Samstag, 30. Juni 2018

Axt und Auge

An einer Ausfahrt der Bundesstraße M-55 läuft ein Mann an einer Schranke hin- und her, etwa vier Fahrtstunden von Ulan-Ude entfernt, kurz hinter dem Ortsausgangsschild der Siedlung Baikalsk am südlichen Baikalufer. Hinter der Schranke steht ein verrottetes bräunliches Raupenfahrzeug, dahinter ein großer, gelber, etwas rostiger Bagger. Ich halte, steige aus und spreche den Mann vor der Schranke an, die mir entgegenbellenden Hunde tapfer ignorierend.
- Laut meiner Karte sollte hier bei Ihnen ein Wanderweg in die Berge beginnen…?
Der Raupen- und Baggerwächter nickt.
- Vielleicht können Sie drei oder vier Tage lang auf mein Auto aufpassen…?
Hundert Rubel pro Tag würde ein bewachter Parkplatz hinter seiner Schranke kosten, sagt der Mann, etwa einen Euro fünfzig also, zieht die Absperrung zur Seite und bedeutet mir, den Wagen am Wegrand unter der Baggerschaufel abzustellen, keine Sorge, der fährt nicht mehr, hier störe ich niemanden. Und um in die Berge zu gelangen, müsse ich einfach dem Waldweg nach rechts folgen, einmal durch die Müllhalde hindurch und dann immer den Pfad am Flussufer entlang.
Ich bedanke mich, schultere meinen Rucksack, greife die Wanderstöcke und mache mich fröhlich auf den Weg, um den Pik Porozhistyj zu bezwingen, laut Karte 2025 Meter hoch, laut Reiseführer sehr schroff und sehr schön. Strahlend blauer Himmel, Sonnenschein mit nur wenigen weißen Wölkchen, Salami, Käse und Rosinen im Gepäck, Ausrüstung mit Zelt und Schlafsack für vier Tage, ich leiste es mir sogar, das schwere Fernglas meiner Freundin mitzuschleppen und Malzeug, vielleicht überkommt mich ja die Muße für das eine oder andere Aquarell.
Hinter besagter rechter Wegbiegung ein grauenhafter Anblick: hunderte Meter weit Haushalts- und Gewerbemüll, einfach auf Freiflächen zwischen den Bäumen gekippt und vom Wind durch die Gegend geweht. Der Raupen- und Baggerwächter bewacht also eigentlich die Einfahrt zur städtischen Müllkippe; von Wiederverwertung oder auch nur Verbrennung hat hier noch nie jemand etwas gehört. In schnellem Laufschritt durchquere ich den stinkenden Arsch der Zivilisation und finde mich wenig später umflort von reinstem Taigawald an einem romantisch dahinperlenden Bergfluss wieder.
Gegen Abend, sechs Stunden später, nähere ich mich der Baumgrenze und erreiche einen auf drei Seiten von nackten Bergwänden umgebenen Kessel. Rauchgeruch verkündet Lagerfeuer und Menschennähe, mein Zelt gesellt sich zu einigen anderen. Ich schüttele drei Zecken aus meiner Kleidung und sinniere über Sinn und Unsinn meiner nicht vorhandenen Zeckenimpfung nach: damals, vor meinem Umzug an den Baikalsee, hatte ich mich dazu belesen und war zu dem Schluss gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit, die Nebenwirkungen der Impfung nicht zu überleben, etwa ähnlich hoch ist wie die, an Enzephalitis zu sterben.
Über ein mit großen schwarzgrauen Felsbrocken übersätes, latschenkiefernbewachsenes Geröllfeld steige ich am nächsten Tag zum Pass auf, ohne Zelt, nur mit leichtem Gepäck. Meine Kamera füllt sich mit Fotos von Knabenkraut, Akelei, gelb blühendem Rhododendron und schmalblättrigem, weiß blühendem Sagan Dali, dessen lanzettliche Blätter aufgrund ihrer ätherischen Öle als Zusatz für den Tee geschätzt und auf den Märkten verkauft werden. Für die Beerensaison bin ich leider einen Monat zu früh, blühendes Blaubeergestrüpp lässt die Freuden eines Wanderers erahnen, der sich im August hierher aufmacht; jetzt, Ende Juni, gibt es lediglich erste aromatische Walderdbeeren, von der Dorfjugend an der Bundesstraße für zweihundert Rubel pro kleinem Becher verkauft.
