Es ist in gewisser Weise typisch
für das zentralisierte Russland, dass auch der Beginn der Heizperiode im Herbst
eines jeden Jahres eine kollektive Angelegenheit ist. Zumindest trifft das auf
die Bewohner der ans Fernwärmenetz angeschlossenen Wohnungen in der Stadt zu,
wo es am 25. September wieder einmal so weit war: ein Blubbern und Rascheln in
den Rohren kündete vom Beginn der draußen kalten und drinnen gemütlich warmen
Jahreshälfte. In meiner modernen Wohnung habe ich die Möglichkeit, durch
Umlegen eines Hebels jeden Heizkörper auf „Aus“ zu stellen. Andere können die
Innentemperatur nur durch Öffnen der Fenster regulieren.
Eine Busstunde südlich von
Ulan-Ude an der Fernstraße Richtung Mongolei liegt ein bekannter
Aussichtshügel, in dem man mit etwas Fantasie die Form eines schlafenden Löwen
erkennen kann. Auf der straßenabgewandten Seite fällt er recht steil zum Ufer
der Selenga hin ab, die sich malerisch, mit großen und kleinen Inseln und einer
mal steilen, mal flachen Küste hier entlangwindet. Im Mai hatte ich den
„Schlafenden Löwen“ besucht, als gerade die ersten Blüten – lila Küchenschellen
– aus dem vom Winterschlaf erwachten Boden sprossen. Am letzten Wochenende bot
sich das Land in herbstlicher Fülle dar. Niso kennt die volkstümlichen
Bezeichnungen vieler Pflanzen, die ich mit Hilfe von Wikipedia dann zuhause ins
Deutsche übersetzte. Nach einer Zeltübernachtung neben Weiden und Ulmen am
ruhig rauschenden Fluss liefen wir ein Stück das Selenga-Ufer südwärts, atmeten
die klare Luft und sammelten wilden Lauch und Rhabarber. Die hier verbreitete
Brennnessel-Variante (Sibirische Hanfnessel, Urtica cannabina) hat gefiederte Blätter und brennt noch deutlich
mehr als die mitteleuropäischen Arten. Thymian und blauer Rittersporn wachsen
auf den Felsen, vom Wind in getrockneten Büscheln verwehter Steppenroller
fliegt umher.
Um zurück in die Stadt zu
gelangen, stellten wir uns an die Fernstraße, wo uns nach wenigen Minuten auch
schon ein kleiner Lkw aufsammelte, der einen Heizkessel auf der Ladefläche
hatte. Noch unter dem Eindruck des Naturerlebnisses stehend, hörte ich zu, was
der junge Fahrer zu erzählen hatte. Was um Himmels Willen mich denn veranlasst
hätte, aus Deutschland hierher zu ziehen? Es sei doch alles abgeholzt und
vermüllt, Natur gäbe es keine mehr und jeder würde nur in seine eigene Tasche
wirtschaften einschließlich ihm selber, der mit der Herstellung von Heizkesseln
illegal Geld verdiene. Trampen wäre eine hochgefährliche Angelegenheit, und
außerdem halte sowieso niemand an, als Paar hätten wir noch Glück gehabt, ein
einzelner Mann – keine Chance, zwei Männer – noch aussichtsloser. –
In russischen Medien gibt es
nicht annähernd eine solche politische Streit- und Diskussionslust wie in
Deutschland. Auffallend fand ich die eher sparsame Berichterstattung über die
Parlamentswahlen in den Zeitungen. Während vor und nach Bundestagswahlen
seitenweise Prognosen, Interviews, Streitgespräche und Meinungen die deutsche
Presselandschaft bestimmen, berichtete die große russische Wochenzeitung „Argumenty
i fakty“ gerade mal auf einer einzigen sparsamen Seite über das Wahlergebnis.
Für die ZEIT - zu deren Lesern ich mit einer Verzögerung von etwa drei Wochen gehöre - ist die Beliebtheit Putins ein derartiges Rätsel, dass sie neulich
in einer Ausgabe sogar die Titelgeschichte daraus machte.
Niso an der Selenga (oben), Sibirische Hanfnessel (unten) |
Meerträubel (oben); seit 16 Jahren im Einsatz: mein SALEWA-Zelt (unten) |