Montag, 28. September 2015

Verabredungen auf russische Art

Heute Vormittag standen plötzlich zwei junge Damen mit einer leckeren, fast nur aus Zucker, Sahne und Schokolade bestehenden Torte in der Hand in meinem Büro. Die eine davon kam mir irgendwie bekannt vor. Ich überlegte kurz, und dann fiel es mir ein: es war die Zugbegleiterin Tujana aus dem Nachbarwaggon meiner Reise von Moskau nach Ulan-Ude. Ich hatte bei ihr Pantoffeln gekauft und ihr erzählt, wo ich arbeiten werde, und sie meinte damals: dann komme ich Dich mal besuchen.
Wir unterhielten uns eine Weile und überlegten dann, uns nochmal am Nachmittag in der Stadt zu treffen. Wie wäre es um 16 Uhr am Theater, schlug ich vor. Ja, wahrscheinlich 16 Uhr, meinte Tujana. Lass uns in ein paar Stunden telefonieren, dann schauen wir.
Sich verabreden in Russland - das findet entweder nicht statt und ist ersetzt durch erfrischendes Spontan-Erscheinen, oder es funktioniert anders als in Deutschland. Man einigt sich nicht einfach auf eine Zeit und einen Ort und geht dann dorthin. Stunde und Treffpunkt sind zunächst eher als Idee im Raum schwebend, verdichten sich immer mehr in einer Reihe von kurzen Telefonaten, je näher der anvisierte Moment rückt, und erst kurz vorher legt man sich genau fest.
Zum Beispiel so:

(Montag:)
- Lass uns mal wieder treffen! Jetzt in der Woche habe ich keine Zeit, wie wäre es am Wochenende? Vielleicht am Samstag?
- Ja, gute Idee! Wir telefonieren dann nochmal!
- Super! Dann bis bald!

(Freitag:)
- Wie geht’s dir? Sehen wir uns morgen?
- Ja klar! Vielleicht so am Nachmittag?
- Ja, Nachmittag klingt gut. Dann ruf ich morgen nochmal an! Bei Dir an der Haltestelle, und dann gehen wir irgendwo was trinken?
- Schön! Wahrscheinlich dann bis morgen! Genau, an meiner Haltestelle! Wir telefonieren!

(Samstag 11 Uhr)
- Hallo! Sehen wir uns heute? Also, 14 Uhr würde mir passen!
- Ja, ich hätte eigentlich jetzt gleich Zeit. Wahrscheinlich so in einer halben Stunde, dann gehen wir vorher noch was essen?
- Gut, bis gleich! Wir telefonieren nochmal!

(Samstag 11:30 Uhr)
- Ich stehe jetzt an der Haltestelle, und du?
- Ich bin noch am anderen Ende der Stadt im Marktzentrum, kannst Du nicht hierher kommen? Lass Dir Zeit, ich brauche noch zwei Stunden zum Einkaufen!
- Gut, wohin genau im Marktzentrum soll ich kommen?
- Wahrscheinlich am Haupteingang! Komm erstmal her, dann telefonieren wir nochmal!
(usw.)

Ich lief mit den beiden Damen durch die Stadt und ließ mir etwas zu ihrer Arbeit als Zugbegleiter erzählen. Tujana ist Studentin am Ökonomischen Institut, geht aber nicht zu den Lehrveranstaltungen, sondern arbeitet bei der Russischen Eisenbahn: 4 Tage Hinfahrt nach Moskau, 8 Stunden Standzeit, 4 Tage Rückfahrt nach Ulan-Ude, 10 Tage Pause. Im Plazkartnyj-Wagen, der günstigsten Wagenklasse, arbeitet sie am liebsten, da sind die Passagiere nicht so nörgelig. Zwei Zugbegleiter sind immer zusammen in einem Wagen und wechseln sich in 12-Stunden-Schichten ab.
Der berühmte russische Schriftsteller Anton Tschechov war einmal auf der Durchreise in Ulan-Ude und hat ein paar nette Worte über die Stadt geschrieben. In der Fußgängerzone wurde ihm ein Denkmal gesetzt, neben dem ich mich von Tujana fotografieren ließ, bevor wir uns verabschiedeten. Dann ging ich nachhause, um ihre Torte zu essen. Morgen fährt sie nach Moskau, und ich – mit einem anderen Zug – auf eine kleine Dienstreise nach Novosibirsk: abends einsteigen, morgens aufwachen, Tee trinken, lesen, über die Landschaft und das Leben sinnieren, noch einmal schlafen, aufwachen, Tee trinken, und hopps – schon am Ziel.


