Samstag, 31. August 2019

Jelan


Das Dorf Jelan, wo meine Frau nach der Übersiedlung aus Tadschikistan gewohnt und ihre letzten vier Schuljahre verbracht hat, liegt etwa zweihundert Wegekilometer südlich von Ulan-Ude. Genauer gesagt sind es zweihundertzwanzig auf der schlechter beschaffenen Strecke ohne Tankmöglichkeit oder hundertneunzig auf der deutlich besser asphaltierten mit einer Tankstelle zwischendurch, bei der allerdings auf einem unbefestigten Abschnitt ein steiler Pass überwunden werden muss, weshalb ich mich meistens für die etwas längere Strecke entscheide. Mit einer kleinen Pause zwischendurch dauert die Reise dreieinhalb Stunden. In den letzten Wochen bin ich ungewöhnlich oft nach Jelan und zurück gefahren, um Niso und Maja zu meinen Schwiegereltern zu bringen oder sie abzuholen. „Ich komme mir vor wie ein Berufskraftfahrer“, sage ich scherzend und löffle Schafsfleischsuppe auf ihrer Terrasse vor dem Sommerhaus im Innenhof, „immer die gleich Strecke hin und her, und am Zielort kostenlose Verpflegung!“ Täglich fährt auch ein Kleinbus von Ulan-Ude nach Jelan, der deutlich schneller rast als ich, aber der kleinen Maja bekommt das Durchgeschütteltwerden nicht gut, ihr wird schlecht und sie verlangt nach Toilettenstopps, weshalb ich lieber die Rolle des Berufskraftfahrers übernehme. Für meine Familie mache ich das doch gerne.
An einem Tag erregen zwei offensichtliche Fahrradspuren im sandigen Untergrund meine Aufmerksamkeit. Wenig später kommen wir an zwei bunt gekleideten Radlern vorbei, einer davon mit Anhänger, an dem eine französische Flagge weht, der andere mit einer liegeradähnlichen Konstruktion, vor ihm ein Kind sitzend, das auch in die Pedale tritt. Niso kurbelt das Beifahrerfenster herunter.
„Vielleicht habt ihr Lust auf eine Pause und wir plaudern ein bisschen“, rufe ich im Vorbeifahren auf Englisch.
„Warum nicht, wir sind ja hier, um Leute zu treffen!“
Das französische Paar hat sich ein Jahr Auszeit genommen und radelt nun gemeinsam mit dem zwei- und vierjährigen Nachwuchs um die Welt, jeden Tag dreißig Kilometer. Gerade sind sie unterwegs in die Mongolei, dann geht es weiter nach China. „Warum haben die bloß keine Angst?“, fragt meine Frau fassungslos. Aus der kleinen Siedlung neben der Straße kommt sofort eine Frau herbeigelaufen, filmt unser Treffen mit ihrem Smartphone und gesteht, dass sie noch nie Ausländern begegnet ist.
Jelan ist ein russisches Dorf, wie es unzählige ähnliche gibt: links und rechts von sandigen Straßen reihen sich Grundstücke mit kleinen Häusern aus Rundbalken hinter hohen grauen Holzzäunen aneinander. Vor einigen ist ein kleines Blumengärtchen hinter einem niedrigen Lattenzaun. Etwa jedes vierte Haus ist verfallen, so auch ein freistehendes ehemaliges Kaufmannsgebäude im Zentrum. Man findet ein paar Geschäfte, das graue Ziegelgebäude der Schule, einen bunt bemalten Kindergarten und ein kleines Heizwerk für die letzteren beiden; ein Denkmal an die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges, eine Kirche mit goldglänzendem Zwiebeltürmchen und gleich an der Einfahrt die Ruinen eines Stalls und Reste einer Mühle, in dem noch riesige runde Mühlsteine herumliegen. Neben den zwei unübersehbaren Handymasten gibt es die Postfiliale und eine kleine Bäckerei, in der eine Sorte Weißbrot gebacken wird. Die Einwohnerzahl liegt bei Tausend, Tendenz fallend. Nach Norden hin erstrecken sich offene Felder und Steppe, nach Süden eine Hügelkette, so dicht bewaldet, dass sich Niso mit ihrer Großmutter darin in der Kindheit fast einmal ernsthaft verlaufen hätte.
Neulich fand ein großes Dorffest statt: dreihundertdreißig Jahre Jelan! Eine Bühne wurde aufgestellt, davor Tische und Sitzbänke gezimmert, einen ganze Nachmittag gab es Musik und Gesang, festliche Ansprachen, in welchen der Zeiten gedacht wurde, als die Geschichte der Siedlung als Kosakenfestung ihren Anfang nahm, und natürlich reichlich Speise und Trank in Form von Wodka oder Tee. Nisos Vater hatte für das Fest zuhause im Hof über offenem Feuer riesige Mengen Plov zubereitet, in Öl gebratener Reis mit Fleisch und Gemüse. Jede der vier Dorfstraßen präsentierte ein eigenes Programm auf der Bühne, von denen dann eine Jury die besten auswählte und Preise vergab.