Entlang des Grates steige ich dem Gipfel entgegen, vorbei an schroffen und ausgesetzten Stellen, ein falscher Schritt und Gute Nacht, aber es ist trocken und windstill, bestes, stabiles Wetter, als völlig schwindelfreier und sehr trittsicherer Wanderer fühle ich mich in meinem Element. Schwungvoll zum Ziel, noch geschätzte fünfzehn Minuten bis zum Gipfel! Ehe ich verstehe, was passiert, habe ich einen Kiefernzweig im Gesicht. Die Vorwärtsbewegung ist nicht mehr aufzuhalten. Der Zweig schiebt sich unter der Brille hindurch, schon sind die Nadeln im linken Auge. Ich taumle zurück und reibe mir die schmerzende Stelle. Einige Nadeln sind offensichtlich steckengeblieben, aber es gelingt mir nicht, sie zu entfernen, nicht mit Reiben und nicht mit Wasser.
In den Bergen können verschiedene kleinere und größere Unglücke passieren: man läuft sich wund, friert sich etwas ab oder bricht ein Gliedmaß, aber eine Verletzung am Auge? Ein untypischer Bergunfall.
Nach einer Weile scheint es, als sei der Schmerz fast verschwunden. Ich bezwinge die letzten hundert Meter und stehe wenig später auf dem Pik Porozhistyj. Zwei Stäbe markieren den höchsten Punkt, auf dem kleinen Plateau haben kaum drei Menschen nebeneinander Platz, eine Gedenktafel erinnert an ein 1992 abgestürztes Mädchen. Grandioser Blick über das Chamar-Daban-Gebirge und den Südbaikal, theoretisch, wenn man nicht gerade eine  Nadel im Auge hat. Schade! Vorsichtig trete ich den Rückweg zum Zelt an, anderthalbäugig.
Als ich am späten Nachmittag den Lagerplatz im Kessel erreiche, kommen gerade zwei Männer von unten aus dem Tal herauf. Ob ich oben gewesen sei? Glückwunsch zum Gipfel! Wenig später höre ich aus der Richtung ihres Zeltes Axtschläge und Feuerprasseln. Ich sehne mich nach Unterhaltung, die mich von den schmerzenden Nadeln in meinem linken Auge ablenkt.
- Warum nehmen die Menschen in Russland eigentlich immer eine Axt mit in den Wald?
Das Brennholz neben dem Feuer und das darüber aufgebaute selbst gezimmerte Tagan-Gestell zum Aufhängen des Wasserkessels beantworten meine Frage eigentlich schon von selbst. Der ältere der beiden macht einen gebildeten Eindruck und blickt mich durch dicke Brillengläser schmunzelnd an.
- Jevgenij aus Baikalsk, sehr angenehm! Deutscher? Immer eine Freude, mit Vertretern einer anderen Kultur zu sprechen. Was machst du, wenn plötzlich Hochwasser kommt und alle Brücken wegspült? Dann hackst du mit der Axt ein paar Stämme und baust dir neue. Das ist die Taiga! Die große russische Freiheit! So etwas gibt es bei euch in Westeuropa nicht! Wir haben sogar ein eigenes Wort dafür: wolja, das ist mehr als bloß svoboda
Mein linkes Auge vergessend, folge ich Evgenijs Gedanken über wolja, die große russische Freiheit, und nicke zustimmend, ja, zum Gesetz hätten die Russen ganz offensichtlich ein indirekteres, freies Verhältnis…
- Ist nicht laut Verfassung das Volk die höchste Macht? Und wenn ein Gesetz offensichtlich von einem Dummkopf gemacht wurde, wenn es einfach idiotisch ist, dann darf und muss man es ignorieren!
Ob er ein Beispiel hätte für ein solches Gesetz?
