Mittwoch, 21. Oktober 2015

Müll



An meinem Haus gibt es nicht nur keine Mülltrennung, sondern auch keine Mülltonnen. Um den Abfall wegzubringen, gehe ich zwei Häuserzeilen weiter und werfe ihn in einen der Metallcontainer, die einem Spielplatz gegenüber aufgestellt sind. Manchmal sieht es dort ganz ordentlich aus, und manchmal furchtbar: der Müll liegt nicht in, sondern neben den Containern und wird von Hunden, Krähen und heruntergekommenen Gestalten durchsucht, die sich dort anscheinend noch etwas Brauchbares erhoffen.
Das Zentrum von Ulan-Ude macht insgesamt einen recht sauberen Eindruck. Auf meinem morgendlichen Arbeitsweg sehe ich Reinigungskräfte in orangenen Westen, die mit Reisigbesen die Straße oder den Bordstein fegen. Jogge ich allerdings eine Runde stadtauswärts, dorthin, wo die fünfgeschossigen steinernen Chruschtschovkas kleineren Holzhäusern weichen, komme ich an regelrechten wilden Müllhalden vorbei. Auch nach 10 Jahren Russlandgewöhnung kann ich nicht verstehen: Warum zum Teufel stört die Leute das nicht? Wie kann man nur neben einem ekelhaften Berg von Metallschrott und Plastikabfällen wohnen, vom Wind breitgeweht und von lausigen Kötern zerwühlt? Es muss zu tun haben mit der strikten Trennung von privatem und öffentlichem Raum. Der Privatraum beginnt hinter dem hohen Holzzaun. Der öffentliche Raum davor ist Niemandsland, er interessiert nicht. Im Zentrum nimmt sich die Stadtverwaltung seiner an und macht ihn schick, damit er repräsentativ und vorzeigbar aussieht. Etwas weiter außerhalb hört das Bewusstsein für öffentliche Sauberkeit auf.
Manchmal allerdings sind auch die Zustände hinter dem hohen Holzzaun gruselig. Am letzten Wochenende bin ich mit Maxim zur Datsche gejoggt, die ihm und seiner Mutter gehört, in der Datschensiedlung „Frühling“ auf der anderen Flussseite. In den Holzhäusern mit Gartengrundstück darum wohnt man in der Regel im Sommer, manche Leute auch ganzjährig. Auf dem Hinweg kamen wir an einigen toten Hunden vorbei, die am Rande des staubigen Weges lagen. „So etwas gab es nicht mal im Krieg“, schimpfte ein altes Mütterchen vor sich hin. „Unter der Sowjetmacht war so etwas nicht möglich!“ – „Wahrscheinlich vergiftet“, meinte Maxim und zuckte die Achseln. Er hatte mich schon darauf vorbereitet, dass der Garten seiner Datsche sehr verwildert sei, in den letzten Jahren hatten weder er noch die Mutter Zeit, dort etwas zu tun. Ich freute mich darauf, einen Ort zu finden, um etwas Gartenarbeit machen zu können. Maxim griff durch ein Loch in der Tür, zog einen sich auf der anderen Seite befindlichen Nagel heraus, und wir betraten das Grundstück: ziemlich zugewuchert, zwei Glas-Gewächshäuser, außer der Datsche noch ein Banja-Häuschen, in der Mitte ein Brunnenloch mit mechanischer Pumpe. „Du kannst hier im Garten arbeiten und wohnen, wenn Du willst“, sagte Maxim, „Strom können wir dir noch legen.“ – „Mal sehen“, erwiderte ich, „vorher muss erstmal das alles hier weg“, und wies auf einen verrottenden Sessel, einen schrottigen Kühlschrank, Glasscherben, undefinierbare Metall- und stinkende Polsterteile und weitere nicht beschreibbare gammelige Relikte wahrscheinlich noch aus Vorkriegszeiten, die sich neben dem Eingang auftürmten. „Vielleicht fangen wir gleich mal an?“ Mein Freund fand die Idee nicht schlecht, und so stellten wir einen Teil an den Weg, wo es die angeblich tatsächlich existierende Müllabfuhr mitnehmen sollte. Ich schaute mich weiter um, öffnete die Tür zur Garage und schloss sie gleich wieder, hochgradig angewidert. Maxim verstand meinen Gesichtsausdruck. „Ja, da drin sind auch paar alte Dinge, das machen wir dann das nächste Mal…“
Die russische Bevölkerung hat die regelmäßige Heimsuchung durch Wirtschaftskrisen so im Blut, dass Dinge oft nicht weggeworfen werden - man könnte sie ja noch einmal gebrauchen. Das sehe ich auch bei mir am Institut. Hinter seit Jahren nicht geöffneten Schranktüren türmen sich verstaubte Zeitschriftenjahrgänge aus den 90er Jahren, zehn Jahre alte deutsche Verlagsprospekte und aktuelle Adressverzeichnisse deutscher Unis von 2007. Schlimmer noch finde ich altes landeskundliches Material und Uralt-Wörterbücher, die einem Studenten zuzumuten einfach verboten ist. Manchmal, wenn gerade keiner hinschaut, nehme ich einen Stapel und lasse ihn in der Mülltonne hinter dem Haus verschwinden.
Wenn ich Russen auf das Müllproblem anspreche, schütteln sie in der Regel den Kopf und stimmen mir zu: jaja, das ist schlimm bei uns. Vielleicht ist das Land einfach zu groß, als dass Umweltbewusstsein entstehen konnte. Leider sieht es auch am Baikalsee in der Nähe der Dörfer oft nicht so schön aus. Wenn ein Ort vermüllt ist, dann geht die nächste Feriengruppe 100 Meter weiter, da ist es dann sauber – bevor die Gruppe da war.