fühlt sich eigenartig an, gefrorene Kleidungsstücke von der Schnur zu nehmen. Kaum zu glauben, dass wir hier am Südrand von Sibirien sind – was ist dann eigentlich in Jakutsk oder Magadan los? Viel kälter wird es auch im Januar oder Februar nicht mehr. Sogar die Eisbahnen in der Stadt haben geschlossen – weil es zu kalt ist zum Schlittschuhlaufen.

Minus vierunddreißig Grad im Zentrum der Stadt
Meine Kolleginnen (und ein Kollege) am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch
Ganz persönlicher Weihnachts-Höhepunkt für mich: Auftritt mit dem Chor

Dienstag, 22. Dezember 2015

Ust-Bargusin

An der Wand in meinem Zimmer hängen zwei Karten vom Baikal. Manchmal stehe ich davor und lasse meine Gedanken in die Dörfer an der Küste des Sees schweifen, die ich bereits besucht habe: Babuschkin im Süden mit dem alten Leuchtturm und dem Fähranleger, der Ort, an dem früher die vom anderen Ufer kommende Fähre anlegte, als es die Süd-Umrundung mit der Eisenbahn noch nicht gab. Das in einer flachen, sandigen Bucht gelegene Oimur, wo mich eine Großmutter mit ihrem Enkel zu sich nach Hause eingeladen hatte. Gremjatschinsk, der erste Ort am See entlang des nach Norden führenden Bargusin-Traktes, mit schönen, leider etwas verschmutzten Stränden und einem fantastischen Aussichtsberg. Gorjatschinsk, wo in einem Sanatorium eine heiße Quelle aus der Erde kommt und man seine Füße in den warmen Heilschlamm stecken kann. Das in eine malerische Bucht eingebetteteMaximicha mit tollem Blick auf die Berge der Halbinsel Heilige Nase. Nördlich davon: Ust-Bargusin, an der Mündung des Flusses Bargusin, der letzte Ort an der Baikal-Küste, bevor die Straße das Ufer verlässt und in den Bergen verschwindet –mein Ausflugsziel am letzten Wochenende.
Nach knapp 300 Kilometern erreicht der Minibus Ust-Bargusin, mit 8000 Einwohnern deutlich größer als die anderen Dörfer. Ich laufe durch die breiten, rechts und links von gleichförmigen, niedrigen Holzhäusern gesäumten Straßen. Unter meinen Füßen knirscht der Schnee, alles ist von einer weißen Decke überzogen. Vor 70 Jahren war hier noch gar nichts: der Ort wurde erst 1952 von einer niedriger am Fluss gelegenen Stelle aufwärts verlegt, weil man Überschwemmungen fürchtete. Garstige Hunde kläffen mich an, gelegentlich das Aufkreischen einer Motorsäge, sonst herrscht Stille. Aus den Schornsteinen der meisten Häuser steigt dünner weißer Rauch, kaum ein Mensch ist auf der Straße: es sind minus zwölf Grad und unangenehmer Wind.
Am Ufer des Bargusin angekommen, wundere ich mich über die vielen kleinen Schachteln, die auf dem zugefrorenen Fluss wie in einer Reihe stehen. Ich gehe übers Eis zu ihnen heran und stelle fest: es sind etwa mannshohe, beheizte Buden aus Holz oder Karton, oft mit Fenstern aus einer Art gekammerten Isolier-Plastik, in denen Fischer über ihren Eislöchern sitzen. Sie sind mit Kufen ausgestattet und werden per Auto auf den Fluss gezogen. Ringsum ist alles schneebedeckt, nur gelegentlich verrät eine blankgescheuerte, glänzend schwarze Stelle, dass ich mich nicht auf einer Wiese, sondern auf einem Fluss befinde. Manchmal sind Lufteinschlüsse oder Risse im Eis, die eine beruhigende Dicke von fast einem Meter erahnen lassen. Zehn Zentimeter würden für Fußgänger schon ausreichen. Der peitschende, Schneestaub vor sich herblasende Wind beißt ins Gesicht – ich verziehe mich in eine leerstehende der Fischerbuden und trinke heißen Tee aus der Thermoskanne.