Samstag, 26. September 2015

Kultur

Ich möchte nun die Geschichte erzählen, wie ich zu einem Cello gekommen bin. Es bedarf noch einer Reparatur, aber das Wichtigste ist geschafft: ich habe ein Cello, ein echtes, ganzes, wahrscheinlich richtig spielbares Instrument.
In Ulan-Ude gibt es neben dem Opernhaus das Gebäude der Burjatischen Staatlichen Philharmonie. Hier spielt kein eigenes Orchester, und auch das Opernorchester scheint nicht konzertant aufzutreten, sondern etwa einmal in der Woche kommt ein Ensemble oder Solokünstler vorbei und gibt ein Gastspiel. Dort suchte ich die in der Verwaltung arbeitende Maria Ivanovna auf, von der ich über eine Bekannte erfahren hatte, sie habe ein Cello und würde dieses auch verleihen. Als ich nachmittags ihr Büro in der eher ausgestorben wirkenden Philharmonie betrat, war sie mit zwei Kolleginnen gerade beim Essen. Bei uns ist immer Mittag, scherzte sie und zeigte mir das Instrument. Leider erwies es sich als Modell halber Größe, ein Schülerinstrument, und noch dazu in einem ziemlich schrottigen Zustand: der Stachel fehlte, und als ich es stimmen wollte, gab es einen Knall und es riss der Saitenhalter. Macht nichts, meinte Maria Ivanovna, ist eben ein altes Cello, dann lassen Sie es halt hier. Ich verabschiedete mich so nett wie möglich.
Sibirien ist nicht die erste Adresse für europäische klassische Hochkultur. Musikschulen haben wenn überhaupt nur kleine Schülergrößen von Celli, und eine Musikhochschule gibt es in Ulan-Ude nicht. In Gesprächen mit Kollegen an der Uni hatte ich immer einmal eingestreut, dass ich übrigens ein Cello suche, wohl wissend, dass der informelle Weg – jemand kennt jemanden, der jemanden kennt – am meisten Erfolg verspricht. Meine Freude war groß, als ich einen Anruf von der Frau des berühmten Dirigenten und Cellisten Michael Baldaev bekam. Baldaev hatte hier in Ulan-Ude jahrelang das Opernorchester geleitet und war seinerzeit mit dem weltbekannten Cellisten Rostropovich befreundet. Die Frau erzählte mir, ihr Mann hätte da ein sehr gutes Cello, auf dem er früher gespielt habe – jetzt ist er über 80 und macht keine Musik mehr. Ein wirklich sehr gutes Instrument. Ob ich hier für längere Zeit bin und auch tatsächlich Musiker sei? Ja, sagte ich mit dem Brustton der Überzeugung, für hiesige Maßstäbe schon, fügte ich gedanklich hinzu. Ja, also, ein historisches italienisches Modell und so weiter. Nur, es befinde sich gerade in Moskau. Bald würde es hergebracht nach Ulan-Ude. Wann genau? Ja, das könne man so nicht sagen. Bald. Ja, dann könnten Sie sich ja bei mir melden, wenn es da ist, sagte ich freundlich und dachte dabei enttäuscht: wahrscheinlich dann in ein paar Jahren. Erledigt.