- Rings um den Baikalsee ist der Bau von Industrieanlagen verboten. Darunter fällt auch die Müllverbrennung. Deshalb gibt es keine andere Möglichkeit, sich der Abfälle zu entledigen, als sie einfach in den Wald zu kippen!
Wie es sich denn ohne den Hauptarbeitgeber in Baikalsk lebe, möchte ich wissen, auf das 2013 geschlossene Zellulosewerk anspielend, das einige tausend Leute beschäftigt hatte.
- Wunderbar! Als das Werk zumachte, habe ich eine Flasche Sekt geöffnet. Jagen, fischen, angeln, manche leben überhaupt nur von der Natur hier…
Der Schmerz im Auge kehrt zurück und  erinnert mich daran, dass ich noch etwas anderes von ihm wollte. Ob er nicht einen Augenarzt in Baikalsk kenne?
- Gerade vorgestern war ich dort! Leider habe ich die Telefonnummer nicht dabei! Ich rufe kurz meine Frau an, die gibt sie mir durch, einen Moment bitte!
Nach zwei Stunden kommt Jewgenij zurück und schreibt mir Namen, Adresse und Telefonnummer der Baikalsker Augenärztin auf einen Zettel. Nach dem Abstieg solle ich unverzüglich dorthin gehen, mit den Augen solle man lieber nicht spaßen, das wisse er aus eigener Erfahrung. Die Kiefernnadeln brennen mit jeder Bewegung des Augapfels und versetzen mich in eine weinerlich-gesprächige Stimmung. Bestimmt habe der Schmerz einen tiefen Sinn, hebe ich an, im Alltag schätzt man es viel zu wenig, mit zwei gesunden Augen herumzulaufen…
- Jetzt ist aber einer unter die Philosophen gegangen! Ich leide an einer Augenkrankheit, die mich früher oder später erblinden lässt. Deshalb gehe ich möglichst oft in die Berge, damit ich dann, wenn ich mit weißem Stöckchen umherlaufe, viele schöne Erinnerungen habe.
Ob er denn hier Handyempfang habe?
- Nein, aber ganz oben auf dem Gipfel, hervorragende Verbindung!
In zwei Stunden ist der Mann einmal hinauf- und hinuntergesprintet, um für mich mit seiner Frau zu telefonieren, nicht schlecht! Ich bedanke mich und gehe zu meinem Zelt, ich solle an die große sibirische Freiheit denken und das nächste Mal die Axt nicht vergessen, sagt Jevgenij zum Abschied.
Gegen fünf Uhr wache ich zusammen mit der Sonne auf. Meine Hoffnungen auf wundersame nächtliche Selbstheilung haben sich nicht erfüllt. Ich klemme mir ein Taschentuch zwischen Brillenglas und Auge und trete den Rückweg ins Tal einäugig an, überraschend stolperfrei, Entfernungen nehme ich nicht wahr, sondern greife auf Erfahrungswerte zurück. Nach fünf Stunden durchquere ich die stinkende Müllhalde und stehe an der Bundesstraße. Der Müllhaldenwächter bekommt fünfhundert Rubel, damit er mein Auto noch etwas länger bewacht, und bestellt mir ein Taxi zur Augenärztin.
 - Schätzen Sie nicht auch die Sauberkeit des Baikals nach der Schließung des Zellulosewerks?
Achselzucken. Weniger Fische gebe es leider seitdem, die hätten sich wohl vom Plankton ernährt, das wiederum von den Abwässern der Fabrik gedüngt wurde.
Zum Glück gibt es in Baikalsk neben der kostenlosen und meistens schlechten Gesundheitsvorsorge im staatlichen Krankenhaus noch eine kleine, gut ausgestattete, kostenpflichtige Augenklinik.
Schmerzmittel eingeträufelt, Auge geöffnet und vors Mikroskop: keine Fremdkörper, nur Hornhaut beschädigt, Sehfeld nicht beeinträchtigt, wird von selbst vollständig ausheilen. Die Augenärztin verschreibt mir vier verschiedene Tropfen, sechs Mal am Tag fünf Tage lang anzuwenden. Die Rückfahrt nach Ulan-Ude trete ich liegend im Plazkartny Wagon eines Fernzuges an. Das Auto wird abgeholt, wenn ich wieder zweiäugig bin: ein schöner Grund, noch einmal ans Südufer des Baikal zu fahren.




