Sonntag, 18. Oktober 2015

Nach Moskau oder aufs Dorf


Um vier Uhr morgens wachte ich in meinem Moskauer Hotelzimmer auf und war hellwach – eine Folge der fünf Stunden Zeitverschiebung zu Ulan-Ude. Ich setzte mich in ein 24 Stunden geöffnetes Café der in Russland sehr populären Schokoladniza-Kette neben der Metro-Station Oktjabrskaja, gönnte mir einen Cappuccino mit doppeltem Schuss Espresso und las eine Erzählung von Lutz Seiler. Ich bin schließlich als Kulturmittler hier und sollte mich in der aktuellen deutschen Literatur auskennen, dachte ich, zwischendurch aus dem Fenster schauend, wo über der achtspurigen Hauptstraße langsam der Tag anbrach.
Das Treffen mit meinen Kollegen aus ganz Russland fand im Goethe-Institut statt, ein klobiger Betonbau im Gebäudekomplex der Botschaft, dem bunte Flächen etwas von seiner Tristesse nehmen. Der Chef der Außenstelle unserer Organisation erzählte spannende Dinge über die Entwicklung des russischen Bildungssystems und die Rolle der deutschen Sprache, deren Bedeutung in der letzten Zeit zugunsten des Englischen abgenommen hat. Aber es gibt Hoffnung: Putin persönlich hat einen Erlass unterzeichnet, wonach in den Schulen wieder eine zweite Pflicht-Fremdsprache eingeführt werden soll. Und das wird in den meisten Fällen wohl Deutsch werden.
Auch der Leiter der Kulturabteilung der Deutschen Botschaft gab sich uns die Ehre. Er war gut drauf und wirkte leicht amüsiert. „Machen Sie sich nichts vor, Sie werden beobachtet“, sagte er, „denken Sie bloß nicht, sie wären nicht wichtig genug. Wahrscheinlich werden wir auch hier abgehört. Viele Grüße an unsere Freunde vom FSB!“ Er winkte in den Raum hinein, unseren unsichtbaren Zuhörern entgegen. „Enthalten Sie sich negativer Äußerungen über das System und die Kirche. Und fahren Sie nicht auf die Krim!“ Die Krim gilt als „okkupiertes Territorium“, Deutschland gewährt seinen Staatsbürgern dort keinen „konsularischen Schutz“. Für die Krim ist – aus offizieller deutscher Sicht – nach wie vor die ukrainische Regierung in Kiew zuständig, die dort aber in der Praxis nichts mehr zu sagen hat.
Nach dem Ende des Seminars war ich total müde, geschafft vom vielen Sitzen und Kaffetrinken. Ich ging den Lenin-Prospekt zum Hotel zu Fuß zurück, 10 Kilometer lang: eine beeindruckende, breite Straße, gesäumt von majestätischen zehngeschossigen Stalinbauten, auf halber Strecke das gigantomanische Juri-Gagarin-Denkmal.
Putins Plan der Einführung einer zweiten Fremdsprache hat auch ganz praktische Folgen für den Uni-Betrieb an meinem Institut. Es müssen dringend mehr Deutschlehrer ausgebildet werden, um den entstehenden Mehrbedarf zu decken. Zufällig war ich dabei, als unsere Lehrstuhlleiterin dafür Nachwuchs rekrutierte. Bis nächsten September können Studenten, die eigentlich Englisch studieren, zusätzlich eine Deutschausbildung bekommen. Kostenlos! Bedingung: Sie arbeiten nach Ende des Studiums als Deutschlehrer drei Jahre auf einer burjatischen Dorfschule. Wenn nicht, müssen sie die Extra-Kurse nachträglich bezahlen. Kostenlose Zusatzausbildung, drei Jahre gesicherter Arbeitsplatz, was spricht dagegen? Nichts. Die Lehrstuhlleiterin ließ eine Liste herumgehen, in die sich die Studenten einschreiben sollten. Einige reichten die Listen an ihre Nachbarn weiter, ohne sich einzuschreiben. „Sie wollen nicht? Warum? Was haben Sie für Argumente?“ Jeder der Abweichler musste sich begründen. Einige grinsten. „Ich will überhaupt nach Moskau und nicht aufs Dorf“, war die amüsierte Antwort. „Lieben Sie Ihre Heimat nicht? Na gut, dann Bedenkzeit bis übermorgen!“ Am Ende kam die erforderliche Mindest-Gruppengröße tatsächlich zusammen – echt russische Entscheidungsherbeiführung ohne großes demokratisches Brimborium.
Kürzlich habe ich in der Internationalen Abteilung meinen Pass abgegeben und einen Tag später wieder abgeholt: ein neues Visum ist darin, gültig bis Oktober 2016, mehrfache Ein-und Ausreisen möglich. Die Beobachtung meiner Person hat wohl meine Unschädlichkeit für den russischen Staat ergeben, soll er bleiben, wenn er will.
In einer Moskauer U-Bahn-Station
Blick Richtung Christi-Erlöser-Kirche und Peter-der-Große-Denkmal

Moskauer Skyline vom Speisesaal des Hotels "Warschawa"