Heute bekam ich einen Anruf von Maria Michailovna, der Tochter ebenjenes Baldaev. Ich würde doch ein Cello suchen? Sie habe eines, ich solle vorbeikommen. Jetzt.
Es stellte sich heraus, dass Maria Michailovna mit Musik eigentlich nichts zu tun und nur für mich ein weiteres Instrument ihres Vaters aus einem Keller geholt hat. Das Cello erwies sich als durchaus spielbar, es gibt immerhin Feinstimmer, einige Ecken sind abgeschlagen, der Stachel ist nicht höhenverstellbar und dem Bogen fehlen eine Menge Haare, aber egal. Im Korpus klapperte ein Holzstäbchen herum, dass ich durch ein f-Loch herausschüttelte: die sogenannte Stimme, die zwischen Decke und Korpus steht und ohne die das Instrument keinen richtigen Klang hat. Das trübte meine Freude ein wenig, aber in der Hoffnung, einen Geigenbauer zu finden, der mir das Stimmholz fachgemäß einstellt, nahm ich das Cello leihweise mit. Mein Angebot: tausend Rubel im Monat, Vorauszahlung für drei Monate. Maria Michailovna war einverstanden. In Deutschland hätte man jetzt wahrscheinlich einen Leihvertrag und eine Instrumentenversicherung abgeschlossen, eine Schadenskartierung bestehender Schrammen vorgenommen, Mindest- und Höchstleihdauer vereinbart und mir eine gute Hülle dazu mitgegeben. Aber wir sind nicht in Deutschland: die Sicherheit für Maria Michailovna ist mein guter Ruf, sie weiß, wo ich arbeite und kennt die Kollegen an meinem Lehrstuhl. Eingepackt wurde das Instrument in ein dünnes Stoffhüllchen, Stoßabfederung gleich null.
Nun steht es hinter mir, das Cello! Solange ich nicht spielen kann, tröste ich mich damit, anderen zuzuhören. Bereits zweimal habe ich dem Opernteater einen Besuch abgestattet: Pucchinis „Toska“ (eine spannende, dramatische Oper, in deren Verlauf alle Hauptfiguren umkommen) und Verdis „La traviata“. Bass-Sänger Maxim, mein Bekannter, versorgte mich mit Freikarten.
Natürlich hat das Opernorchester kein Gewandhausniveau, aber das stört mich nicht, ich konnte die Musik trotzdem genießen. Mich irritiert eher, dass die Leute hier der Kultur weniger Ernst und Disziplin entgegenbringen. Fünf Minuten nach Beginn des ersten Aktes ebben die Gespräche im Saal langsam ab, und auch im weiteren Verlauf unterhalten sich ältere Damen seelenruhig und lautstark über die Himbeerpreise auf dem Markt oder holen klingelnde Handys aus den Taschen – nicht etwa, um sie auszumachen, sondern – um den Anruf entgegenzunehmen! Nun ja, vor 200 Jahren hat man in Deutschland im Konzert wohl auch nicht so verbiestert geschwiegen wie heute, es ist alles eine Frage der Gewöhnung.