Im Winter sinkt die Temperatur hier bis auf minus vierzig Grad. Im kurzen warmen Sommer wird angebaut, was der Boden hergibt. Im Garten hinter dem Haus erntet Nisos Mutter Kartoffeln, Paprika, Bohnen, Möhren, Gurken, Zucchini, Kürbis, Rote Beete und Tomaten, die grün abgenommen werden und dann im Haus nachreifen. Einen halben Tag lang widme ich mich dem üppigen Unkraut, das in diesem ungewöhnlich verregneten Sommer reichlich wachsen konnte, und kämpfe gegen die Sibirische Hanfnessel, eine Brennnesselart mit gefiederten Blättern, die noch unangenehmer auf der Haut schmerzt als ihre mitteleuropäischen Verwandten.
Neben dem eigentlichen, mit blau leuchtenden Fensterläden verzierten Wohnhaus meiner Schwiegereltern gibt es noch ein kleineres Sommerhaus, so genannt, weil es nicht vollständig isoliert und der Raum im Winter trotz großem Ofen nicht richtig warmzuhalten ist. Neben dem Ofen in der Erde ist die Brunnenöffnung mit der das Trinkwasser fördernden elektrischen Pumpe. Schräg dahinter liegt das Banja-Gebäude zum Waschen, gegenüber dem Wohnhaus sind als Garage oder Lagerräume dienende Schuppen. Im Garten stehen zwei windschiefe Plumpsklos, außerdem ein armeegrünes UAS-Fahrzeug des Typs „Tabletka“ ohne Nummernschild, mit dem einer von Nisos Brüdern gelegentlich im Wald zur Jagd unterwegs ist, und natürlich ein großer, langer Stapel Feuerholz für den Winter.
In der Wohnstube halte ich es meist nicht lange aus, denn dort regiert von morgens bis abends der Fernseher. Trotz verschiedener Manipulationen meiner Frau – mal verdreht sie die Antenne, mal schneidet sie ein paar Drähte im Inneren durch, mal versteckt sie die Fernbedienung – ist der Flimmerkasten spätestens nach einem Tag immer wieder einsatzbereit, um seine überlebenswichtige Funktion zu erfüllen. Ich setze mich beim Essen mit dem Rücken zum Fernseher, der Schwiegervater mir gegenüber: und tatsächlich beugt er sich schräg zur Seite, um an mir vorbei in die Mattscheibe zu schauen. Ist die Fernbedienung gerade unbegreiflicherweise verschwunden, weshalb die ebenso unbegreiflicherweise gedämpfte Lautstärke nicht erhöht werden kann, stellt er sein Smartphone vor sich auf den Tisch, und ich betrachte ihn, wie er ein Youtube-Video betrachtet. Da gehe ich doch lieber in den Hof und bewerfe die vor Vergnügen quietschende Maja mit den stacheligen Früchten der Wilden Gurke, die vor der Terrasse rankt. Nichts persönlich gegen mich, aber es gibt nun einmal nicht die Tradition des gemeinsamen Gesprächs beim Essen.
Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass mich Nikolai, wie mein Schwiegervater sich hier in Russland nennt – sein eigentlicher tadschikischer Name ist Chairiddin – inzwischen als Mitglied der Familie akzeptiert. Niso meinte einmal zu mir, er ist inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass das Glück seiner Tochter und Enkelin wichtiger ist als die Religion des Schwiegersohnes, der nun einmal kein Moslem ist und auch keiner zu werden gedenkt. Manchmal unterhalten wir uns auch: Nikolai, ein braungebrannter Mann mit zerfurchtem Gesicht, schneidet draußen auf der Bank vor dem Sommerhaus die von mir aus der Stadt mitgebrachte Wassermelone an und fragt mich, was dieses oder jenes auf Deutsch heißt oder erzählt von seiner Arbeit. Er kümmert sich um die Melktechnik auf der Farm oder treibt zu Pferde die Kühe aus dem Dorf morgens auf die Weide und abends wieder in die Gehöfte zurück. Weil er nicht trinkt und alles Mögliche reparieren kann, wird seine Arbeitskraft geschätzt und er hat nach viermonatiger Abwesenheit im vorigen Jahr, nach dem gescheiterten Versuch einer Rückübersiedlung in seine Heimat Tadschikistan, sofort wieder Anstellung gefunden. Im Oktober steht sein sechzigster Geburtstag an.
Auf der letzten Fahrt nach Jelan nimmt Niso eine Rolle abwaschbare Tapete mit: die Küche soll renoviert werden und die Mutter braucht Hilfe, da der Vater aus Prinzip keine häuslichen Arbeiten verrichtet. Mit uns im Auto sitzt mein Bekannter Maxim, der nach zwei Jahren Gesangsstudium in Deutschland wieder in Ulan-Ude ist. Auf dem Rückweg am gleichen Tag – ohne Niso und Maja, die ich später abholen werde – bittet er mich darum, auch einmal fahren zu dürfen. Ich erfülle seinen Wunsch gern, schließlich hatte ich in Deutschland auch nie ein eigenes Auto und nur deshalb Fahrsicherheit erlangt, weil mir hin und wieder Freunde das Steuer überließen.
