Wie überall in Russland sind die
Studenten hier während ihres ganzen Studiums in festen „Gruppen“ zusammen. Ich
unterrichte vier verschiedene solcher Gruppen, die mit fünfstelligen Zahlen
bezeichnet werden. Gruppe 02231 ist im dritten Studienjahr (nicht die Semester,
sondern die Studienjahre werden gezählt) und lernt Deutsch als erste
Fremdsprache. Von den sechs Leuten, die auf der Liste stehen, kommen meistens
drei oder vier: brave, artige, disziplinierte Mädchen, denen ich am Anfang
jedes deutsche Wort förmlich aus der Nase ziehen musste. Da ist ein
Kommunikations-Sprachkurs keine leichte Aufgabe, zumal der Kurs um 8 Uhr
morgens stattfindet. Inzwischen sind sie ein wenig aufgetaut und fragen sogar
nach der Hausaufgabe, wenn ich vergesse, ihnen eine aufzugeben.
In Gruppe 02121 herrscht mehr
Lockerheit. Die acht (tatsächlich fast immer alle anwesenden) Damen studieren
Deutsch nur als zweite Fremdsprache und sind, wie man es oft bei
Englisch-Studenten beobachten kann, etwas „cooler“ drauf als ihre
überdisziplinierten Kommilitoninnen von der deutschen Abteilung. Hier gelingt
es mir gut, Schwung in den Unterricht zu bringen: ich lasse die Studenten im
Raum herumlaufen und sich gegenseitig Fragen stellen, spiele ihnen die
hervorragend gemachten Hör-Geschichten aus dem „Schritte“-Lehrbuch vor und wir
lesen die Dialoge anschließend mit verteilten Rollen. Wenn sie auf ihrem
Smartphone herumtippen, dann benutzen sie tatsächlich meistens ihr
elektronisches Wörterbuch – was natürlich erlaubt ist.
Gruppe 18452 ist meine
Lieblingsgruppe. Die Master-Studentinnen haben mit Abstand das beste
Sprachniveau und unterrichten teilweise schon selbst Deutsch oder Englisch an
einer Schule. Wir lesen und besprechen Texte aus der „deutsch perfekt“ –
Zeitschrift, üben schnelles und kreatives Beschreiben mit dem „Tabu“-Spiel und
vergleichen deutsche und russische Sprichwörter: auf Russisch macht man aus
einer Fliege einen Elefanten (und nicht aus einer Mücke) und man kennt etwas
wie seine fünf Finger (und nicht wie seine Westentasche). Ich schlug ihnen vor,
dass wir uns mal in einem Café treffen könnten. „Gern“, meinten sie, „aber erst
nach dem Stipendium.“ Was in Deutschland das BAFöG ist, heißt in Russland
Stipendium und ist leistungsabhängig: wer nur Fünfen hat (die beste Note),
bekommt 4000 Rubel monatlich, wer nur Vieren hat, 2000 Rubel. Bei einer
einzigen Drei auf dem Zeugnis gibt es nichts. Zusätzlich gibt es noch ein
Sozialstipendium für die, deren Eltern weniger als 6000 Rubel monatlich verdienen.
Das Stipendium gibt es am 25. eines Monats – dann ist auch wieder Geld für
einen Cafébesuch da.
Meine Lehrveranstaltung in der
Gruppe 02221 ist ein Hauslektüre-Kurs und findet nur einmal in 14 Tagen statt.
Wir besprechen deutsche Literatur, die die Studenten zuhause lesen sollen. Ich
habe mich für drei Novellen von Stefan Zweig entschieden – allerdings in einer
adaptierten, vereinfachten Fassung aus der Buchreihe „easy readers“. Die „Episode
am Genfer See“ passt gut, weil Boris, ein am Genfer See gestrandeter russischer
Soldat im ersten Weltkrieg, vom Baikalsee kommt. „Die unsichtbare Sammlung“ ist
Leseaufgabe bis zum nächsten Mal in 14 Tagen – ein blinder alter Sammler zeigt
seine Besucher seine wertvollen Kunstdrucke, die seine Frau ohne sein Wissen in
der Not längst verkauft und durch wertlose Platzhalter ersetzt hat, und der
Gast spielt mit und bewundert die leeren Blätter, um den Sammler nicht zu
enttäuschen. Eine grandiose Geschichte, hoffentlich nicht zu schwer für die
Studis.
Eigentlich sollten neun Studenten in dieser Gruppe sein, tatsächlich kommen fünf. Wahrscheinlich kommen die anderen vier im Dezember mal vorbei, wohl wissend, dass ich ihnen den Kurs als "bestanden" bescheinigen muss. Der Studienplan lässt es nicht zu, dass ein Kurs wiederholt wird. Damit die Studentenzahlen auf einem Minimum gehalten werden (und somit die Arbeitsplätze für das Lehrpersonal gesichert sind), schleift man auch weniger motivierte Leute durch die Studienjahre mit - "durchgefallen" in einer Lehrveranstaltung gibt es praktisch nicht.
Am Donnerstag wurde in mein Büro
das noch fehlende Bücherregal eingebaut. Meine Sprechzeiten für die Beratung zu
den Stipendien für ein Studium in Deutschland werden noch wenig genutzt.
Vielleicht kommt der Ansturm wenige Tage vor dem Ende der Bewerbungsfristen im
November.
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