Ein Phänomen am Baikal-Ufer sind die bizarren Hügel, zu denen sich das Eis auftürmt. Sokúj nennen die Einheimischen diese Formationen, die mit jedem Wellenschlag etwas höher werden und sich mit dem beginnenden Winter immer weiter entlang der sich vorschiebenden Eisgrenze auf den See hinaus verlagern. Ende Januar ist der See dann komplett zugefroren und kann mit LKWs befahren werden – für Touristen beginnt die Zeit der Eiswanderungen.
Von meiner Unterkunft aus habe ich einen fantastischen Blick auf die neue Brücke über den Bargusin-Fluss und die dahinterliegenden Berge der Heiligen Nase. In dem einfachen Gästehaus bin ich einziger Gast. Vor dem Ins-Bett-gehen höre ich irgendwo in der Wand eine Maus knuspern. Macht nichts, denke ich und schlafe erschöpft von meiner Wanderung ein. Wenig später höre ich es direkt an meinem Ohr rascheln und spüre auf meiner Hand ein Kitzeln: das Nagetier hat mir einen Besuch abgestattet. Den Rest der Nacht verbringe ich unruhig und in großer Angst vor der Maus, rücke mein Bett so, dass sie möglichst nicht heraufkommt und lasse das Licht an, weil sie sich wahrscheinlich nur im Dunkeln umherzuspazieren traut. „Und, haben Sie gut geschlafen?“, fragt mich die diensthabende Mitarbeiterin am nächsten Morgen in der Selbstversorger-Küche, als ich gerade meine Schnellkochnudeln mit heißem Wasser aufgieße. Ich erzähle ihr von der Maus. „Ja, unsere Katze ist faul geworden“, meint sie entschuldigend. „Liegt im Kamin herum, anstatt zu arbeiten!“
Beim Spaziergang durch den Ort komme ich an einem kleinen Marktstand vorbei, an dem drei ältere Damen Fisch verkaufen, tiefgefrorenen, geräucherten und gesalzenen. Ich erstehe zwei gefroreneOmul, der berühmteste Fisch des Baikalsees, den es nur hier gibt. „Und jetzt kaufen Sie bei mir aber auch was“, meint die zweite Dame. Ich tue ihr den Gefallen und nehme zwei geräucherte Omul. „Und ich?“, ruft die dritte Dame mir hinterher, als ich mich gerade entfernen will. Ich entscheide mich nach kurzem Überlegen für einen fetten Barsch von ihr. Jetzt habe ich genug Fisch bis zum Jahresende!
Um kurz nach Mittag stelle ich mich an die Fernstraße, um jemanden zu finden, der mich nach Ulan-Ude zurück mitnimmt. Alle fünf Minuten kommt ein Auto vorbei. Die Fahrer einiger voller Fahrzeuge machen eine entschuldigende Handbewegung. Andere beschreiben mit ihren Fingern einen Kreis, um mir zu zeigen, dass sie an der nächsten Biegung wieder in den Ort hineinfahren. Nach etwa einer Stunde lässt mich jemand in seinen Jeep einsteigen. Ich habe Glück: ein sympathischer Mann und interessanter Gesprächspartner, Förster von Beruf. Der größte Teil des gefällten Holzes geht nach China, erzählt er. Vorher wird es hier noch zu Brettern zersägt, da der Zoll auf unbearbeitete Baumstämme sehr hoch ist – auf diese Weise werden Arbeitsplätze in der Region gehalten. Ob mir schon aufgefallen wäre, dass die Siedlungen hier ungefähr in einem Abstand von 30 Kilometern zueinander liegen? Das ist die Entfernung, die zu Zarenzeiten die Postpferde zurücklegen konnten, ehe sie ausgetauscht werden mussten. Der Fahrer kommt aus dem Bargusin-Tal, noch ein gutes Stück weiter im Norden, in geheimnisvoller Abgeschiedenheit eingekesselt zwischen Bergen – eine spannende Gegend und mein nächstes Reiseziel, doch das – um es mit Michael Ende zu sagen – ist eine andere Geschichte und wird ein andermal erzählt werden.