Wir sind auf der etwas längeren, aber asphaltärmeren Strecke unterwegs. Zunächst umgeben uns Felder und Nadelwald, bevor sich die weite, menschenleere, hügelige Steppe auftut. Maxim, ein großer Burjate mit mächtiger Bassstimme, möchte nicht wieder nach Deutschland zurück, es gefalle ihm dort nicht, sagt er undeutlich, und ich vermute, dass er mit der Mentalität nicht warmgeworden ist, mit der sich von Russland unterscheidenden Art und Weise, wie Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden und wie das Arbeitsleben strukturiert ist. Der Kommunistischen Partei Russlands möchte er beitreten und sich ein Gewehr kaufen, zur Selbstverteidigung, wie überhaupt ihn alles fasziniert, was mit Armee und Waffen zu tun hat, obwohl – oder weil – er selbst ausgemustert worden war.
Die Sonne scheint. Wie auf dieser Strecke üblich, sind wir fast die einzigen; selten gibt es Gegenverkehr, überholen wir einen LKW oder zischt ein Toyota an uns vorbei. In einer nicht steilen Linkskurve vor uns nähern wir uns zwei stehenden Gradern, große, dreiachsige Fahrzeuge, die mit ihren seitlich und frontal angebrachten Pflugschilden die Geröllpiste glatthobeln. Rechts neben ihnen ist ein schmales Stück der Straße frei, breit genug für ein Fahrzeug. Aus irgendeinem Grund schätzt Maxim Geschwindigkeit und die Abmessungen unseres Autos falsch ein. Wir fliegen aus der Kurve ins hohe Gestrüpp, neigen uns kurz in steile Schräglage, richten uns wieder auf und rauschen durch die Vegetation. Drei Sekunden lang klatschen kräftige Weidenzweige von allen Seiten gegen Karosserie und Scheiben, dann bringt uns ihr Widerstand zum Stehen, einen Meter unterhalb und einige Wagenlängen rechts von der Straße. 
„Bljat`“, sage ich, als wir durch die Büsche prasseln. Wahrscheinlich das erste Mal im Leben, dass ich laut und aus ganzer Seele auf Russisch fluche. Der Begriff ist im Deutschen nicht mit einem Wort wiederzugeben. Es bedeutet etwa „dreimal verfluchte verdammte Scheiße“.
  Um uns das Gestrüpp, links oberhalb die Straße. Wir stehen.
 „Bljat`“, wiederhole ich noch einmal laut und deutlich.
 „Verzeihung, Thomas!“
„Musste das sein?“
Überraschenderweise läuft sogar der Motor noch. Maxim schaltet aus, wir verlassen unversehrt das Fahrzeug.
Jenseits der Böschung kommen uns die beiden Grader-Fahrer entgegen.
„Ihr seid wirklich im Hemd geboren“, meint einer. Das ist ein russisches Sprichwort und bedeutet so viel wie „von Glück begleitet werden“.
„Mein Freund hat den Führerschein, aber wenig Fahrerfahrung“, erläutere ich.
„Auto und Frau vertrau niemandem an“, sagt der andere. Auf Russisch klingt das irgendwie gut, weil es sich reimt.
Sofort beratschlagen die beiden Männer, wie man unseren Geländewagen auf die Straße zurückholen könnte. Schließlich hackt der eine mit der Axt aus meinem Kofferraum die dicksten Äste rings um das Fahrzeug weg, während der andere in seinen Grader steigt und die Büsche am Wegrand komplett abrasiert. Dem mit der Axt gelingt es, das Auto durch Hin- und Herrangieren senkrecht zur Straße zu stellen. Mit dem Abschleppseil zieht sein Kollege den zwei Tonnen schweren Lada Niva anschließend hoch. Ein Kleinbus aus Ulan-Ude mit geduldig und neugierig aus dem Fenster schauenden Passagieren wartet, bis die Aktion beendet und die Straße frei ist.
Maxim drückt den Jungs tausend Rubel in die Hand. Ich binde den wieder einmal unten hängenden Auspuff hoch und klemme das abgefallene zerbeulte vordere Nummernschild von innen hinter die Frontscheibe. Ohne weitere Zwischenfälle erreichen wir die Stadt.
„Wir hatten wirklich Glück im Unglück“, sage ich, „nicht einmal den Abschleppwagen mussten wir rufen!“
„Das wäre auch gar nicht möglich gewesen.“ Maxim kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Es gab dort keinen Handyempfang.“
Heute fahre ich schon wieder nach Jelan. Frau und Tochter müssen zurück in die Stadt, bevor am ersten September der Ernst des Lebens beginnt mit Schule, Musikschule (für Maja), Fahrschule, Deutsch lernen, Gitarreunterricht (für Niso) und Schwimmen lernen (für beide). Mir reicht es dann auch mit dem stundenlangen Sitzen am Steuer. Schließlich bin ich nicht Kraftfahrer, sondern Deutschlehrer. Als solcher habe ich hier jeden Tag zwölf Minuten Weg zur Arbeit. Und zwar zu Fuß.

