Mein täglicher Weg zur Arbeit
führt am Burjatischen Opern- und Ballett-Theater vorbei. Gelegentlich betrete
ich das Gebäude – manchmal durch den Vorder- und manchmal durch den
Hintereingang. Letzteres war neulich der Fall, als ich den besten und
renommiertesten Geigenbauer der Stadt aufsuchte, um mein Cello reparieren zu
lassen. Er heißt Sergei Georgiewitsch und ist der beste Mann seines Faches hier
schon allein deshalb, weil er der einzige ist. Fünfzig Jahre lang war er im
Opernorchester als Geiger angestellt, jetzt arbeitet er nur noch als
Klavierstimmer und führt seine kleine Werkstatt in einem der
Künstler-Räumlichkeiten im Operngebäude weiter. Ich brachte ihm mein von der
Dirigenten-Tochter Marina ausgeliehenes Instrument, um dort die Stimme
einsetzen zu lassen – ein Fachbegriff für ein kleines Hölzchen, was im Inneren
des Instrumentes zwischen Boden und Decke sitzen muss und überhaupt erst den
richtigen Klang ermöglicht.
Sergej Georgiewitsch, ein über
60jähriger Mann mit wachen Augen und leicht zittrigen Händen, stellte mir keine
Fragen nach meinem Woher und Warum als Deutscher in Ulan-Ude, wie ich sie sonst
oft zu hören bekomme, sondern erzählte Geschichten aus der Vergangenheit des
Orchesters, von begnadeten Dirigenten, betrunkenen Kontrabassisten und besseren
Zeiten, als es noch monatlich vier konzertante Auftritte im Gebäude der
Philharmonie gab, die irgendwann aus finanziellen Gründen gestrichen wurden.
Nebenbei klopfte er behutsam den Rand meines Instrumentes ab, stellte fest,
dass sich über weite Strecken die Verleimung gelöst hatte, und setzte die
Stimme ein, wobei er über das schlechte chinesische Werkzeug schimpfte, das ihm
allein zur Verfügung stand. Er erklärte mir genau, wie die Position der Stimme
den Klang beeinflusst und bot mir an, das Cello gleich bei sich zu behalten, um
in den nächsten Tagen die Verleimung zu erneuern.
Inzwischen hat sich bei mir noch
ein zweites Cello angefunden. Ich habe es von Tatjana Samchoeva ausgeliehen,
einer Cellistin des Operntheaters. Als ich es bei ihr zuhause leihweise abholten wollte, stellte
sich heraus, dass sie es am liebsten verkaufen möchte. Tatjana ist eine schon
ältere Dame, es war nur ihr Zweitinstrument, und sie brauchte gerade Geld, um
ihrer in Moskau wohnenden Tochter ein Zugticket in die Heimat zu kaufen. Preis 35000 Rubel, inclusive Instrumenten-Pass mit
Fotos und genauer Beschreibung: ohne dieses Dokument kann es an der Grenze
Schwierigkeiten geben, denn der russische Zoll wacht darüber, dass Ausländer
nicht wertvolles Kulturgut entführen. 500 Euro – das ist für ein ordentliches Cello nicht viel. Ich erbat mir Bedenkzeit.
Ein wenig war ich von der
Begegnung mit Tatjana enttäuscht. Ich hatte mir erhofft, mit ihr Tee zu trinken
und über Bach, das Leben und die Musik zu philosophieren, aber sie wollte
eigentlich nur ihr Cello verkaufen und, da ich es nur leihweise mitnahm, sich
von meiner Seriosität überzeugen. Dazu verhalf mir dann meine Visitenkarte:
Burjatische Staatliche Universität und so, das klingt nach etwas. „Vertraust du
uns nicht?“, fragte mich dann wiederum ihr Mann, Fagottist im gleichen
Orchester, als ich den Pass und das Instrument genauer betrachtete. Sich einen
Verhandlungsgegenstand genauer anzusehen, galt für ihn anscheinend als Zeichen
von Misstrauen. So zahlte ich kurzerhand 3000 Rubel als Miete für drei Monate
im Voraus (wie auch schon für das erste Instrument), machte mich auf den
Heimweg und erzeugte voller gespannter Erwartung in meiner Wohnung die ersten
eigenen richtigen Töne.
Äußerlich total heruntergekommen,
verschrammt und mit offenen Stellen, das Griffbrett holperig, wie als hätte es
jemand mit einem Hammer behandelt – der Zustand von Tatjanas Cello ist wohl
typisch für viele Streichinstrumente fernab ihrer kulturellen europäischen
Heimat. In meiner Wohnung fand ich eine Flasche Herrenparfum, von einem
unbekannten Vorgänger hinterlassen, und polierte damit zunächst eine halbe
Stunde das völlig verdreckte Griffbrett. Nicht nur die Optik zeugt von seiner
Geschichte, sondern auch der Klang, allerdings im positiven Sinne: das Cello
klingt abgerundet und eingespielt, wärmer als meines (das sich nunmehr in
Leipzig in den treuen Händen meiner Mutter befindet).
Heute Abend werde ich das
Opernhaus mit einer Freikarte von Maxim in der Hand durch den Vordereingang
betreten: „Fürst Igor“ von Borodin erwartet mich, bestes, klassisches,
russisches Standardrepertoire.