Samstag, 26. September 2015

Unterricht



Wie überall in Russland sind die Studenten hier während ihres ganzen Studiums in festen „Gruppen“ zusammen. Ich unterrichte vier verschiedene solcher Gruppen, die mit fünfstelligen Zahlen bezeichnet werden. Gruppe 02231 ist im dritten Studienjahr (nicht die Semester, sondern die Studienjahre werden gezählt) und lernt Deutsch als erste Fremdsprache. Von den sechs Leuten, die auf der Liste stehen, kommen meistens drei oder vier: brave, artige, disziplinierte Mädchen, denen ich am Anfang jedes deutsche Wort förmlich aus der Nase ziehen musste. Da ist ein Kommunikations-Sprachkurs keine leichte Aufgabe, zumal der Kurs um 8 Uhr morgens stattfindet. Inzwischen sind sie ein wenig aufgetaut und fragen sogar nach der Hausaufgabe, wenn ich vergesse, ihnen eine aufzugeben.
In Gruppe 02121 herrscht mehr Lockerheit. Die acht (tatsächlich fast immer alle anwesenden) Damen studieren Deutsch nur als zweite Fremdsprache und sind, wie man es oft bei Englisch-Studenten beobachten kann, etwas „cooler“ drauf als ihre überdisziplinierten Kommilitoninnen von der deutschen Abteilung. Hier gelingt es mir gut, Schwung in den Unterricht zu bringen: ich lasse die Studenten im Raum herumlaufen und sich gegenseitig Fragen stellen, spiele ihnen die hervorragend gemachten Hör-Geschichten aus dem „Schritte“-Lehrbuch vor und wir lesen die Dialoge anschließend mit verteilten Rollen. Wenn sie auf ihrem Smartphone herumtippen, dann benutzen sie tatsächlich meistens ihr elektronisches Wörterbuch – was natürlich erlaubt ist.
Gruppe 18452 ist meine Lieblingsgruppe. Die Master-Studentinnen haben mit Abstand das beste Sprachniveau und unterrichten teilweise schon selbst Deutsch oder Englisch an einer Schule. Wir lesen und besprechen Texte aus der „deutsch perfekt“ – Zeitschrift, üben schnelles und kreatives Beschreiben mit dem „Tabu“-Spiel und vergleichen deutsche und russische Sprichwörter: auf Russisch macht man aus einer Fliege einen Elefanten (und nicht aus einer Mücke) und man kennt etwas wie seine fünf Finger (und nicht wie seine Westentasche). Ich schlug ihnen vor, dass wir uns mal in einem Café treffen könnten. „Gern“, meinten sie, „aber erst nach dem Stipendium.“ Was in Deutschland das BAFöG ist, heißt in Russland Stipendium und ist leistungsabhängig: wer nur Fünfen hat (die beste Note), bekommt 4000 Rubel monatlich, wer nur Vieren hat, 2000 Rubel. Bei einer einzigen Drei auf dem Zeugnis gibt es nichts. Zusätzlich gibt es noch ein Sozialstipendium für die, deren Eltern weniger als 6000 Rubel monatlich verdienen. Das Stipendium gibt es am 25. eines Monats – dann ist auch wieder Geld für einen Cafébesuch da.
Meine Lehrveranstaltung in der Gruppe 02221 ist ein Hauslektüre-Kurs und findet nur einmal in 14 Tagen statt. Wir besprechen deutsche Literatur, die die Studenten zuhause lesen sollen. Ich habe mich für drei Novellen von Stefan Zweig entschieden – allerdings in einer adaptierten, vereinfachten Fassung aus der Buchreihe „easy readers“. Die „Episode am Genfer See“ passt gut, weil Boris, ein am Genfer See gestrandeter russischer Soldat im ersten Weltkrieg, vom Baikalsee kommt. „Die unsichtbare Sammlung“ ist Leseaufgabe bis zum nächsten Mal in 14 Tagen – ein blinder alter Sammler zeigt seine Besucher seine wertvollen Kunstdrucke, die seine Frau ohne sein Wissen in der Not längst verkauft und durch wertlose Platzhalter ersetzt hat, und der Gast spielt mit und bewundert die leeren Blätter, um den Sammler nicht zu enttäuschen. Eine grandiose Geschichte, hoffentlich nicht zu schwer für die Studis.
Eigentlich sollten neun Studenten in dieser Gruppe sein, tatsächlich kommen fünf. Wahrscheinlich kommen die anderen vier im Dezember mal vorbei, wohl wissend, dass ich ihnen den Kurs als "bestanden" bescheinigen muss. Der Studienplan lässt es nicht zu, dass ein Kurs wiederholt wird. Damit die Studentenzahlen auf einem Minimum gehalten werden (und somit die Arbeitsplätze für das Lehrpersonal gesichert sind), schleift man auch weniger motivierte Leute durch die Studienjahre mit - "durchgefallen" in einer Lehrveranstaltung gibt es praktisch nicht.
Am Donnerstag wurde in mein Büro das noch fehlende Bücherregal eingebaut. Meine Sprechzeiten für die Beratung zu den Stipendien für ein Studium in Deutschland werden noch wenig genutzt.  Vielleicht kommt der Ansturm wenige Tage vor dem Ende der Bewerbungsfristen im November.
Arbeitsplatz Unterrichtsraum
Arbeitsplatz Büro