 
Melone essen im Garten
Plov-Zubereitung über offenem Feuer (oben) und Schneiden der Zutaten (unten)
Neben einem traditionellen, noch mit echtem Feuer beheiztem Samowar auf dem Dorffest
Niso mit ihrer Mutter Katja
Beim Anheizen des Ofens im Sommerhaus
Hilfsbereite Jungs ziehen mit ihrem Grader unseren Lada Niva zurück auf die Straße

Samstag, 24. August 2019

Vom Fluchen, Lieben und Arbeiten. Unterwegs im Bargusin-Tal



Bevor am ersten September der Arbeitsalltag beginnt, mein fünftes und letztes Unterrichtsjahr hier in Ulan-Ude, statte ich meinem Bekannten Sergej im Bargusin-Tal einen Besuch ab. Auf seinem Bauernhof, gelegen inmitten der weiten Grassteppe an einer Biegung eines der zahlreichen Nebenarme des Bargusin-Flusses, hat sich seit dem letzten Sommer einiges getan. Damals waren mein Vater und ich zu Gast und wussten nicht, wie wir die Nacht überstehen sollten, da im vollgerümpelten Gebäude unerträglicher, stickiger Modergeruch herrschte, uns draußen die Mücken zusetzten und mein Vater das Auto von unruhigen Kühen angegriffen wähnte. Nun kann man das Haus fast schon aufgeräumt nennen, durch regelmäßiges Heizen der drei großen gekalkten Öfen ist der Schimmelgeruch weitgehend verschwunden, und seinen Arbeiter, der im Verdacht stand, die Ziegen heimlich gegen Wodka eingetauscht zu haben und dann ihr Verschwinden mit umherstreifenden Wölfen begründete, hat Sergej inzwischen auch entlassen. Noch fehlt einiges an Arbeit, bis man die große Erholung im Bargusintal vermarkten und deutsche Touristen busweise zu ihm herankarren kann, wie es sich mein Bekannter wünscht, noch liegt das Gewächshaus in Trümmern, ist das Scheunentor herausgebrochen und hängt die Hälfte des Zaunes halb auf der Erde, aber es geht in die richtige Richtung. Sergej ist vierundsechzig und noch sehr agil. Einen Nachfolger gibt es nicht, zu den Kindern seiner zwei geschiedenen Frauen besteht kaum Kontakt, aber er schafft das auch allein. Als ich komme, ruht Sergej sich gerade mit ein paar Aushilfskräften von der Heumahd aus, ein seltener Anblick, gewöhnlich kann er keine zehn Minuten still sitzen.
Mit einem armeegrünen Kleinbus der Marke UAS vom Typ „Tabletka“, so genannt, weil die Erste Hilfe in Russland oft mit genau diesem Fahrzeugtyp unterwegs ist, brechen wir zur Heidelbeerernte in den Wald auf. Dabei hilft uns Mascha, mit der Sergej seit zehn Jahren zusammen ist und die ihren ersten Mann weggejagt hat, nachdem er zeitgleich mit dem Beginn seiner Arbeit bei der Polizei anfing zu trinken; sie rechnet ihm hoch an, dass er nach der Scheidung auf seinen Teil des gemeinsamen Hauses und Grundstücks verzichtete. Jetzt lebt er am anderen Ende Burjatiens zusammen mit einer Burjatin und säuft mit ihr gemeinsam. Außerdem im Kleinbus sitzen Galja und Sascha, die seit ein paar Monaten, seitdem sie auf Sergejs Bauernhof wohnen, nicht mehr trinken, weil es ringsum weit und breit kein Geschäft gibt; sie melken die acht Kühe, füttern Schwein und Ziege und bekommen dafür Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf. Von Mascha werde ich später erfahren, dass Galja zwei Kinder hat, die ihr wegen Verwahrlosung weggenommen und ins Heim gegeben wurden. Und schließlich fährt noch Viktor mit, Maschas Verwandter, der jünger als Sergej ist, aber älter aussieht; kürzlich hat er eine schwere Operation überstanden, bei dem ihm ein Großteil des Magens entfernt wurde, da er eines Morgens zum Ausnüchtern versehentlich ein paar Schlucke aus einer Flasche mit Autobatterie-Flüssigkeit zu sich nahm, in der Annahme, es sei Spiritus.
„Alkoholismus scheint ein Problem zu sein im Bargusin-Tal“, sage ich.
„Der einzige, der hier nicht trinkt, ist der Telegrafenmast“, antwortet Sergej.