Donnerstag, 14. Juni 2018

Vier Enden



Das Studienjahr an der Burjatischen Staatlichen Universität geht zu Ende, mein drittes Jahr in Ulan-Ude, in dieser Woche nehme ich Prüfungen in den Fächern „Sprachpraxis Deutsch“ und „Deutsche Landesskunde“ ab. Für Maja ist das erste Jahr Klavierunterricht mit einer Art Konzertstunde zu einem Abschluss gekommen, ich habe einen Programmzettel ausgedruckt, fein gekleidet hat sie ihr Repertoire gespielt mit Verbeugungen zwischendurch und Zhargalma Dashievna, die Klavierlehrerin, hat Maja Blumen überreicht. Wir bedankten uns bei der burjatischen Pädagogin mit einer Packung echter Mozartkugeln.

Der zweite Besuch von Baron Nikolaus von Gayling-Westphal in Ulan-Ude ist zu Ende gegangen. Der Freiburger FDP-Politiker, Stadtrat und Kulturförderer, der auf seinem Schloss einen eigenen Konzertsaal und eine Kapelle unterhält, möchte eine Städtepartnerschaft zwischen Ulan-Ude und Freiburg initiieren. Ich habe ihn als Übersetzer begleitet: zum Treffen mit dem Bürgermeister, beim Mittagessen mit Vertretern der Stadtverwaltung, bei touristischen Ausflügen in ein Altgläubigendorf an den Baikalsee und zum blinden Pianisten, Komponisten und Wunderkind Ludub, der vielleicht in einer Freiburger Augenklinik operiert werden kann. In der Arbeit als Dolmetscher fühle ich mich noch recht unerfahren, finde sie aber außerordentlich spannend.
Welche Beziehung zu ihrer Natur denn die Menschen hier hätten, für die Freiburger seien Steppe und Taiga in Burjatien wirklich wunderschön.
Man liebe und verehre natürlich die heimatlichen Gefilde, erläutert der stellvertretende Bürgermeister, er selbst sei ein leidenschaftlicher Jäger und würde gern den Herrn Baron einmal zur Jagd einladen.
Er besitze selbst auch Wald, sagt Nikolaus  - er mag seinen Übersetzer und ist mit ihm per Du – und der werde ganz nachhaltig bewirtschaftet. Ob die Herren wüssten, was nachhaltig bedeutet?
Das Wort ist nicht so einfach ins Russische übertragbar, und während ich nach einer Erklärung suche, hebt der Baron zu einem zehnminütigen Vortrag über Herkunft und Zukunft des Nachhaltigkeitsbegriffes an. Die Herren von der Stadtverwaltung haben sich längst wieder ihrem Essen zugewandt. Was macht ein Übersetzer, wenn niemand zuhört?
Freiburg habe bereits Lemberg als Partner, aber seit dem Austritt der Ukraine aus der Russischen Föderation gäbe es nun leider keine russische Partnerstadt mehr, und das wolle er gern ändern. Man beabsichtige, viel zu ändern, sage ich auf Russisch, aber nicht, was genau: die Ukraine war nie ein Teil der Russischen Föderation. Muss ein Übersetzer grobe Sachfehler wiedergeben?
Das Arbeitsessen in dem feinen burjatischen Restaurant ist fast vorbei, die Stimmung für eine Art zusammenfassendes Schlusswort gekommen. Erwartungsvoll blicken die Vertreter der Stadtverwaltung den Freiburger Gast an. Der Herr Baron macht mit seiner auf die Nase geschobenen Brille und dem nachdenklichen Blick aus den Tiefen seiner Lebenserfahrungen einen fast durchgeistigten Eindruck, aber das dritte oder vierte Glas Wodka hat seine irdische Seite freigelegt. Gestern habe er auch nicht schlecht gegessen, sagt Nikolaus, dann näherte sich ein Obdachloser und setzte sich zu ihm an den Tisch. Er hätte ihn tatsächlich gern auf ein Süppchen eingeladen, aber da habe doch der Restaurantbesitzer den unpassend gekleideten Mann einfach rausgeworfen. Ja, so sei es gewesen! Prost! – Der Herr Baron mag die burjatische Küche, sage ich und verfalle kurz in unsicheres Schweigen - im Übrigen danke er für die Einladung in dieses schöne Lokal und hoffe auf eine fruchtbare weitere Zusammenarbeit. Keine Ahnung, ob er die Verwandlungen bemerkt hat, die seine Ausführungen vom Obdachlosen auf dem Weg von der deutschen in die russische Sprache durchlaufen haben. Darf ein Dolmetscher peinliche Äußerungen verschwinden lassen?