Stimmungsvoll: Operntheater und Springbrunnen am späten Abend
Hoffnungsvoll: ich mit einem - noch reparaturbedürftigen - Cello

Bürokratie

Mein derzeitiges russisches Visum gilt bis Anfang November und ist ein Einmalvisum. Sollte ich also vor lauter Begeisterung über die tolle Steppenlandschaft versehentlich die Grenze zur Mongolei überqueren, die nur ein paar hundert Kilometer weiter südlich liegt, gibt es keine Chance, nach Russland zurückzukehren. Demnächst wird das Visum um ein Jahr verlängert und in ein Mehrfachvisum umgewandelt – dann steht natürlich ein Besuch von Ulan-Bataar auf dem Programm, und Anfang Januar auch Heimaturlaub in Deutschland.
Um einen Arbeitsvertrag mit der Uni zu bekommen, musste ich mir eine russische Rentenversicherungsnummer und eine Steuernummer besorgen. Die Rentenversicherung und der Föderale Steuerdienst bemühen sich um ein modernes, westliches Auftreten: die Kunden ziehen eine Wartemarke und werden aufgerufen, an der Wand gibt es einen großen Aushang, der die Leitlinien „Transparenz, Effektivität, Serviceorientierung“ erläutert. Um die Steuernummer beantragen zu können, wurde ich ins Nachbargebäude geschickt, um dort in einem Übersetzungsbüro eine beglaubigte Übersetzung meines Passes anfertigen zu lassen. Das Büro hieß „Nippon“, während ich wartete, bis die junge Dame meinen Pass übersetzt hatte, studierte ich die große Karte von China an der Wand. Offensichtlich hat man eher mit ostasiatischen Dokumenten zu tun, die Mitarbeiterin fragte mich, was denn „Landeshauptstadt“ und „Oberbürgermeister“ bedeutet und wollte auch wissen, was „blaugrau“ heißt. Manchmal schmunzeln die Leute hier über die Angabe der Augenfarbe -in russischen Pässen gibt es diesen Punkt nicht.
Für die Verlängerung von Visa und die Registrierung von Ausländern ist die Migrationsbehörde zuständig. Ich habe mit dieser direkt nichts zu tun, das macht die Internationale Abteilung der Uni für mich. Bei meinem letzten Besuch dort plauderte die nette Kollegin dort ein wenig mit mir, telefonierte dann in meiner Gegenwart gemütlich mit einer Freundin und teilte dieser mit, dass sie am nächsten Tag übrigens beabsichtige zu kündigen, für 7000 Rubel monatlich habe sie keine Lust mehr, hierherzukommen und an einer Sprachschule ja noch einen anderen Job. Bei offiziellen Stellen erlebe ich oft zwei Extreme: entweder eine gelassene, nette, ins Private hineingehende Gesprächigkeit oder eher unfreundliche, abweisende Schroffheit. Nicht üblich ist die sachliche, geradlinige westeuropäische Höflichkeit und auch das damit verbundene Arbeitstempo. Die Menschen haben viel weniger eine offizielle, vom Privaten getrennte Seite ihrer Persönlichkeit entwickelt. Auskünfte werden mitunter erstaunlich minimalistisch erteilt. Ist Galina Sergeevna da? Nein. Dass sie aber schon in 5 Minuten wiederkommt, erfahre ich nur, wenn ich explizit die Frage stelle, wann Galina Sergeevna wiederkommt.
Am Montag, dem 21. September wurde ich in meiner Wohnung Zeuge eines großen Momentes. Ich saß gerade beim Nachmittagstee, als es in den Rohren an der Wand auf einmal zu knistern und zu rauschen begann. Wenig später begann ein rhythmisches Pochen in den Heizkörpern, die sich mit heißem Wasser füllten: die beiden Wärmekraftwerke (auf Russisch „TEZ“ – Teploelektrozentral) in Ulan-Ude hatten die Heizsaison 2015/16 eröffnet! Meine Heizkörper sind ziemlich modern und sogar einzeln abstellbar. Bei älteren Modellen ist dies oft nicht möglich, man reguliert die Temperatur in den dauerbeheizten Räumen durch das Öffnen der Fenster.
"Ohne Papier bist du ein Kacke-Häufchen" (russisches Sprichwort): Visum, Migrationskarte, Registrierung, Rentenversicherungsausweis