Eine halbe Stunde dauert die Fahrt ins Dorf Tschitkan über holprige Feldwege, die ich besonders intensiv spüre, da ich mich in Ermangelung von Sitzen auf dem blanken Metall des Radkastens niedergelassen habe, und danach mit kreischendem Motor hinein in einen Wald, der immer dunkler und dichter wird,  bis irgendwann der Weg so mit jungen Birken zugewachsen ist, dass der Kleinbus auch mit Gewalt nicht weiter vorwärtszuquälen ist. Um zu den Beeren zu gelangen, schlagen wir uns durch das Unterholz bis zu einer sumpfigen, lichten Niederung. Ich verliere nach wenigen Metern völlig die Orientierung und verlasse mich auf meine selbstsicher vorwärts strebenden Begleiter. Die korpulente Mascha kommt nicht so schnell hinterher und bleibt hinter uns zurück. Sergej schimpft, sie solle verdammt nochmal ihre Beine in die Hand nehmen. Mascha schimpft zurück, er solle doch warten, zum Teufel nochmal, woraufhin er mit doppeltem Nachdruck flucht, sie solle die Klappe halten und einfach laufen; irgendwann nach langem Wortgefecht ist Mascha weit hinter uns im Wald und den Tränen nahe. Nach einer Weile hört man nichts mehr. Alle pflücken eifrig Blaubeeren, mit der Hand oder einem Blaubeerkamm. Ich sinne fassungslos dem gerade gehörten Schwall an Mat-Ausdrücken nach, derbste russische Flüche, undenkbar, dass ich auch nur eines dieser Wörter zu meiner Frau sage.
Drei Stunden später habe ich Hunger und keine Lust mehr. „Zu viele Blaubeeren sind schädlich“, versuche ich es mit Humor. Es zeigt sich, dass alle außer Sergej auch ermüdet sind; nach einigem Drängen gibt er nach, wir gehen wohl einen Kilometer durch die Wildnis in eine mir unbegreifliche Richtung und stehen plötzlich wieder am Fahrzeug.
Zuhause angekommen, schlägt Mascha vor, für mich und meine Familie ein paar Gläser Marmelade zu machen, und bittet mich, dafür Zucker zu kaufen, zwölf Kilogramm. Ob es auch etwas weniger süß gehe, wende ich vorsichtig ein. Aber dann wird sie doch schnell schlecht, meint die Hausherrin. Gehorsam mache ich mich auf den Weg in den Supermarkt und bringe gleich noch Brot, Kekse und Schokolade mit. Die Preise sind denen in Deutschland vergleichbar. Fleisch, Milch, Obst, Gemüse und Heu produzieren die beiden selbst und verkaufen gelegentlich auch noch davon: ein geschlachtetes Schwein bringt umgerechnet 500, einer der riesigen, mehrere Tonnen schweren Heuhaufen 1000 Euro.  Das ermöglicht es ihnen, von monatlich 130 € zu überleben, das ist die Hälfte ihrer gemeinsamen Rente. Etwa ebensoviel wird für die Tilgung von Bankschulden gleich abgezogen, noch von vor zehn Jahren, als Sergejs landwirtschaftlicher Großbetrieb bankrott ging.
Abends sitzen wir einträchtig zusammen und reinigen auf Backblechen mit Pinseln die Blaubeeren von Blättern und groben Stielen. Ich glaube nicht, dass die beiden unter sich den Vorfall im Wald noch einmal thematisiert haben. Die alltägliche Emotions-Bandbreite des russischen Menschen ist sehr groß. „Ich liebe meinen Serjozha“, sagt Mascha, ihren Mann bei seinem Kosenamen nennend. „Er ist immer aktiv und trinkt nie viel. Gestern Abend ein halbes Tetrapack Wein, und die andere Hälfte hat er aufgehoben für heute!“
 Eigentlich schade um die schönen Beeren, denke ich, als der für mich vorgesehene halbe Eimer nach und nach in den zwölf Kilo Zucker verschwindet, pur wäre ihr Verzehr bestimmt ganz gesund.
Am nächsten Tag mache ich mich auf, um die Thermalquelle Alla am Nordende des Tals zu besuchen. In der Siedlung Uljun halte ich an, um die malerischen Zweitausender des Bargusin-Gebirges zu fotografieren und eines der zahlreichen großen Schilder, die das Betreten des Waldes aus Gründen der Waldbrandgefahr strengstens verbieten, Strafen von mehreren tausend Rubeln und „24 Stunden Kameraüberwachung“ androhen, völliger Unsinn natürlich, wie überhaupt dieses Gesetz wohl eines derjenigen ist, an die sich ganz offensichtlich niemand hält: wo kommen wohl die vielen Preisel- und Heidelbeeren auf den Märkten her? Bestimmt nicht aus dem Garten. Als ich wieder in meinen Lada Niva steigen möchte, entdecke ich das hinten herunterbaumelnde Kabel mit der für den Anhänger vorgesehenen Steckdose und das lose herabhängende Auspuffrohr. Die sandige, mitunter regelrecht waschbrettartige Holperpiste hat wohl ihren Tribut gefordert. Ein älterer Burjate, der gerade mit dem Fahrrad unterwegs ist, Wodkageruch verströmt, aber dem Auftreten nach nüchtern wirkt, bietet freundlich seine Hilfe an. Flugs ist das Steckdosenkabel gekappt und am Straßenrand ein Stück Draht gefunden, so dass wir den Auspuff festbinden können.