Der Bürgermeister von Ulan-Ude ist bereit, morgen die Partnerschaftserklärung zu unterschreiben. Nikolaus von Gayling möchte noch warten, bis vielfältige Kontakte "von unten" entstanden sind: damit es nicht nur eine Partnerschaft der Stadtverwaltungen wird.
  
Meine Freundin und ich besuchten zusammen ihre Mutter im Dorf Jelan, zweihundert Kilometer südlich von Ulan-Ude, malerisch in der offenen Landschaft am Fuße bewaldeter Hügel gelegen mit etwa tausend Einwohnern, jedes dritte bis vierte Haus leerstehend. Hierher, zu den Verwandten der russischen Mutter, war die Familie 1996 aus dem bürgerkriegszerrütteten Tadschikistan umgesiedelt; hier hat Niso Russisch zu sprechen begonnen und ihre letzten vier Schuljahre absolviert, bevor sie in die Stadt zog. Mit Rustam, dem ältesten ihrer vier Brüder, gruben wir im Gemüsegarten um und beseitigten Brennnessel, genauer: Sibirische Hanfnessel mit hanfartig gegliederten Blättern, die deutlich stärker brennt als die in deutschen Gefilden übliche Art. Anschließend fuhren wir angeln an den nahegelegenen Fluss Chilok, wo jeder von uns über ein Dutzend kleine Elritzen aus dem Wasser holte. Für mich das erste richtige eigene Angelerlebnis im Leben! Ohne jede Vorbehalte fasste Maja die glitschigen Fische an und die Regenwürmer, die als Köder auf den Haken gespießt werden. Die Rückfahrt nach Ulan-Ude mit unserem Auto endete sehr plötzlich nach etwa einem Viertel der Fahrtstrecke auf einer Brücke in der Siedlung Podlopatki. Über die halbe Fahrspur erstreckte sich ein klaffendes Loch, das ich zu spät bemerkte und in welches ich fast ungebremst hineinfuhr. Ein metallisches Klirren vorn links ließ uns anhalten.
Ein langes Metallteil vor dem Rad war gebrochen und schleift nun auf dem Boden, von unter dem Motor tropft Öl. Niso macht ein Foto und schickt es ihrem Bruder Ljoscha.
Wir sollen das abgebrochene Element der Radaufhängung hochbinden und weiterfahren, rät er uns. Das herausgesickerte Öl stamme wahrscheinlich aus dem Getriebe, da komme man auch ohne klar.
Ich bin skeptisch und wende mich um Hilfe an einen Mann, vor dessen Haus ein liebevoll restaurierter Saporozhez steht. Der muss sich mit russischen Autos auskennen! Er begleitet mich auf die Brücke und beguckt sich den schadhaften Lada neugierig.
Auf keinen Fall sollten wir weiterfahren! Das Vorderrad könne nach hinten wegbrechen und noch viel größeren Schaden verursachen.
Während ich guter Laune bleibe und das Erlebnis unter „Abenteuer Russland“ verbuche, flucht meine Freundin über das Auto. Zum zweiten Mal, dass wir unterwegs liegenbleiben. Warum musste ich auch russischer als die Russen sein wollen und so einen beschissenen Lada kaufen, wo doch jeder vernünftige Mensch einen Japaner fährt? Ein Toyota hätte das Schlagloch auch nicht überlebt, versuche ich gegenzuhalten, es sei nicht der Lada schuld, sondern die verdammten Straßen hier. Es gibt zwei Elende in Russland: die Dummköpfe und die Straßen, hat schon Gogol gesagt. Napoleon äußerte: Es gibt keine Wege in Russland, nur Richtungen. Und ein Sprichwort lautet: Wo der Asphalt endet, beginnt unsere Heimat.