Unterricht



Wie überall in Russland sind die Studenten hier während ihres ganzen Studiums in festen „Gruppen“ zusammen. Ich unterrichte vier verschiedene solcher Gruppen, die mit fünfstelligen Zahlen bezeichnet werden. Gruppe 02231 ist im dritten Studienjahr (nicht die Semester, sondern die Studienjahre werden gezählt) und lernt Deutsch als erste Fremdsprache. Von den sechs Leuten, die auf der Liste stehen, kommen meistens drei oder vier: brave, artige, disziplinierte Mädchen, denen ich am Anfang jedes deutsche Wort förmlich aus der Nase ziehen musste. Da ist ein Kommunikations-Sprachkurs keine leichte Aufgabe, zumal der Kurs um 8 Uhr morgens stattfindet. Inzwischen sind sie ein wenig aufgetaut und fragen sogar nach der Hausaufgabe, wenn ich vergesse, ihnen eine aufzugeben.
In Gruppe 02121 herrscht mehr Lockerheit. Die acht (tatsächlich fast immer alle anwesenden) Damen studieren Deutsch nur als zweite Fremdsprache und sind, wie man es oft bei Englisch-Studenten beobachten kann, etwas „cooler“ drauf als ihre überdisziplinierten Kommilitoninnen von der deutschen Abteilung. Hier gelingt es mir gut, Schwung in den Unterricht zu bringen: ich lasse die Studenten im Raum herumlaufen und sich gegenseitig Fragen stellen, spiele ihnen die hervorragend gemachten Hör-Geschichten aus dem „Schritte“-Lehrbuch vor und wir lesen die Dialoge anschließend mit verteilten Rollen. Wenn sie auf ihrem Smartphone herumtippen, dann benutzen sie tatsächlich meistens ihr elektronisches Wörterbuch – was natürlich erlaubt ist.
Gruppe 18452 ist meine Lieblingsgruppe. Die Master-Studentinnen haben mit Abstand das beste Sprachniveau und unterrichten teilweise schon selbst Deutsch oder Englisch an einer Schule. Wir lesen und besprechen Texte aus der „deutsch perfekt“ – Zeitschrift, üben schnelles und kreatives Beschreiben mit dem „Tabu“-Spiel und vergleichen deutsche und russische Sprichwörter: auf Russisch macht man aus einer Fliege einen Elefanten (und nicht aus einer Mücke) und man kennt etwas wie seine fünf Finger (und nicht wie seine Westentasche). Ich schlug ihnen vor, dass wir uns mal in einem Café treffen könnten. „Gern“, meinten sie, „aber erst nach dem Stipendium.“ Was in Deutschland das BAFöG ist, heißt in Russland Stipendium und ist leistungsabhängig: wer nur Fünfen hat (die beste Note), bekommt 4000 Rubel monatlich, wer nur Vieren hat, 2000 Rubel. Bei einer einzigen Drei auf dem Zeugnis gibt es nichts. Zusätzlich gibt es noch ein Sozialstipendium für die, deren Eltern weniger als 6000 Rubel monatlich verdienen. Das Stipendium gibt es am 25. eines Monats – dann ist auch wieder Geld für einen Cafébesuch da.
Meine Lehrveranstaltung in der Gruppe 02221 ist ein Hauslektüre-Kurs und findet nur einmal in 14 Tagen statt. Wir besprechen deutsche Literatur, die die Studenten zuhause lesen sollen. Ich habe mich für drei Novellen von Stefan Zweig entschieden – allerdings in einer adaptierten, vereinfachten Fassung aus der Buchreihe „easy readers“. Die „Episode am Genfer See“ passt gut, weil Boris, ein am Genfer See gestrandeter russischer Soldat im ersten Weltkrieg, vom Baikalsee kommt. „Die unsichtbare Sammlung“ ist Leseaufgabe bis zum nächsten Mal in 14 Tagen – ein blinder alter Sammler zeigt seine Besucher seine wertvollen Kunstdrucke, die seine Frau ohne sein Wissen in der Not längst verkauft und durch wertlose Platzhalter ersetzt hat, und der Gast spielt mit und bewundert die leeren Blätter, um den Sammler nicht zu enttäuschen. Eine grandiose Geschichte, hoffentlich nicht zu schwer für die Studis.
Eigentlich sollten neun Studenten in dieser Gruppe sein, tatsächlich kommen fünf. Wahrscheinlich kommen die anderen vier im Dezember mal vorbei, wohl wissend, dass ich ihnen den Kurs als "bestanden" bescheinigen muss. Der Studienplan lässt es nicht zu, dass ein Kurs wiederholt wird. Damit die Studentenzahlen auf einem Minimum gehalten werden (und somit die Arbeitsplätze für das Lehrpersonal gesichert sind), schleift man auch weniger motivierte Leute durch die Studienjahre mit - "durchgefallen" in einer Lehrveranstaltung gibt es praktisch nicht.
Am Donnerstag wurde in mein Büro das noch fehlende Bücherregal eingebaut. Meine Sprechzeiten für die Beratung zu den Stipendien für ein Studium in Deutschland werden noch wenig genutzt.  Vielleicht kommt der Ansturm wenige Tage vor dem Ende der Bewerbungsfristen im November.
Arbeitsplatz Unterrichtsraum
Arbeitsplatz Büro