Einige Stunden später atme ich frische Bergluft an einem steilen, aus porösem Granitgestein bestehenden Felshang und schaue über eine bewaldete Schlucht, durch die sich der flache, schnelle Fluss Alla als schmales Band dahinschlängelt. Neben mir sind orange und hellgrüne Flechten, die sich mit schwarzen, abgestorbenen Flechtteppichen abwechseln, dunkelgrüne und grau-vertrocknete Moose, einige kleine Schachtelhälmchen und lila-gelbe Alpenastern. Hinter mir ragen unbegehbare, steile Zacken auf. Selten brummt eine Fliege vorbei, hin und wieder ist ein Vogellaut zu hören, in einiger Entfernung ratscht eine Grille, all dies wird übertönt vom Rauschen des Flusses ein paar hundert Meter weiter unten. Der gegenüberliegende Hang ist mit dunkelgrünen Kiefern bedeckt, an den steilsten Stellen tritt auch dort der blanke Fels hervor. An einer Stelle läuft das Gestein von beiden Seiten zu einem Einschnitt zusammen, in dessen Mitte wie ein silbriger Faden ein Wasserfall herabfällt. Der Grat, in welchem der Hang nach oben hin endet, fällt nach links unten hin ab und gibt den Blick frei zum Ende der Schlucht und in das dahinterliegende breite Bargusintal, auf dessen hier bewaldete Ebene einzelne Wolken dunkle Schatten werfen; dahinter schimmern in der Abendsonne die sanft gewölbten Hügel des Ikatski-Bergrückens. Nach rechts hin schwingt sich der Grat zu den schmalen, zackigen Gipfeln des Bargusin-Gebirges auf, mit der Entfernung verwandelt sich das Grün der Vegetation in blasses Blaugrün und Blaugrau. Irgendwo dahinter, zwei oder drei Tagesmärsche entfernt, liegt der Baikalsee.
Abends nehme ich ein Bad in der nahen Thermalquelle am Flussufer. In eine bröckelige, rissige, oben offene Betonruine wurde offenbar nachträglich eine Art Saunahäuschen aus Rundbalken eingebaut, wo sich das Becken mit dem aus der Tiefe aufsteigenden, heißen und nach Schwefel riechenden heilenden Wasser befindet. Wie es der buddhistische Brauch verlangt, sind in die Sträucher daneben leuchtend farbige Tücher geknotet; auf Steinen oder dem Geländer der zur Quelle hinabführenden Holztreppe liegen Münzen, Konfekt oder Zigaretten als Opfergabe. Die Nacht verbringe ich im Zelt, am Morgen steige ich wieder ins Thermalbecken. An einigen großen, runden Ufersteinen im Freien, an denen ebenfalls heißes Wasser austritt, ist mit blauer Farbe die Heilwirkung vermerkt, „für die Leber“ oder „für die Augen“ steht dort geschrieben.
Auf dem Rückweg nach Bargusin verlasse ich die längs des Bergrückens entlangführende Straße und steuere das winzige Dorf Garga an. Einen sonnengebräunten Burjaten mit nacktem Oberkörper frage ich nach der Garginski-Thermalquelle, die es hier in der Nähe am Fluss geben soll.
„Ein Deutscher, ich glaub es nicht“, lallt der stark angetrunkene Mann, umfasst torkelnd meinen Oberkörper und holt sein Smartphone für ein Foto hervor. Dann schaut er mitleidig auf meinen Geländewagen.
„Mit so einem Auto kommst du da nie an. Da führt keine Straße mehr hin und die Brücke ist auch kaputt. Vierzig Kilometer sind das, es geht nur mit dem Traktor. Ich ruf gleich mal meine Kumpels an, die bringen dich hin!“
Ich vertröstete den hilfsbereiten Burjaten auf das nächste Mal und verabschiedete mich.
Noch einmal fahre ich bei Sergej und Mascha in Bargusin vorbei, um dort die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Ulan-Ude zu verbringen und die inzwischen fertige Marmelade abzuholen. Sergej freut sich über mein Geschenk aus Deutschland, eine Schnittschutz-Jacke zum Arbeiten mit der Motorsäge, leuchtend orange mit schwarzem Markenaufdruck „STIHL“, sicher ist er damit der einzige im ganzen Tal und wird nun ein bisschen angeben. Auf meine Bitte hin schaut er sich meinen Lada aufmerksam unter der Motorhaube und von unten an, schraubt hier und da etwas fest, bindet herumschlackernde Elemente an ihren Platz zurück und befestigt das Auspuffrohr etwas zuverlässiger, als der freundliche Burjate mit dem Fahrrad es unterwegs getan hatte. Bei allem, was mit Metall zu tun hat, erlebe ich Sergej als virtuosen Könner und Improvisator.
