Donnerstag, 29. September 2016

Herbstliche Botanik am "Schlafenden Löwen"



Es ist in gewisser Weise typisch für das zentralisierte Russland, dass auch der Beginn der Heizperiode im Herbst eines jeden Jahres eine kollektive Angelegenheit ist. Zumindest trifft das auf die Bewohner der ans Fernwärmenetz angeschlossenen Wohnungen in der Stadt zu, wo es am 25. September wieder einmal so weit war: ein Blubbern und Rascheln in den Rohren kündete vom Beginn der draußen kalten und drinnen gemütlich warmen Jahreshälfte. In meiner modernen Wohnung habe ich die Möglichkeit, durch Umlegen eines Hebels jeden Heizkörper auf „Aus“ zu stellen. Andere können die Innentemperatur nur durch Öffnen der Fenster regulieren.

Eine Busstunde südlich von Ulan-Ude an der Fernstraße Richtung Mongolei liegt ein bekannter Aussichtshügel, in dem man mit etwas Fantasie die Form eines schlafenden Löwen erkennen kann. Auf der straßenabgewandten Seite fällt er recht steil zum Ufer der Selenga hin ab, die sich malerisch, mit großen und kleinen Inseln und einer mal steilen, mal flachen Küste hier entlangwindet. Im Mai hatte ich den „Schlafenden Löwen“ besucht, als gerade die ersten Blüten – lila Küchenschellen – aus dem vom Winterschlaf erwachten Boden sprossen. Am letzten Wochenende bot sich das Land in herbstlicher Fülle dar. Niso kennt die volkstümlichen Bezeichnungen vieler Pflanzen, die ich mit Hilfe von Wikipedia dann zuhause ins Deutsche übersetzte. Nach einer Zeltübernachtung neben Weiden und Ulmen am ruhig rauschenden Fluss liefen wir ein Stück das Selenga-Ufer südwärts, atmeten die klare Luft und sammelten wilden Lauch und Rhabarber. Die hier verbreitete Brennnessel-Variante (Sibirische Hanfnessel, Urtica cannabina) hat gefiederte Blätter und brennt noch deutlich mehr als die mitteleuropäischen Arten. Thymian und blauer Rittersporn wachsen auf den Felsen, vom Wind in getrockneten Büscheln verwehter Steppenroller fliegt umher.
Um zurück in die Stadt zu gelangen, stellten wir uns an die Fernstraße, wo uns nach wenigen Minuten auch schon ein kleiner Lkw aufsammelte, der einen Heizkessel auf der Ladefläche hatte. Noch unter dem Eindruck des Naturerlebnisses stehend, hörte ich zu, was der junge Fahrer zu erzählen hatte. Was um Himmels Willen mich denn veranlasst hätte, aus Deutschland hierher zu ziehen? Es sei doch alles abgeholzt und vermüllt, Natur gäbe es keine mehr und jeder würde nur in seine eigene Tasche wirtschaften einschließlich ihm selber, der mit der Herstellung von Heizkesseln illegal Geld verdiene. Trampen wäre eine hochgefährliche Angelegenheit, und außerdem halte sowieso niemand an, als Paar hätten wir noch Glück gehabt, ein einzelner Mann – keine Chance, zwei Männer – noch aussichtsloser. –

In russischen Medien gibt es nicht annähernd eine solche politische Streit- und Diskussionslust wie in Deutschland. Auffallend fand ich die eher sparsame Berichterstattung über die Parlamentswahlen in den Zeitungen. Während vor und nach Bundestagswahlen seitenweise Prognosen, Interviews, Streitgespräche und Meinungen die deutsche Presselandschaft bestimmen, berichtete die große russische Wochenzeitung „Argumenty i fakty“ gerade mal auf einer einzigen sparsamen Seite über das Wahlergebnis. Für die ZEIT - zu deren Lesern ich mit einer Verzögerung von etwa drei Wochen gehöre - ist die Beliebtheit Putins ein derartiges Rätsel, dass sie neulich in einer Ausgabe sogar die Titelgeschichte daraus machte.
















 
Niso an der Selenga (oben), Sibirische Hanfnessel (unten)
Meerträubel (oben); seit 16 Jahren im Einsatz: mein SALEWA-Zelt (unten)

Samstag, 24. September 2016

Thomas from Germany. Englisch auf der Dorfschule



„Hello! I am Thomas from Germany. I would like to talk to you in English today. Maybe you want to ask me some questions…“ 15 neugierige junge Augenpaare sind staunend auf mich gerichtet, als wäre ich eine Art Außerirdischer, der sich von seinem Planeten in ein russisches Dorf verirrt hat. 