Sonntag, 20. September 2015

Gremjatschinsk


Vor der Abfahrt des Kleinbusses zu meinem Reiseziel an diesem Wochenende stöberte ich in der großen Buchhandlung in der Nähe des Busbahnhofes. Ein Tisch mit dem Aufsteller „Verbotene Bücher“ erregte meine Aufmerksamkeit. „Diese Bücher sind in der Ukraine verboten“, stand dort, und versammelt waren Titel wie „Projekt Neu-Russland“, „Ukraine – Revolution und Chaos“ und „Ende des Projekts Ukraine“. Es wäre interessant zu wissen, ob es in ukrainischen Buchläden ähnliche Auslagen mit in Russland verbotenen Büchern gibt.
Mein dritter und landschaftlich schönster Ausflug ans Ufer des Baikals führte mich nach Gremjatschinsk. Das Ufer an dem kleinen Dorf 140 Kilometer nördlich von Ulan-Ude ist flach und sandig, umrahmt von waldbewachsenen Bergen. Malerische Kiefern stehen nicht weit vom Wasser, und der Blick über den See hinweg fällt auf die Steilküste von Olchon, der berühmtesten und größten Insel des Baikals Die Luft war sauber und das Wasser herrlich klar, von den diesjährigen Waldbränden zeugten nur viele kleine verkohlte Holzstückchen, die die Wellen ans Ufer geworfen haben.
Ich kam erst am späten Nachmittag an und übernachtete in einem einfachen, leeren Hotel (die Touristensaison ist schon vorbei). Das spartanische Zimmer kostete 500 Rubel, der asiatisch aussehende Inhaber sprach Russisch mit einem ganz merkwürdigen Akzent. Wahrscheinlich einer der Burjaten, die so weltfremd aufgewachsen sind, dass sie noch nicht einmal die Landessprache richtig beherrschen und über die ich gehört hatte, dass es sie vereinzelt noch geben soll. Es war kühl und die Hoteldecke ziemlich dünn, zum Glück hatte ich meinen kuscheligen Daunenschlafsack dabei.
Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass der Burjate in Wirklichkeit ein Kambodschaner war, der seit 30 Jahren in Russland lebt und hier studiert hat. Sicher lerne ich bald noch, die asiatischen Kulturen etwas besser auseinanderzuhalten.
Für die Rückfahrt stellte ich mich an die Straße und hielt den Daumen heraus. Nach einer kleinen Weile stoppte ein schicker, glänzender Jeep. Am Steuer saß ein dicker Mann mit feistem Gesicht. „Fahren Sie nach Ulan-Ude?“ – „Ja, aber ich bin betrunken. Macht das was?“ – Ich schaute etwas hilflos seine Beifahrerin an. „Macht er Spaß?“, wollte ich wissen, aber sie schaute nur ausdruckslos vor sich hin. „Na, wenn Sie betrunken sind, dann lieber nicht…“ meinte ich unsicher, woraufhin der Mann grinste und Gas gab.
Mit dem nächsten Fahrer hatte ich Glück. Wir fuhren an grünen Kiefernwäldern und gelb-orange glänzenden Laubwäldern vorbei und ich wurde auf schwarze und braune Stellen hingewiesen, an denen der Wald gebrannt hat. In diesem Sommer hat das Feuer wohl 12000 Quadratkilometer erfasst – zwei Drittel der Fläche Sachsens, das ist auch für hiesige Maßstäbe eine Menge.

Der erste Brief aus Deutschland hat mich erreicht – er war drei Wochen unterwegs. Wer mir schreiben möchte, kann das an folgende Adresse tun (auch wenn der Briefkasten nicht abschließbar ist, klaut hier wahrscheinlich keiner Briefe):

670000, Ulan-Ude
ul. Frunze, dom 16, p. 3, kv. 46
Thomas Ranft
RUSSLAND

In Russland werden Adressen oft genau umgekehrt geschrieben wie bei uns, also beginnend mit der Postleitzahl und endend mit dem Namen. Die drei Zahlen in der zweiten Zeile sind Hausnummer, Eingangsnummer und Wohnungsnummer. Postboten können inzwischen wohl auch lateinische Buchstaben lesen.
Container als Fischerhütten
Verkohlte Holzstückchen am Ufer