Gleichförmige Holzhäuser an breiten Straßen: die Siedlung Ust-Bargusin
 
Früher waren die Zeiten besser: Ruine einer Fischfabrik
Alter Fischkutter vor dem Hintergrund der "Heiligen Nase"
Eisangeln bei Minusgraden - in diesen beheizten Buden hält man es aus
Lufteinschlüsse lassen die Dicke der Eisdecke des Flusses erahnen
Wunderschön: Eis-Auftürmungen am Baikal-Ufer
Blick nach Norden - der Bargusin-Trakt verschwindet in der Ferne in den Bergen
Im Kamin pennen, statt sich um die Maus in meinem Zimmer zu kümmern: die Katze des Gästehauses
Die Zeiten ändern sich, die Plakate nicht immer: "Ruhm den sowjetischen Frauen - den aktiven Erbauern des Kommunismus!"

Freitag, 18. Dezember 2015

Wenn der Fluss nicht vereiste, sprünge ich gern hinein



Wenn der Fluss nicht vereist gewesen würde, schwümme ich gern eine Runde darin. Wenn er nicht geeist hätte, schwämme ich! Ach was, schwömme! Werde geschwimmt habe! Der Konjunktiv im Deutschen ist eine kniffelige Sache, sehr formenreich und mit Logik schwer zu erschließen. Deshalb hat mich meine Kollegin Irina gebeten, ein Spezial-Seminar zu diesem Thema abzuhalten, für Studenten und auch für Lehrkräfte. Ich bin gespannt, wie viele Leute heute Nachmittag zu meiner eigens dem Konjunktiv gewidmeten Doppelstunde kommen.
Im Deutschen werden irreale Ereignisse in der Gegenwart anders ausgedrückt als in der Vergangenheit. Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen „wenn ich Geld hätte“ und „wenn ich Geld gehabt hätte“. Im Russischen klingt das genau gleich. Verständlich, dass die Studenten damit durcheinanderkommen. Für die Lehrkräfte ist manchmal nicht so ganz einfach zu entscheiden, welche Formen eher theoretisch existieren und welche ein typischer Deutscher tatsächlich verwendet. Niemand sagt „Wenn ich Auto führe, machte ich bestimmt ein paar Fehler im Verkehr“. Man umschreibt es mit „würde“. Selbst ich als Deutsch-Experte erlaube mir, nicht zu wissen, ob es im Konjunktiv II eigentlich „begänne“ oder „begönne“ heißt – es ist veraltet und sollte nicht unterrichtet werden.
Vor einigen Tagen war ich an der Schule Nr. 57 und besuchte dort den Deutschunterricht meiner Studentin Seseg. Die junge Dame studiert zwar selbst noch an der Uni, arbeitet aber schon gleichzeitig 20 Stunden in der Woche als Deutsch- und Englischlehrerin. Schule Nr. 57 liegt eine halbe Busstunde außerhalb des Zentrums in der Siedlung Energetik, auf einem Hügel gelegen und von Wald umgeben. Seseg ist dort aufgewachsen und auch selbst an diese Schule gegangen. Englisch ist für alle die erste Fremdsprache, als zweite kann gewählt werden zwischen Deutsch und Burjatisch. Ich wohnte – als unauffälliger Beobachter hinten sitzend – dem Unterricht in der 5. Klasse bei, den Seseg ganz ruhig und liebevoll gestaltete (wobei sie zu den Schülern „wie geht es Ihnen“ statt „euch“ sagte – die „euch“-Formen sind für Russen schwer), und gab anschließend für die versammelten 5. bis 7. Klassen eine Stunde selbst. Die Schüler waren in schicke Schuluniformen gekleidet, recht artig und ich fand, sie ließen sich als Gruppe sehr leicht führen – vielleicht ist das der asiatische Kollektivismus, eher noch als im Westen steht man einem Gesamtorganismus gegenüber und nicht in erster Linie lauter Ich-Individuen.
Wenn ich keine warmen Schuhe anzöge, frören meine Füße. Die Schuhe einiger Leute hier sehen sehr exotisch und schön aus: sie tragen Untý, eine Art Eskimostiefel aus Rentierfell.

Studentin Lena in Untý

 
Die fünfte Klasse der Schule Nr. 57 in der Deutschstunde
Meine Studentin Seseg als Deutschlehrerin