Die Siedlung Tataúrovo liegt eine Fahrtstunde nördlich von Ulan-Ude, malerisch am Fluss Selenga.  Meine Bekannte Irina hatte mich an ihre Schule in den Englischunterricht eingeladen. Seit Beginn dieses Schuljahres arbeitet sie dort und ist dafür aus der Stadt nach Tataúrovo gezogen, um nicht jeden Tag pendeln zu müssen. Ihr Arbeitgeber, die Schule, hat ihr in einem der dreigeschossigen Plattenbauten kostenlos eine geräumige Wohnung zur Verfügung gestellt, ein entscheidendes Plus zusätzlich zu dem geringen Lehrergehalt.

Ich besuchte den Unterricht in der 11., 7. und 4. Klasse und war ein absoluter Stargast, für viele wohl die erste Begegnung mit einem westlichen Ausländer überhaupt. Russische Schüler sehen in ihren Schuluniformen sehr schick aus, auch die Viertklässler tragen schon kleine Anzüge! Die Siebtklässler standen vor jeder Antwort von ihrem Platz auf, was mich sehr irritierte, aber hier zu den Höflichkeitskonventionen gehört. Alle waren sehr neugierig und versuchten mir in gebrochenem Englisch Fragen zu stellen; ich tat so, als ob ich kein Russisch verstehe und erzählte ihnen, wie wichtig es sei für sie im späteren Leben, eine Fremdsprache zu erlernen.
Die stellvertretende Direktorin schenkte mir als Dank für meinen Besuch einen großen Beutel mit Pinienkernen, frisch aus der Taiga. Wie wäre es mit der Einführung von Deutsch als zweiter Fremdsprache, schlug ich vor und sie versprach, mal darüber nachzudenken. Irina lud mich nach den drei Unterrichtsstunden in ihre Wohnung zum Tee ein. Der Blick aus dem Fenster fällt auf die neue, schicke Dorfkirche und waldbedeckte Hügel. In Tataurovo leben nur Russen, Irina ist hingegen Burjatin. 

Es macht ihr Spaß, in einem russischen Umfeld zu arbeiten, meinte sie, die Russen seien offener und direkter als die Angehörigen ihres eigenen Volkes, die doch ihre Emotionen eher zurückhalten und aus denen man oft nicht so schlau werde. Mit Menschen zu arbeiten macht ihr mehr Spaß als ihre letzte Tätigkeit in einem Büro, wenn auch 30 Unterrichtsstunden pro Woche schon ganz schön ermüdend sind. – Den Rückweg trat ich an mit einer Flasche Kuhmilch von einem Dorfgroßmütterchen, frisch vom Euter.

Dienstag, 20. September 2016

Meine zehn Minuten im russischen Staatsfernsehen - Von Überraschungen und keinen Überraschungen



Auf dem Platz der Revolution vor dem Univermag-Kaufhaus habe ich zu meinem großen Erstaunen den ersten Fahrradständer in Ulan-Ude gesehen. Ein Fahrrad stand allerdings nicht daran. Den Plan, mir selbst eines zu kaufen, habe ich vorerst hinausgeschoben. Ich wüsste nicht, wo ich es auf der Straße vor meinem Haus oder vor der Uni anschließen sollte. Als einziges Objekt seiner Art würde es sehr auffallen und bestimmt nicht lange stehenbleiben. 

Maxim, den ich am Sonntag ins Wahllokal begleitet hatte, hat die radikale Oppositionspartei Parnas gewählt, die aber keine Chance auf die Überwindung der 5-Prozent-Hürde zum Einzug in die Duma hatte. Was mein kritisch-westeuropäischer Blick im Wahllokal wahrnahm, sollte den Anforderungen an demokratische Wahlen wohl standhalten: mit Vorhängen verschlossene Wahlkabinen, eine lange Reihe von Wahlbeobachtern an der Seite – jede Partei durfte zwei entsenden – und ein elektronisches Stimmauswertungs-Gerät, das die Stimmen sofort erfasste, nachdem sie in die Urne gesteckt wurden. Wie es sich gehört, gab es in und vor dem Wahllokal keine Parteienwerbung mehr. Die meisten Russen verbrachten den sonnigen Sonntag wahrscheinlich lieber auf ihrer Datsche, weshalb die Wahlbeteiligung mit unter 50% auf einem auch für russische Verhältnisse Rekord-Tiefststand lag. Das Ergebnis ist keine Überraschung: ein überwältigender Sieg für  Einiges Russland“, für die Partei des Präsidenten, und somit keine Gefährdung der Stabilität im Lande – ein wichtiges Kriterium nach dem Chaos, das dem Zusammenbruch der Sowjetunion gefolgt war. „Ich weiß noch gut, wie wir in den 90er Jahren gelebt haben, deshalb wähle ich Jedinaja Rossija“, solche oder ähnliche Aussagen kann man oft hören.

