Mittwoch, 14. Oktober 2015

Auf Wahrheitssuche zwischen Russland und dem Westen


Ich bin kein Mensch, der gern politische Positionen einnimmt und verteidigt. Von Berufs wegen widme ich mich der Sprache, philosophiere ueber Grammatik und grüble über pädagogische Probleme. In der Freizeit hängt mein Herz an den schönen Künsten und der Natur, ich gehe ins Theater, mache Musik und wandere in den Bergen. Was die aktuelle Auseinandersetzung Russlands mit dem Westen betrifft, komme ich an der Politik aber nicht ganz vorbei, und es bereitet mir mehr Kopfzerbrechen als Freude.
Seit nunmehr 10 Jahren bereise ich Russland, und in dem kleinen, beschränkten Bereich meines persönlichen Erlebens finde ich, dass sich durchaus vieles zum Besseren gewandelt hat. Autos halten neuerdings an Zebrastreifen an, Fahrer bitten mich darum, mich anzugurten, und es wird auf Geschwindigkeitsbeschränkungen geachtet. Der Fernverkehr modernisiert sich und wird komfortabler, die Züge sauberer, die Ticketbeschaffung einfacher. In staatlichen Behoerden hält so etwas wie Kundenfreundlichkeit Einzug. Die Bemühungen um eine “gesunde Nation” sind spürbar, Zigaretten sucht man in den Auslagen der Geschäfte vergeblich und sie kommen nur auf Nachfrage unter einer Klappe zum Vorschein. Die Statistik sagt, dass der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol sinkt und die Bevölkerung wieder zunimmt.
In den westlichen Medien  ist “Putins Imperium” fast so etwas wie das “Reich des Bösen”, der Inbegriff konservativer Rückstaendigkeit, das Feindbild von NATO und EU, die dunkle Gegenseite der freiheitlich-demokratischen Globalisierung. Warum?  Weil Russland die Krim “annektiert” hat? In Kiew gab es einen militanten antirussischen Putsch, dem die Machthaber auf der Krim nicht gefolgt sind und die Bevölkerung auch nicht, wie das Referendum mit überwältigendem Ergebnis zeigt. Weil es nur eine wichtige Partei und einen starken Mann an der Spitze gibt statt einer Vielzahl von sich gegenseitig argumentativ zerfetzenden und einander ablösenden Parteien? Putin ist eine kompetente Führungsfigur, die das Land in den letzten 15 Jahren maßgeblich vorangebracht hat. Weil Homosexuelle nicht heiraten dürfen? Der Fortbestand der Menschheit ist nun einmal daran geknüpft, dass sich Mann und Frau zusammentun, und um das zu schützen, dafür ist die Ehe da. Soviel in Kürze zu typisch russischen Positionen in einigen Kernfragen.
Am Samstag Abend lief ich diskutierend mit meinem Bekannten Maxim durch die Schlafstadt Katjuschka, eine halbe Elekritschka-Stunde nördlich von Moskau. Meine ukrainische Bekannte findet, dass Russland ein gefräßiges Ungeheuer ist, das die Grenzen der Nachbarstaaten nicht akzeptiert und sich ständig neue Gebiete einverleiben will, sagte ich. So ein Unsinn, meinte Maxim, die Krim und die Ostukraine gehoeren historisch zu Russland, Putin hat die Krim nur zurückgeholt, wo sie hingehoert. Die ganze Expansion Russlands über den Ural hinaus seit dem 16. Jahrhundert war doch ein Eroberungsfeldzug auf Kosten der sibirischen Ureinwohner, sagte ich. Wo hast du diesen Blödsinn her, die kleinen Völker sind der Russischen Föderation in den meisten Fällen freiwillig beigetreten, sie haben den Zaren um Anschluss ersucht, antwortete Maxim. Ich: Du hast ja keine Ahnung von Geschichte, im Kaukasus, in Burjatien, im Fernen Osten, auf Kamtschatka gab es jahrzehntelangen blutigen Widerstand gegen die Russen. Maxim: Die russische Nationalitätenpolitik hat sich immer durch Großzügigkeit und Toleranz ausgezeichnet, Russland hat die nationalen Besonderheiten geachtet und den Völkern technischen Fortschritt gebracht. Ich: Ja, zum Beispiel den Alkohol, der die Tschuktschen fast ausgerottet hat, weil sie ihn nicht vertragen. Maxim: Und was haben die Amerikaner mit den Indianern gemacht, wo sind die eigentlich hin? Und was war mit den europäischen Kolonien? Halb Afrika habt ihr versklavt und ausgebeutet. Ich: Die Russen achten nationale Besonderheiten? Was für ein Gemetzel war das in Tschetschenien? Maxim: Klar muss man Separatismus bekämpfen, sonst fällt das Land zusammen wie ein Kartenhaus, einer fängt an und will aussteigen, dann ziehen andere nach.
Nach einer Weile wechseln wir das Thema. Klar, dass Obama Assad bekämpft, meinte ich, ein schlimmer Diktator, der muss weg. Was suchen jetzt die Russen auch noch da unten? Assad ist der legitime Präsident, und er hat Putin um Unterstützung gebeten, meinte Maxim. Wie kann man nur einen Diktator unterstützen, sagte ich. Maxim: Assad hat Stabilität in der Region gewährleistet, und was ist jetzt da los? Krieg und Elend! Flüchtlinge überrennen Europa! Das ist das Ergebnis der amerikanischen Nahostpolitik! Ich (zugegeben, leicht ironisch): Amerika bringt Freiheit und Demokratie. Hussein und Ghaddafi waren schlimme Tyrannen. Maxim: Amerika bringt Krieg und Unordnung und vergiftet die ganze Welt mit seinen Un-Werten.