Zum Ausklang des Abends bastelt sich mein Bekannter eine Zigarette aus Tabak zum Selbstdrehen, auch ein Mitbringsel von mir; mit den zarten weißen Papers dazu kann er nichts anfangen und greift nach Zeitungspapier, von dem er geübt einen Streifen abreißt und einrollt. Am Ende wird ein Stück als Filter zusammengedrückt und seitlich abgeknickt, „Ziegenfuß“ heißt so eine Zigarette im Volksmund. Wir sitzen im Innenhof neben dem Haus, Sergej sinniert über seine Arbeit als Dreher, die er in der Werkzeugefabrik der Stadt mit großer Kunstfertigkeit ausgeübt und dafür eine Urkunde „Bester Arbeiter Burjatiens in seinem Beruf“ bekommen hatte, noch zu Sowjetzeiten. Bücher und Lesen haben ihn nie interessiert, sagt er und reicht mir das Smartphone seiner Frau, um sich zeigen zu lassen, wo man drücken muss, damit das Internet erscheint.
Der Sternenhimmel erscheint über uns. Sergej wirft seine Kippe in eine große Metalltonne. „Das ist mein Aschenbecher“, sagt er und lacht, „wenn der voll ist, dann ist mein Leben zu Ende!“

Am nächsten Morgen breche ich zeitig auf Richtung Süden. Entlang der fünfzig Kilometer zwischen Bargusin und Ust-Bargusin sind weite Schneisen in den Wald gerodet, irgendwann wird es hier eine breite, gerade Straße und Asphalt geben, vielleicht in zehn Jahren, wenn man das Tempo zugrunde legt, mit dem hier gewöhnlich gebaut wird. In Ust-Bargusin schaue ich für ein kurzes Gespräch bei Alexander Beketov vorbei. Der ehemalige Nationalpark-Ranger soll mir helfen, eine Winterhütte am Ufer des Baikalsees zu finden, für meinen Freund Simon, der dort im nächsten Februar zwei Wochen echtes Alleinsein erleben möchte. Der Franzose Sylvain Tesson probierte genau das ein halbes Jahr lang aus und schrieb darüber ein berühmtes Buch; der Deutsche Werner Beck lebte ein Jahr lang in einer eigens am Ufer aufgestellten Jurte und schrieb darüber ein wohl weniger berühmtes Buch. Nun ist also Simon an der Reihe, auch wenn sich zwei Wochen natürlich vergleichsweise bescheiden ausnehmen. Dreißigtausend Rubel wäre er zu zahlen bereit, inklusive Hinbringen und Abholen mit dem Auto über den gefrorenen See.
Beketov begrüßt mich mit Zurückhaltung, kommt sofort zur Sache und spricht wie jemand, der den Umgang mit Reisenden aus dem Westen gewohnt ist, ihre Wünsche und finanziellen Möglichkeiten kennt und Berufliches und Privates strikt trennen kann. „Solche Anfragen kommen öfters von Deutschen oder Franzosen“, sagt er zu meiner Verwunderung, hatte ich doch mein Anliegen für ein ganz außergewöhnliches gehalten. „Aber ich muss sie alle ablehnen. Die wirklich einsamen Stellen der Küste sind alle im Schutzgebiet, da bekommt niemand eine Genehmigung und es stehen keine Winterhütten mehr. Und dort, wo vom Nationalpark unterhaltene Unterkünfte sind, drängen sich im Winter die Touristen und es gibt alles andere als Einsamkeit. Gerade Deutsche. Dutzende! Und dreißigtausend kostet allein der Transport, also zwei Tage Auto mit Fahrer.“
Am Baikalufer sähe es schlecht aus, aber ansonsten könne er weiterhelfen, mit einer Hütte in wunderschöner Lage, sogar Strom gäbe es, aber ansonsten – echte Abgeschiedenheit. Im Bargusintal, in der Nähe von Uljun. Bergkulisse, Taigawald und Steppenaussicht! Da bin ich gerade vorbeigefahren, antworte ich, tatsächlich eine malerische Gegend, ich werde es meinem Freund vorschlagen.

Beim Heumachen
Sergejs Landgut, vom Heuhaufen aus fotografiert
Sergej und Mascha in ihrem Haus in Bargusin
Imbiss im Wald nach der Heidelbeerernte
"Betreten des Waldes verboten" - Schild in Uljun
Hier geht es zur Thermalquelle Alla
An den Steinen am Flussufer tritt heißes Wasser aus den Tiefen der Erde. In der Hütte ist ein Becken, in dem man in dem heilenden Thermalwasser ein Bad nehmen kann
Auf dem Teller werden nach burjatischem Brauch Opfergaben für die örtlichen Geister abgelegt
Ein Bauernhof vor der Kulisse des Bargusin-Bergrückens. Der Baikalsee liegt dahinter

Freitag, 23. August 2019

Treffen sich drei Männer

 
Treffen sich ein Mann mit einem Strick, ein Mann mit einer Axt und ein Mann mit einem Messer.
