Heute Vormittag standen plötzlich
zwei junge Damen mit einer leckeren, fast nur aus Zucker, Sahne und Schokolade
bestehenden Torte in der Hand in meinem Büro. Die eine davon kam mir irgendwie
bekannt vor. Ich überlegte kurz, und dann fiel es mir ein: es war die
Zugbegleiterin Tujana aus dem Nachbarwaggon meiner Reise von Moskau nach Ulan-Ude.
Ich hatte bei ihr Pantoffeln gekauft und ihr erzählt, wo ich arbeiten werde,
und sie meinte damals: dann komme ich Dich mal besuchen.
Wir unterhielten uns eine Weile
und überlegten dann, uns nochmal am Nachmittag in der Stadt zu treffen. Wie
wäre es um 16 Uhr am Theater, schlug ich vor. Ja, wahrscheinlich 16 Uhr, meinte
Tujana. Lass uns in ein paar Stunden telefonieren, dann schauen wir.
Sich verabreden in Russland - das findet entweder nicht statt und ist ersetzt durch erfrischendes Spontan-Erscheinen, oder es
funktioniert anders als in Deutschland. Man einigt sich nicht einfach auf eine
Zeit und einen Ort und geht dann dorthin. Stunde und Treffpunkt sind zunächst
eher als Idee im Raum schwebend, verdichten sich immer mehr in einer Reihe von kurzen
Telefonaten, je näher der anvisierte Moment rückt, und erst kurz vorher legt
man sich genau fest.
Zum Beispiel so:
(Montag:)
- Lass uns mal wieder treffen!
Jetzt in der Woche habe ich keine Zeit, wie wäre es am Wochenende? Vielleicht
am Samstag?
- Ja, gute Idee! Wir telefonieren
dann nochmal!
- Super! Dann bis bald!
(Freitag:)
- Wie geht’s dir? Sehen wir uns
morgen?
- Ja klar! Vielleicht so am
Nachmittag?
- Ja, Nachmittag klingt gut. Dann
ruf ich morgen nochmal an! Bei Dir an der Haltestelle, und dann gehen wir
irgendwo was trinken?
- Schön! Wahrscheinlich dann bis
morgen! Genau, an meiner Haltestelle! Wir telefonieren!
(Samstag 11 Uhr)
- Hallo! Sehen wir uns heute? Also,
14 Uhr würde mir passen!
- Ja, ich hätte eigentlich jetzt
gleich Zeit. Wahrscheinlich so in einer halben Stunde, dann gehen wir vorher
noch was essen?
- Gut, bis gleich! Wir
telefonieren nochmal!
(Samstag 11:30 Uhr)
- Ich stehe jetzt an der
Haltestelle, und du?
- Ich bin noch am anderen Ende
der Stadt im Marktzentrum, kannst Du nicht hierher kommen? Lass Dir Zeit, ich
brauche noch zwei Stunden zum Einkaufen!
- Gut, wohin genau im
Marktzentrum soll ich kommen?
- Wahrscheinlich am Haupteingang!
Komm erstmal her, dann telefonieren wir nochmal!
(usw.)
Ich lief mit den beiden Damen
durch die Stadt und ließ mir etwas zu ihrer Arbeit als Zugbegleiter erzählen.
Tujana ist Studentin am Ökonomischen Institut, geht aber nicht zu den
Lehrveranstaltungen, sondern arbeitet bei der Russischen Eisenbahn: 4 Tage
Hinfahrt nach Moskau, 8 Stunden Standzeit, 4 Tage Rückfahrt nach Ulan-Ude, 10
Tage Pause. Im Plazkartnyj-Wagen, der günstigsten Wagenklasse, arbeitet sie am
liebsten, da sind die Passagiere nicht so nörgelig. Zwei Zugbegleiter sind
immer zusammen in einem Wagen und wechseln sich in 12-Stunden-Schichten ab.
Der berühmte russische
Schriftsteller Anton Tschechov war einmal auf der Durchreise in Ulan-Ude und hat ein paar nette
Worte über die Stadt geschrieben. In der Fußgängerzone wurde ihm ein Denkmal
gesetzt, neben dem ich mich von Tujana fotografieren ließ, bevor wir uns
verabschiedeten. Dann ging ich nachhause, um ihre Torte zu essen. Morgen fährt sie nach Moskau, und ich – mit einem anderen Zug –
auf eine kleine Dienstreise nach Novosibirsk: abends einsteigen, morgens
aufwachen, Tee trinken, lesen, über die Landschaft und das Leben sinnieren,
noch einmal schlafen, aufwachen, Tee trinken, und hopps – schon am Ziel.