Damit waren wir beim nächsten Thema. Welche Werte sollen denn das sein, die Putin gegen Amerika verteidigt, fragte ich. In Russland fehlt es an ein paar Werten: Toleranz gegenüber Minderheiten, Gleichberechtigung... So ein Schwachsinn, rief Maxim, Homosexuelle koennen doch bei uns treiben, was sie wollen! Ich: Aber nicht heiraten. Maxim: Warum zum Teufel müssen sie denn heiraten? Euch ist irgendwie der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen, das Gefühl dafuer, was normal ist! Ihr lasst euch von euren Minderheiten terrorisieren! Jede Abnormalität wird staatlich auch noch gefördert! Ich: Homosexuell sein ist ein Menschenrecht. Maxim: Ihr kleidet eure westlichen Ideale als “Menschenrechte” und wollt mit eurem Amerikanismus den ganzen Globus vergiften. Schau doch, was fuer ein Müll in amerikanischen Filmen gezeigt wird! Ich: Aha, und das russische Fernsehen ist besser? Maxim: Bei uns sitzt niemand haschischrauchend in der Öffentlichkeit wie bei euren Holländern! Ich weiß nicht mehr genau, was ich an dieser Stelle antwortete, weil ich plötzlich wahnsinnige Kopfschmerzen bekam. Ich weiß nur noch, dass Maxim etwas sagte von Werten wie Familie und Liebe zur Heimat, zu denen in Russland die Kinder erzogen werden, wahrend es im Westen überhaupt keine Leitwerte gibt und jeder dekadente Blödsinn zugelassen ist unter der Parole “Freiheit”---dann konnte ich nicht mehr zuhören und bat um eine Diskussionspause.
Aber mein Gesprächspartner war jetzt erst richtig in Fahrt. “Du hast in Deinem Blog über Perm-36 geschrieben”, rief Maxim, auf meine Anmerkungen über das geschlossene Lager-Museum anspielend, “was ist denn mit Perm-36? Es wurde geschlossen, na und? Weißt Du überhaupt, was dort getrieben wurde? Geschichtsverfälschung, Exponate von Dingen, die es dort in Wirklichkeit nie gab.” “Ihr seid nicht willens, die Stalin-Vergangenheit ordentlich aufzuarbeiten,” warf ich müde ein, “eine Postdamer Bekannte schreibt in ihrer Doktorarbeit darüber, dass...” Aber für meine unsicher vorgebrachten Argumente war kein Raum mehr. “Irgendwelche Rockgruppen haben dort sinnlose Konzerte veranstaltet und der Jugend mit ihrer Dekadenz das Hirn verkleistert. In Moskau gibt es im Zentrum ein GULAG-Museum, wusstest du das? Wir brauchen eure westliche Belehrung nicht, wie wir mit unserer Vergangenheit umzugehen haben, sag das deiner Potsdamer Bekannten.” Ich war ausserstande, weiter zu folgen und sehnte mich plötzlich nach meinem Cello. Maxim war nicht zu bremsen. “Mein Bekannter aus dem Baltikum hat erzählt, bei ihnen wird nicht die Frage diskutiert, ob Russland sie angreift, sondern wann das geschieht, in einem Monat oder einem Jahr. Seid ihr völlig verblödet bei euch im Westen?” “Ich bin nicht der Westen”, erwiderte ich trotzig, “und jetzt will ich reingehen, mir ist kalt.”
Jahrelang vom Rauschen deutscher Medien umgeben, habe ich gelernt, dass die Revolution auf dem Maidan der Wille des ukrainischen Volkes war, die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine dagegen das Ergebnis russischer gewaltsamer Einmischung. Demokratie und Freiheit sind auf dem Vormarsch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion: “Rosen-Revolution” in Georgien 2003, “Tulpen-Revolution” in Kirgisien 2005, Euromaidan 2014... Höre ich eine Weile russisches Radio oder lese Gabriele Krone-Schmalz (“Russland verstehen”) oder Peter Scholl-Latour (“Russland im Zangengriff”), erfahre ich: es ist amerikanische Taktik, Revolutionen anzuheizen, um sich Länder wirtschaftlich und militärisch gefügig zu machen. Volkswille ist dagegen die Angliederung der Krim an Russland und die Gründung der Donezker und Lugansker Volksrepubliken in der Ostukraine. Was ist die Wahrheit? Gibt es sie überhaupt? Wer erzählt sie mir?
Am Abend nach diesem Gespräch konnte ich lange nicht einschlafen. Irgendwie bringt mich dieser endlose Austausch von medial gespeisten Argumenten nicht weiter, kam es mir in den Sinn, man müsste in alle diese Laender selbst fahren und mit den Leuten reden. In der Zeitung und im Radio finde ich die Lösung nicht und auch nicht in emotionalen Diskussionen mit russischen (oder deutschen) Freunden. Hinwegdösend rief ich mir die tollen Bilder meines letzten Fluges über Sibirien in den Sinn und untermalte sie gedanklich mit den ersten Takten von Schostakowitschs Leningrader Sinfonie, dann war dieser Abend endlich zuende.
T-Shirts mit Pro-Putin-Aufdrucken in einem Automaten im Moskauer Flughafen Domodedovo