Sonntag, 18. Oktober 2015

Zwei Celli



Mein täglicher Weg zur Arbeit führt am Burjatischen Opern- und Ballett-Theater vorbei. Gelegentlich betrete ich das Gebäude – manchmal durch den Vorder- und manchmal durch den Hintereingang. Letzteres war neulich der Fall, als ich den besten und renommiertesten Geigenbauer der Stadt aufsuchte, um mein Cello reparieren zu lassen. Er heißt Sergei Georgiewitsch und ist der beste Mann seines Faches hier schon allein deshalb, weil er der einzige ist. Fünfzig Jahre lang war er im Opernorchester als Geiger angestellt, jetzt arbeitet er nur noch als Klavierstimmer und führt seine kleine Werkstatt in einem der Künstler-Räumlichkeiten im Operngebäude weiter. Ich brachte ihm mein von der Dirigenten-Tochter Marina ausgeliehenes Instrument, um dort die Stimme einsetzen zu lassen – ein Fachbegriff für ein kleines Hölzchen, was im Inneren des Instrumentes zwischen Boden und Decke sitzen muss und überhaupt erst den richtigen Klang ermöglicht.
Sergej Georgiewitsch, ein über 60jähriger Mann mit wachen Augen und leicht zittrigen Händen, stellte mir keine Fragen nach meinem Woher und Warum als Deutscher in Ulan-Ude, wie ich sie sonst oft zu hören bekomme, sondern erzählte Geschichten aus der Vergangenheit des Orchesters, von begnadeten Dirigenten, betrunkenen Kontrabassisten und besseren Zeiten, als es noch monatlich vier konzertante Auftritte im Gebäude der Philharmonie gab, die irgendwann aus finanziellen Gründen gestrichen wurden. Nebenbei klopfte er behutsam den Rand meines Instrumentes ab, stellte fest, dass sich über weite Strecken die Verleimung gelöst hatte, und setzte die Stimme ein, wobei er über das schlechte chinesische Werkzeug schimpfte, das ihm allein zur Verfügung stand. Er erklärte mir genau, wie die Position der Stimme den Klang beeinflusst und bot mir an, das Cello gleich bei sich zu behalten, um in den nächsten Tagen die Verleimung zu erneuern.
Inzwischen hat sich bei mir noch ein zweites Cello angefunden. Ich habe es von Tatjana Samchoeva ausgeliehen, einer Cellistin des Operntheaters. Als ich es bei ihr zuhause leihweise abholten wollte, stellte sich heraus, dass sie es am liebsten verkaufen möchte. Tatjana ist eine schon ältere Dame, es war nur ihr Zweitinstrument, und sie brauchte gerade Geld, um ihrer in Moskau wohnenden Tochter ein Zugticket in die Heimat zu kaufen. Preis 35000 Rubel, inclusive Instrumenten-Pass mit Fotos und genauer Beschreibung: ohne dieses Dokument kann es an der Grenze Schwierigkeiten geben, denn der russische Zoll wacht darüber, dass Ausländer nicht wertvolles Kulturgut entführen. 500 Euro – das ist für ein ordentliches Cello nicht viel. Ich erbat mir Bedenkzeit.
Ein wenig war ich von der Begegnung mit Tatjana enttäuscht. Ich hatte mir erhofft, mit ihr Tee zu trinken und über Bach, das Leben und die Musik zu philosophieren, aber sie wollte eigentlich nur ihr Cello verkaufen und, da ich es nur leihweise mitnahm, sich von meiner Seriosität überzeugen. Dazu verhalf mir dann meine Visitenkarte: Burjatische Staatliche Universität und so, das klingt nach etwas. „Vertraust du uns nicht?“, fragte mich dann wiederum ihr Mann, Fagottist im gleichen Orchester, als ich den Pass und das Instrument genauer betrachtete. Sich einen Verhandlungsgegenstand genauer anzusehen, galt für ihn anscheinend als Zeichen von Misstrauen. So zahlte ich kurzerhand 3000 Rubel als Miete für drei Monate im Voraus (wie auch schon für das erste Instrument), machte mich auf den Heimweg und erzeugte voller gespannter Erwartung in meiner Wohnung die ersten eigenen richtigen Töne.
Äußerlich total heruntergekommen, verschrammt und mit offenen Stellen, das Griffbrett holperig, wie als hätte es jemand mit einem Hammer behandelt – der Zustand von Tatjanas Cello ist wohl typisch für viele Streichinstrumente fernab ihrer kulturellen europäischen Heimat. In meiner Wohnung fand ich eine Flasche Herrenparfum, von einem unbekannten Vorgänger hinterlassen, und polierte damit zunächst eine halbe Stunde das völlig verdreckte Griffbrett. Nicht nur die Optik zeugt von seiner Geschichte, sondern auch der Klang, allerdings im positiven Sinne: das Cello klingt abgerundet und eingespielt, wärmer als meines (das sich nunmehr in Leipzig in den treuen Händen meiner Mutter befindet).
Heute Abend werde ich das Opernhaus mit einer Freikarte von Maxim in der Hand durch den Vordereingang betreten: „Fürst Igor“ von Borodin erwartet mich, bestes, klassisches, russisches Standardrepertoire.