Auch in diesem Studienjahr versuche ich mich wieder als Chorleiter und probe jede Woche mit dem von mir vor einem knappen Jahr gegründeten Instituts-Chor. Viele Erstsemestler sind neu dazugekommen, mit 30 Teilnehmern – vor allem Studenten, aber auch Lehrkräfte – gab es in der ersten Probe vor zwei Wochen einen Rekord. Am Donnerstag hatten wir anlässlich einer Festveranstaltung einen kurzen Auftritt. Die Generalprobe war schrecklich, aber das Konzert gut, ganz ordentlich klappten „Evening rise“, „Ich armes kleines Teufli“ („Ich armes welsches Teufli“ heißt es im Mozart-Original, aber wer versteht schon welsch?) und „Go down, Moses“. Kurz vorher bekam ich einen Anruf von einer Journalistin des stattlichen Moskauer Fernsehkanals OTR. Im Rahmen der Sendereihe „Aus der Sicht der Ausländer“ möchten sie mich gerne filmen und zu meinem Leben in Russland befragen, ob ich einverstanden wäre? So waren dann beim Konzert ganz überraschend plötzlich Reporterin und Kameramann anwesend, filmten den Chorauftritt, kamen am nächsten Tag zu mir in den Deutschunterricht, stellten mir Fragen in meinem Büro, nahmen mich beim Betrachten des Springbrunnens in der Innenstadt und beim Straßenbahnfahren auf und – aufregender Höhepunkt – setzten mich gestern Abend vor einen Rechner mit Skype-Schaltung ins Moskauer Studio des Senders. Zuerst wurden die drei Minuten gesendet, die das Ergebnis des zusammengeschnittenen Materials waren. Dann wurde ich life hinzugeschaltet und beantwortete Fragen der beiden jungen Moderatoren, sieben Minuten lang: Warum ich ausgerechnet nach Ulan-Ude gezogen sei, wie sich die Studenten benehmen würden, wie ich die russischen Frauen fände und so weiter, an sich nichts Besonderes und ganz unpolitisch. Trotzdem war ich ordentlich aufgeregt. Zehn Minuten im russischen Staatsfernsehen, allein mir und meiner Arbeit gewidmet! Ich mag russische klassische Literatur, hatte ich der Journalistin gesagt. „Thomas liebt Puschkin und möchte demnächst alle Romane Dostojewskijs im Original lesen“, hörte ich dann zu meiner großen Überraschung über mich. Ist das Fernsehen nicht ein dummes, sinnentleertes Medium? Es muss alles unglaublich schnell gehen, irgendwie effektvoll sein und Unterhaltungswert haben; Aussagen werden umgebaut und ergänzt, wie es gerade passt.

Zwei überraschende Personalwechsel stehen in meinem Arbeitsumfeld an. Unsere Lehrstuhlleiterin kündigte vor einer Weile offiziell an, drei Tage später in den Schwangerschaftsurlaub zu gehen. Die Direktorin meines Institutes für Philologie und Massenkommunikation Polina, die ich mit Mutter und Schwester Christiane im Sommer besucht hatte, wird ihren Posten auf eigenen Wunsch Ende Oktober räumen. Allgemein besteht die Befürchtung, dass eine von außerhalb kommende Person die Stelle übernimmt und zu viele altbewährte, gewachsene Strukturen über den Haufen wirft. Ich finde ihren Rücktritt schade, weil Polina meinen Chor sehr gemocht und unterstützt hat – bei ihrem Nachfolger muss ich mir meinen guten Ruf erst wieder erarbeiten.
Langfristiges Planen ist keine russische Stärke. Meine Freundin Niso hat neulich bei ihrer Arbeitsstelle, einem Autoersatzzeile-Händler, angefragt, ob sie nicht Ende Dezember – also in drei Monaten – eine Woche Urlaub nehmen könne. Was für unmögliche Fragen sie stellen würde, hatte ihr die Personalchefin geantwortet, das würde doch jetzt noch kein Mensch wissen, das müsse man dann sehen, wenn es soweit wäre, und sie solle sich mal lieber auf ihre aktuellen Aufgaben konzentrieren.