Maja verspeist in bester Stimmung von Oma gebackene Lepjoschki und lauscht meiner Stimme, die würdevoll Grimmsche Märchen vorliest. Nach zweieinhalb Stunden ist schon der Abschleppwagen da.
Wie viele Jahre Erfahrung am Steuer ich denn so hätte, fragt mich der Mechaniker in Ulan-Ude mitleidig, der zum Glück gerade Zeit hat und sich sofort an die Reparatur macht. Dreieinhalb Monate, sage ich, was vorher in Deutschland war, sei unwichtig, Erfahrungen aus einer anderen Welt, kaum nach Russland übertragbar.
Fairerweise muss man zugeben, dass es in Sibirien auch ganz ausgezeichnete Straßen gibt. Am Ostufer des Baikalsees zum Beispiel: eine fantastische Strecke von fast Autobahnqualität! Nur zwanzig Kilometer fehlen noch; wenn die letzten störenden Hügel weggebaggert und noch einige Felsen gesprengt sind, kann man von Ulan-Ude bis Ust-Bargusin durchrauschen, schlaglochfrei. Damit niemand zu sehr ins Rasen kommt, sind modernste Überwachungskameras aufgestellt. Kurz abbremsen hilft nichts, da sie auf einer bestimmten Wegstrecke die Durchschnittsgeschwindigkeit messen.


Gartenarbeit in Sibirien (oben). Jelan, das russische Heimatdorf meiner Freundin nach der Übersiedlung aus Tadschikistan (unten). Beim Elritzen angeln (weiter unten)
Unübersehbar: die Telefonnummer zum Rufen des Abschleppwagens (oben), bei russischen Straßenverhältnissen gut zu wissen (unten)


Montag, 4. Juni 2018

An den Rändern der Zivilisation

Zwei junge Männer, lässig an einen sowjetischen Traktor gelehnt. Links und rechts ein paar Ackerflächen, Gartengrundstücke mit Datschen, ein sprudelnder Fluss rauscht vorbei. Die Taiga in frühlingshaftem Grün, Vogelgezwitscher.
- Früher war das Dorf hier etwas größer, oder?
Ich war einem Abzweig von der Hauptstraße mit dem Wegweiser „Chaim“ gefolgt und nach wenigen hundert Metern auf einem holprigen Lehmweg hier angekommen. Ja, meinte einer der beiden, vor fünfzehn Jahren ist das Dorf einem Waldbrand zum Opfer gefallen, jetzt wohnen im Sommer noch ein paar Datschniki hier. Und ich?
- Tourist, Deutschland, genauer: Ostdeutschland! Zehn Jahre im Kommunismus gelebt. Vier Jahre Jungpionier mit blauem Halstuch!
Diese Sätze habe ich so oder so ähnlich schon tausend Mal gesagt. Es sind meine Eisbrechersätze. Wenn die Leute das hören, wird ihnen warm ums Herz. Du bist doch fast einer von uns, sagen sie dann meistens.
Du bist doch fast einer von uns, rief der junge Mann leider nicht. Stattdessen grinste er und sagte, Pionier sei er leider nie gewesen. Richtig, ich vergaß: die Eisbrechermethode funktioniert ab einem gewissen Geburtsjahrgang nicht mehr.
Trotzdem kamen wir ins Gespräch; die beiden sind aus dem Nachbardorf, legen jetzt hier in Chaim einen neuen Kartoffelacker an und suchen manchmal mit einem Metalldetektor nach interessanten alten Gegenständen, dort, wo früher die Häuser standen und jetzt nur noch einige verkohlte Eckpfeiler senkrecht aus der längst wieder übergrünten Erde ragen.