Blick auf das Dorf Gremjatschinsk und die sandige Bucht

Freitag, 18. September 2015

Kontraste



In größeren Häusern in der Stadt grüßen unbekannte Nachbarn einander nicht. Das Grüßen nicht näher bekannter Menschen ist überhaupt weniger verbreitet als in Deutschland und bedeutet meistens, dass man gewillt ist, ein Gespräch anzuknüpfen. Man wirft den Gruß also nicht einfach so in den Raum, sondern hat dazu ein Anliegen – oder geht gleich schweigend aneinander vorbei. „Priwjet“ hört man deshalb sehr viel seltener als bei uns „Hallo“.
Um nicht sofort als Ausländer aufzufallen, habe ich mir das Grüßen in meinem Wohnhaus bisher verkniffen und kenne deshalb leider auch niemanden – außer meinem Nachbarn Sergej Ivanowitsch, den ich einmal an der Tür aufhielt, um mich ihm nett vorzustellen und ihn zu bitten, das Radio um 6 Uhr morgens nicht so laut zu stellen, dass meine Wohnung gleich mit beschallt wird. Ja, natürlich, kein Problem, war die Antwort, und zu meiner Überraschung blieb die Frage aus, wo ich eigentlich herkomme. Einige Tage später kam ich abends nach Hause und fand Sergej Ivanowitsch schlafend im Treppenhaus vor seiner Wohnungstür liegen. Wahrscheinlich hatte er einen über den Durst getrunken und war nicht mehr imstande gewesen, die Tür zu öffnen. Ich ließ ihn einfach liegen. So etwas kommt im Alltag schon einmal vor.
In dieser Woche habe ich Bekanntschaft mit dem Opernsänger Maxim gemacht. Maxim ist ein stämmiger junger Mann burjatischen Äußeres mit einer tiefen Stimme, der gut Deutsch und Englisch spricht und davon träumt, noch einmal Gesang zu studieren – und zwar in Deutschland. Ich lud ihn an die Uni in mein Büro ein und erzählte ihm etwas von den Aufnahmebedingungen an deutschen Musikhochschulen und von Stipendienprogrammen. Und dann sagte ich ihm, wovon ich im Moment träume: nämlich davon, hier ein Cello zu finden. „Ach, du spielst Cello?“, meinte Maxim. „Willst Du nicht bei uns im Opernorchester anfangen? So mit halber Stelle? Es gibt nur drei oder vier Celli hier, sie finden nicht genug Leute…“ Erstmal brauche ich ein Instrument, erwiderte ich. Mein neuer Bekannter versprach, sich zu kümmern, und nahm mich gleich mit in die Generalprobe von Puccinis „Toska“, wo er im zweiten Akt den Polizeichef singt. Das Operntheater von Ulan-Ude ist von außen und innen ein prächtiges Gebäude, „Iskusstvo prinadlezhit narodu“, steht in goldenen Lettern unterhalb der Decke im Saal, „Die Kunst gehört dem Volk. Sie soll ihre tiefsten Wurzeln in der breiten Masse der arbeitenden Klasse haben. W.I. Lenin.“
Weniger prächtig ist dagegen leider die Ulan-Ude’er Altstadt. Sie verdient ihren Namen auf eher traurige Weise: viele der Holzhäuser, wohl noch aus Zeiten von vor der kommunistischen Revolution stammend, sind total herutergekommen, die Straßen sind ausgestorben. Zwischendurch erfreut immer einmal ein Schmuckstück mit neu gestrichenen Fensterläden und schönen Schnitzereien den Blick. Hinter der blau-weiß leuchtenden Kirche entdeckte ich in einer Sackgasse ein Denkmal an die Opfer politischer Repressionen – eine gar nicht mal kleine Statue und viele Gedenktafeln an Menschen mit einem Todesdatum in den 30er Jahren, der Zeit der Stalinschen Säuberungen.
Als ich gerade um das Denkmal herumlief, bekam ich einen Anruf von der Lehrstuhlleiterin Elena. Es gäbe ein wichtiges Treffen mit dem Dekan, wo ich eigentlich dabei sein könnte. Kein Problem, meinte ich, wann das Treffen denn wäre? Heute um eins? Ich holte meine Taschenuhr hervor. Aber es ist doch schon zehn nach eins? Naja, stimmt, aber vielleicht könnte ich es ja noch schaffen, dazuzukommen?
Ich bin gerade dabei, mich daran zu gewöhnen, dass viele Dinge – auch im offiziellen Uni-Betrieb - hier oft keinen Planungsvorlauf haben, sondern von einem Augenblick auf den anderen stattfinden können. Das verlangt Spontanität und Humor – dank langjähriger Russlanderfahrung habe ich darin schon etwas Übung.


Mein derzeitiger Couchsurfing-Gast heißt Gaé – eine Französin mit einem keltischen Namen, seit fast 3 Monaten von West nach Ost in Russland unterwegs und nun für einige Tage hier in der Stadt. Heute nehme ich sie mit ins Institut zu den Französisch-Studenten, damit diese auch einmal die Gelegenheit haben, mit einem Muttersprachler zu sprechen.

Das Denkmal an die Opfer politischer Repressionen
Mein aktuelles Couchsurfer-Foto, diesmal: Gaé aus Frankreich