Im Moment herrscht angenehmes Übergangswetter hier, klare Luft, erfrischende Kühle, die Bäume beginnen sich herbstlich zu färben. Mit Niso ging ich in den Hügeln hinter dem Kahlen Berg spazieren, jene Anhöhe, auf der ein buddhistischer Tempel steht, mit tollem Blick über die Stadt, eines meiner Ausflugsziele mit Mutter und Schwester im Juli. Wir pflückten Thymian und Hagebutten und verzehrten auf einem Felsen sitzend vegetarische belegte Brote. Nach der Rückkehr überkam uns Appetit auf Fleisch, und ich veranstaltete eine Vergleichsverkostung aus drei Büchsen auf der Herdplatte aufgewärmter Tushonka, dem typischen Dosenfleisch: Rind, Pferd und Hirsch. Rindfleisch: der typische, kräftige Geschmack, etwas zäh; Pferdefleisch: weicher und blumiger; eine echte Überraschung dann das Hirschfleisch: eine reichhaltige, unglaubliche Geschmacksexplosion im Mund, das reinste Fest für die Sinne.

Herbstwald. Die untere Hälfte der Stämme ist schwarz - der letzte Waldbrand lag nicht lange zurück
Niso bei der Thymianernte
Der buddhistische Tempel auf dem Kahlen Berg - Blick von der stadtabgewandten "Rückseite"
Rind, Hirsch oder Pferd - eine Vergleichsverkostung bringt die Unterschiede an den Tag
Schlechte Probe, ordentlicher Auftritt: unser Instituts-Chor am letzten Donnerstag

Samstag, 17. September 2016

Von Grenzen und Wahlen



Russland ist ein Land der unscharfen Grenzen und fließenden Übergänge, Deutschland dagegen ein Land der klaren, kleinteiligen Abgrenzungen.

Beim Reisen durch Russland fließen dem Betrachter unendliche Weiten entgegen, nie aufhörende Ebenen bis zum Horizont, Taigawälder, in denen man sich zu Tode verirren kann, wenn man nicht aufpasst, die menschenleere Steppe. In russischen Wohnungen gibt es oft keine Zimmertüren, es ist nicht üblich, dass sich jeder in einen eigenen Raum zurückziehen kann; in Studentenheimen wohnen die jungen Leute nicht selten zu dritt oder zu viert in einem Zimmer. Grenzenlosigkeit gibt es nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit: Veranstaltungen fangen fast nie pünktlich an, eine Zeitangabe ist eher als Beginn eines möglichen Zeitfensters zu verstehen:  Auf Busfahrplänen werden Zeitintervalle angegeben, in denen der Bus kommt, keine genauen Abfahrtszeiten. In einem orthodoxen Gottesdienst kommen und gehen die Gläubigen, wann sie wollen. Mahlzeiten beginnen oft zeitversetzt, auch wenn sie an sich gemeinsam eingenommen werden; es fängt einfach jeder an zu essen, wann er möchte. Ewig langes Sitzen und ohrenbetäubend laute Musik bei Festveranstaltungen, Präsentationen auf der Bühne in kitschigstem Prunk und Glitter, Wodkatrinken bis zum Kontrollverlust – aus der Perspektive des Deutschen geht die Grenzenlosigkeit hier in Maßlosigkeit über.
Deutschland hingegen: ein überschaubarer Natur- und Kulturraum mit scharfen Übergängen. Hier eine Stadt, dann ein Feld, ein Weg, ein Feld und gleich wieder ein Dorf. Jedem sein Zimmer in der Wohnung – Privatraum muss sein. Genau sind die Grenzen auch in der Zeit: Veranstaltungen beginnen auf den Punkt, sich um 5 Minuten verspätende Straßenbahnen sind Grund zum Ärger. Mahlzeiten in der Familie beginnen nach dem gemeinsamen Startsignal „Guten Appetit“, Kinder werden erzogen, nicht einfach aufzuspringen, wenn der Teller leer ist; man erhebt sich gemeinsam. Vieles ist gemaßregelt, auf eine von der Vernunft gefundene Mitte hin orientiert. Wer will, kann das Thema Grenzen sogar in der Sprache finden: typisch für das Deutsche ist der Glottis-Stopp genannte Kehlkopfverschluss vor Vokalen, was der Sprache den in den Ohren vieler Ausländer etwas harten Klang verleiht, während im Russischen die Vokale weich ineinander überfließen.