Ein kleines, leuchtend gelbes Zelt am Ufer des Baikalsees, daneben ein Brett als Bank zum Sitzen, ein kleiner Gaskocher und Outdoor-Geschirr darauf. Ich spaziere den Geröllstrand entlang und bleibe neugierig stehen. Sieht sehr nach westeuropäischem Touristen aus! Ein Mann kriecht aus der Behausung, als er mich erblickt, offensichtlich erfreut über jemanden zum Plaudern. Ich schmettere ihm ein dynamisches Hello! entgegen.
Dmitrij, meint er unsicher und gibt mir die Hand.
Dmitrij kommt nicht ganz aus dem richtigen Westen, wie sich herausstellt, sondern vielmehr von dort, wo Westen und Osten in unheilvollem Konflikt miteinander liegen, aus Donezk. Was führt einen Ostukrainer an den Baikalsee? Schon ein Jahr sei er in Russland unterwegs, per Autostop und mit dem Zelt, die Burjaten seien das gastfreundlichste Volk, das er je getroffen habe. Den Winter habe er als Gast in Klöstern verbracht, im orthodoxen Kloster allerdings den Fehler gemacht zu erzählen, dass er zuvor im Tempel bei den Buddhisten gewesen sei, da habe man ihn davongejagt.
Wir sitzen auf dem Holzbrett neben seinem Zelt und unterhalten uns vor dem Hintergrund des Wellenrauschens. Die örtlichen Alkoholiker wollten ihn auch schon vertreiben, sagt Dmitrij, weil sie in ihm einen Konkurrenten sähen, der von dem Heiligen Ort ganz in der Nähe die Rubelmünzen einsammeln könnte, die die Leute dort opfern und die sie selbst für ihren Wodka brauchen.
Und in seiner Heimat? Krieg?
- Eine Häuserreihe weiter ist eine ukrainische Rakete in eine Zahnarztpraxis eingeschlagen, wahrscheinlich wollte man das Polizeirevier daneben treffen und hat die Eingänge verwechselt.
Ob seine Eltern und Geschwister noch dort sind?
- Ich bin allein im Waisenhaus aufgewachsen.
Kurzes Schweigen. Ob ich schon bei den heißen Heilquellen weiter nördlich gewesen sei, will Dmitrij wissen. Natürlich, es sei wunderschön dort, auf der Karte habe er sicher gesehen, wie man hinkommt? Er habe kein Geld, um sich eine Karte zu kaufen, man dulde ihn zwar als Flüchtling, aber eine Arbeitserlaubnis bekämen Leute wie er nur über Beziehungen.
Dmitrij bietet mir Grüntee an; meine Essvorräte sind leider alle, dafür schenke ich ihm meine beiden Landkarten, damit der den Weg ins Bargusintal zu den Quellen findet. Auf welcher Seite er im Ukrainekonflikt stehe?
- Es sind alles Verbrecher, der ukrainische Präsident genauso wie die Leute, die sich Regierung der Donezker Volksrepublik nennen! Die Leute wollen einfach nur normal leben. So wie in Deutschland zum Beispiel!

Ein silbergrauer Lada und ein grünes Zelt inmitten der Steppe. Ein schneidender Wind pfeift auf- und abschwellend durch das Tal; das Auto ist so aufgestellt, dass es dem Zelt als Windschutz dient. Daneben ein frisch aufgerissener Brandschutzgraben, eine kilometerlange braune Furche aus aufgeworfener Erde, die die Ausbreitung eines eventuellen Steppenbrandes verhindern soll. Der Reisende tritt barfuß vor das Zelt, genießt das Gefühl des bloßen Sandbodens an den Füßen und begrüßt die Morgensonne.
Ein kleiner Toyota kommt angeflitzt, ein hagerer kleiner Mann steigt aus und studiert mit wachem Blick den Touristen, das Zelt und den Lada.
- Nicht ein bisschen einsam hier? Und kalt nachts?
Nein, antworte ich und reiche ihm die Hand, allein in der Natur und mit einem guten Schlafsack, das ist doch fantastisch!
- Ich suche einen entlaufenen Bullen. Bau mal dein Zelt ab, in zehn Minuten komme ich wieder vorbei, dann fahren wir zusammen auf meinen Hof, Tee trinken.