„Ich spreche noch schnell das Gebet“, sagt der Mann mit dem Strick, murmelt ein paar Worte, führt die zusammengelegten Handinnenflächen am Gesicht vorbei und fasst den Strick so, dass der Kopf der darangebundenen Kuh kaum noch Bewegungsspielraum hat.
Gibt der Mann mit dem Strick dem Mann mit der Axt ein Zeichen.
Holt der Mann mit der Axt mit seiner Axt aus und hält im letzten Moment inne: die Kuh wirft ihren Kopf unruhig hin und her, so dass er nicht treffen würde.
„Verdammte Scheiße“, sagt der Mann mit der Axt.
Führt der Mann mit dem Strick die Kuh zum Zaun und wickelt den Strick um einen Pfosten, so dass der Kopf der Kuh nun wirklich nirgendwohin mehr ausweichen kann.
Haut der Mann mit der Axt die stumpfe Seite seiner Axt der Kuh mit voller Wucht zwischen die Augen. Ein kurzes Knirschen und Röcheln, dann plumpst der schwere Leib der Kuh in die Brennnesseln.
„Allahu akbar“, ruft der Mann mit dem Strick, der den Strick inzwischen losgelassen hat. Auch der Mann mit der Axt hat seine Axt auf die Erde fallen lassen.
Nimmt der Mann mit dem Strick ein großes Messer zur Hand, schneidet der Kuh die Kehle durch und hält ein kleines Metallschälchen unter den Hals, wohinein das Blut läuft.
Schöpft der Mann das Blut in einen kleinen Metalltank, Teller um Teller, viele Liter. Die Kuh zuckt und schlägt mit den Beinen um sich.
Schneidet der Mann mit dem Strick, der inzwischen ein Messer in der Hand hat, der Kuh den Hals bis zur Wirbelsäule durch. Erst dann gibt die Kuh Ruhe und hört auf zu zucken.
Haben der Mann mit dem Strick, der Mann mit der Axt und der Mann mit dem Messer inzwischen alle drei ein Messer und machen sich an der Kuh zu schaffen. Viel Zeit bleibt nicht mehr bis zur Dunkelheit, und außerdem nerven die Mücken.
Schneiden sie der Kuh die untere Hälfte der Beine ab, schlitzen den Bauch auf und trennen das Fell vom Rest, dann stößt der Mann mit dem Messer sein Messer in einen der Mägen, aus dem mit langgezogenem Furzgeräusch stinkende Gase entweichen. Alle drei sind mit den Köpfen nach unten gebeugt und so beschäftigt, dass der Ausländer neben ihnen, der weder Strick noch Axt noch Messer hat, dafür aber einen Fotoapparat, zwischendurch immer wieder ein paar Fotos machen kann, ohne dass sie es merken.
Stößt der Mann mit der Axt, der zwischendurch wieder seine Axt genommen hat, um der Kuh den After aufzuhacken, einen Fluch aus: aus Versehen hat er in den Darm gehauen, aus dem nun eine Masse widerlichen Anblicks entweicht.
Gibt ihm der Mann mit dem Strick einen kleinen Strick, damit er den Darm wieder zubinden kann.
Hängt der Mann mit dem Messer das abgetrennte Euter und die Leber an einen der Zaunpfähle.
Wälzen die drei Männer mit vereinten Kräften das riesenhafte Innereienpaket auf die Seite und schneiden den Magen auf, aus dem viele Eimer saftigen grünen Grases hervorquellen.
„Verdammt“, sagt der Mann mit der Axt, „schlachten soll man morgens und nicht abends, wenn die Viecher den Wanst voll haben!“
Zerlegen die Männer die Kuh in kleinere Teile, die gerade so zwei von ihnen anheben können, und werfen diese mit Schwung auf die Ladefläche des bereitstehenden Lastwagens. Ein paar kleinere saftige Stücke landen in einem Eimer. Statt Rubel, die nie pünktlich und vollständig gezahlt werden.
Eine gute halbe Stunde hat es gedauert, inzwischen ist es dunkel und die Mücken sind für die drei Männer kaum noch auszuhalten.
„Este? Litauer?“, hebt der Mann mit dem Messer den Kopf und fragt den Ausländer zum ersten Mal etwas. „Was stehst du so ruhig da? Stören dich die verfluchten Mücken nicht?“
„Deutscher.“ Der Ausländer schüttelt den Kopf.
„Toller Kerl. Solche Leute brauchen wir hier!“, sagt der Mann mit dem Messer.
Der Mann mit der Mann mit dem Strick nimmt seinen Strick, der Mann mit der Axt seine Axt und der Mann mit dem Messer sein Messer. Der Lastwagen mit dem Fleisch der ehemaligen Kuh fährt davon.
Der Ausländer steckt seinen Fotoapparat in die Tasche und fährt mit dem Mann mit dem Strick nach Hause.

Auf meinen Wunsch hin nahm mich mein Schwiegervater mit auf seine Arbeitsstelle, einem Landwirtschaftsbetrieb in der Nähe von Jelan, wo ich beim Schlachten einer Kuh zuschauen durfte.