Morgen finden die Wahlen zum russischen Parlament statt, der Moskauer Staatsduma. Auf großen Plakaten sind an Ulan-Udes Hauptstraßen etwa fünf Parteien präsent. Putins Partei „Einiges Russland“ erwartet, dass sich dessen Popularität im Wahlergebnis widerspiegelt und wirbt mit dem Slogan, die „Partei des Präsidenten“ zu sein. An anderer Stelle schauen die vier wuchtigen Buchstaben „LDPR“  der  Liberaldemokratische Partei mit dem Fernseh-Clown und Schreihals Shirinovskij an der Spitze auf das Wahlvolk herab. Die Kommunistische Partei mit Präsidentenkandidat  Sjuganov, der 1996 fast die Wahlen gegen Jelzin gewonnen hätte und seitdem aber keine Chance mehr hat, präsentiert sich mit der altbewährten Sowjet-Symbolik Hammer und Sichel, und die Partei „Gerechtes Russland“ verkündet: „Zeit, Gerechtigkeit zu wählen“. Im Stadtzentrum laufen von den Parteien bezahlte junge Leute herum und teilen Wahlwerbung aus. Aus meinem Briefkasten fische ich fast täglich mehr oder weniger interessante Zeitungen wie die kommunistische „Prawda“ mit der Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ oder einen Zettel der „Russischen Partei der Rentner für Gerechtigkeit“ mit der Parole „Lasst euch nicht von Moskauer Oligarchen betrügen!“
Vier Parteien sind im Moment in der Duma vertreten, und es ist nicht zu erwarten, dass sich das nach den Wahlen ändern wird. Einigkeit besteht bei allen im Kurs der russischen Außenpolitik und darin, dass die Angliederung der Krim nach dem Putsch in Kiew – die Annexion nach der Revolution, würden westliche Politiker sagen – rechtmäßig und richtig war. Nur die Jábloko-Partei bezweifelt das und setzt auf einen Versöhnungskurs mit dem Westen, hat aber wie viele andere der insgesamt 14 zugelassenen Parteien keine Chance, die 5-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu übersteigen. Im Unterschied zu den letzten Wahlen vor 5 Jahren ist die Abstimmung diesmal eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlsystem, das heißt, die Wähler geben zwei Stimmen ab, für eine Partei und für eine Person. Allerdings werden die Direktstimmen nicht auf die Prozente für die Parteien angerechnet, wie es bei der deutschen Bundestagswahl der Fall ist, sondern die beiden Wahlsysteme stehen unverbunden nebeneinander: die Hälfte der 450 Abgeordneten kommen über die Parteienliste in die Duma je nach den Prozenten, die die Partei bekommen hat, und die andere Hälfte sind die Gewinner im jeweiligen Wahlkreis. Ein solches System stärkt die Chancen der führenden Partei „Einiges Russland“, die bei den letzten Wahlen knapp unter die 50-Prozent-Marke gerutscht war. Am morgigen Wahlsonntag möchte ich gern meinen Freund Maxim bei der Stimmabgabe ins Wahllokal begleiten. Er weiß selbst noch nicht, wo er sein Häkchen machen wird – in Russland wird nicht angekreuzt, sondern ein Häkchen gesetzt. Ich bin neugierig, einmal ein russisches Wahllokal von innen zu sehen. „Wenn Sie jemand zwingt, ihre Stimme für eine bestimmte Partei abzugeben und den Wahlzettel zum Beweis zu fotografieren, dann seien Sie mutig!“, ist in der kommunistischen Wahlzeitung zu lesen. „Nehmen Sie ein kleines Fädchen, legen Sie es in Häkchenform in das Kästchen und machen Sie das Foto. Dann nehmen Sie das Fädchen weg und wählen Sie, wie Sie eigentlich wollten.“

Es gibt sie noch - die kommunistische "Prawda"
Wahlwerbung vor meiner Haustür: "Einiges Russland - die Partei des Präsidenten"
Wahlplakate: die vier wuchtigen Buchstaben der Liberaldemokraten (oben), Sowjet-Symbolik der Kommunisten (unten)