So lernte ich Sergej kennen und seine Saimka, wie die Bauernhöfe im Bargusin-Tal genannt werden, 62 Jahre alt, ehemaliger Großbauer, dreißig Kühe und soundsoviele Hektar, bis die Frau starb, mit deren Einkommen der Kredit abgezahlt wurde, den er genommen hatte, um das Unternehmen aufzubauen. Also ging alles zurück an die Bank. Jetzt fängt er ganz von vorne an: eine Kuh, ein Kalb, ein Bulle. Sergej hängt den Wasserkessel über das offene Feuer und geht zum Melken in den Stall, damit wir frische Milch zum Tee haben. Zum Frühstück gibt es Kartoffeln und frischen gesalzenen Fisch aus dem Fluss gleich nebenan, auf den ich dankend verzichte: ich esse Fisch sehr gern, aber gekocht oder gebraten muss er schon sein – nur gesalzen ist er für meine Begriffe praktisch noch roh.
Zum Nachtisch gibt es eine in Zeitungspapier gerollte Zigarette aus Machorka, dem russischen Bauerntabak, der aussieht wie Rindenhäcksel. Aus landeskundlichem Interesse rauche ich mit. Das schmale Ende wird zusammengepresst und abgeknickt, sozusagen als Filterersatz: kosja noschka, Ziegenfuß, heißt so eine Selbstgedrehte. Richtige Zigaretten sind ihm zu teuer, sagt Sergej, und für den selbstangebauten Tabak ist es noch zu früh im Jahr. Warum er keinen Drehtabak kauft? So etwas wird nicht verkauft, meint er, ich solle ihm doch aus Deutschland ein Päckchen mitbringen.
- In den Neunzigern war mal ein Deutscher hier, der wollte ein Windrad aufbauen im Tal. Aber dann hat die Gebietsverwaltung doch kein Geld gehabt.
Und seitdem keine Ausländer zu Besuch? Das ist doch ein wunderschöner Ort hier, ideal für westeuropäische Naturliebhaber, Steppe, Pferde, Fluss und Berge, wenn es jetzt auch noch Strom gäbe im Haus und weniger Müll herumläge…
- Ein Müllabfuhrsystem existiert im Bargusin-Tal überhaupt nicht, jeder lässt seine Abfälle dort, wo er will, - erklärt Sergej. – Der Strom wurde kürzlich abgeklemmt, weil mein letzter Untermieter nicht gezahlt hat.
Ich mache ein Foto von dem Gewächshaus, dessen Wände aus leeren Glasflaschen bestehen – nicht selbst ausgetrunken, versichert mein Gastgeber, nur aufgesammelt – und vom Hof, mit einem Autowrack im Vordergrund: Invalidka wurde das Modell genannt, oder auch Spasiba Gitleru, „Danke Hitler“, weil das mit einem Bein bedienbare Modell kostenlos Kriegsinvaliden zur Verfügung gestellt wurde.

Ein Mann auf einer Bank vor einem vernagelten Haus in einem kleinen Dorf in der Taiga. Nachdenklich und – wohlgemerkt – nüchtern betrachtet er den Ausländer, der sich nach der heißen Mineralquelle erkundigt, die es hier in der Nähe geben soll. Solotoj Kljutsch, Goldene Quelle, so heißt das Dorf, vierzig Kilometer vom Baikalufer entfernt: ein kleines Sägewerk und einige intakte Häuser inmitten einer maroden Bretter- und Balkenwüste, umgeben von malerischen grünen Hügeln.
- Die Kommunisten, das waren noch Menschen! Was war das für ein Leben hier, hundert Familien, und alle hatten Arbeit!
Die heiße Quelle sei etwas weiter flussaufwärts und nur mit dem Boot zu erreichen; von der Brückenruine aus könne man wenigstens sehen, wie sie heraufsprudelt. Da aber der Motor meines geliebten Lada erst nach dem dritten Versuch anspringt, verzichte ich auf den zusätzlichen Halt und fahre direkt zurück nach Turka an die Hauptstraße. Wenn schon Autopanne, dann lieber in der Zivilisation als am Weltrand.