Samstag, 31. Oktober 2015

Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehn

Gestern und vorgestern hatte ich keine Zeit zum Mittagessen. Nach dem Ende meines Unterrichts um ein Uhr kamen ununterbrochen Studenten in mein Büro, um sich von mir ihre Bewerbungsunterlagen durchsehen zu lassen. Am Montag endet die Frist für das Abschicken der Bewerbung für den Besuch eines zweiwöchigen Sommerkurses an einer deutschen Uni im nächsten Jahr. Die Studenten müssen die Papiere nach Moskau schicken, wo ausgewählt wird. Und natürlich möchte ich, dass möglichst viele Studenten aus Ulan-Ude dabei sind.
Also kaufte ich mir im Foyer des Institutes nur ein paar süße Gebäckstücke, die ich notgedrungen und ganz russisch-untypisch nebenbei kaute, während ich mir Lebensläufe und Motivationsschreiben zeigen ließ. „supermegastar@mail.ru“, Sie sollten sich für offizielle Anliegen eine andere Mailadresse zulegen. Ein charmantes Foto mit halbnacktem Oberkörper, sieht gut aus, aber geht es auch etwas neutraler? Ich möchte gern den Sommerkurs an der Uni Leipzig machen, weil auch Angela Merkel dort studiert hat – das klingt gut, etwas Originalität schadet nicht. Ich habe mich für Berlin entscheiden um damit die Erfahrung zu sammeln bekommen hatte große Aufdrang in Geschichte zu machen – das versteht kein Mensch, den Satz bitte neu schreiben. Ich möchte die Sommerschule SansSouci 2016 in Potsdam besuchen, denn ich interessiere mich für preußische Geschichte und finde die Nähe zur deutschen Hauptstadt sehr attraktiv – genau die gleiche Formulierung habe ich heute schon einmal gelesen, könnten Sie sich bitte etwas Eigenes ausdenken? Das könnte auffallen. In Deutschland ist es üblich, rechts und links nicht nur ein Drittelzentimeter Rand zu lassen, sondern zwei oder drei Zentimeter, bitte neu formatieren. Und auf dem Foto sehen Sie aus wie soeben verhaftet, ein bisschen lächeln könnten Sie schon. Ob es noch Fehler in Ihrem Motivationsschreiben gibt? Ja, gibt es, aber wenn Sie die nicht selber finden, dann lassen wir sie stehen – wenn der Text zu perfekt ist, sieht man sofort, dass nicht Sie ihn geschrieben haben. 

Und so weiter – drei Stunden lang.

Die Studentinnen kommen selten einzeln, sondern meist in Kleingruppen von zwei bis vier Personen. Man kann deutlich spüren, wie sie im Kollektiv denken und handeln. Bei vielen irritiert mich ihre unterwürfige Bravheit, ihr fast eingeschüchtertes Auftreten, ganz anders als deutsche Studierende. Ich bin eine Autorität, und Autoritäten gegenüber verhält man sich so, „hierarchisches Denken“ nennt man das. Im Unterricht nervt mich mitunter die daraus resultierende Passivität. Die Damen tuscheln sich unglaublich leise und schnell untereinander etwas zu, aber jeden lauten deutschen Satz sollte ich ihnen förmlich aus der Nase ziehen. Es fehlt an Selbständigkeit und Selbstvertrauen, und weil niemand ihnen Selbständigkeit zutraut und man sie behandelt wie Kinder, werden sie auch nicht selbständig. Ein Aufenthalt an einer deutschen Uni könnte eine heilsame Schocktherapie sein. Sich selbst zurechtfinden müssen, die richtigen Ansprechpartner suchen, den Mund aufmachen, nicht darauf warten, dass einem jemand hinterherrennt – wer das durchsteht, kommt (hoffentlich) als anderer Mensch zurück.
Etwas weiter sind da schon meine Masterstudenten, mit denen ich im Kurs deutsch-russische Kulturunterschiede und Stereotypen der gegenseitigen Wahrnehmung bespreche. Was hat – aus Sicht der Deutschen – die russische Kultur geprägt? Zum einen der Einfluss Asiens mit dem daraus resultierenden Hang zum Totalitarismus, der Abwesenheit demokratischer Traditionen, der Verehrung von Autoritäten, der großen Geduld. Zum anderen die gigantische Größe und die Ressourcen des Landes und daraus folgend der nachlässige Umgang mit Energie (Regulierung der Zimmertemperatur durch Öffnen des Fensters) und – ein interessanter Zusammenhang – der sich daraus ergebenden Gastfreundschaft: wenn Besuch kommt, dann ist er in vielen Fällen weit gereist, durchfroren und ausgehungert, also muss man sich gut um ihn kümmern. Und – nicht zuletzt – die Prägung durch die russisch-orthodoxe Kirche: Unterwürfigkeit unter das Schicksal, Erdulden von Ungerechtigkeiten, Zweitrangigkeit materieller Werte. Während im Westen die „protestantische Arbeitsmoral“ das Anpacken im Diesseits postuliert, ist in der russischen Tradition Arbeit weniger ein „Wert an sich“: letztlich ist ohnehin alles vergänglich, auf den Seelenzustand kommt es an. Viele weitere spannende Punkte wären zu besprechen – die Gefühlsbetontheit, die Neigung zu Extremen (angespanntes Arbeiten vs. ausgiebige Pausen, passives Erdulden vs. emotionales Explodieren), das Zusammenfließen von persönlicher und beruflicher Sphäre: für Russen ist es merkwürdig, dass „sachlich sein“ (wie übersetzt man das eigentlich?), die Trennung von Kollegium und Freundeskreis in Deutschland eine Tugend ist. Wie kann eine Sache wichtiger sein als ein Mensch? Kollegen sind oft Freunde und umgekehrt, wichtig ist nicht Expertentum, sondern Loyalität und Vertrauen.
Der Lehrstuhl, an dem ich arbeite, heißt „Lehrstuhl für deutsche und französische Sprache“. Die Studenten, die Französisch studieren, sind nicht zu beneiden: ihr Land ist noch weiter weg als Deutschland, dorthin zu kommen ist noch teurer, und es gibt viel weniger Kontakte und Austauschprogramme mit Frankreich als mit Deutschland. Französisch-Muttersprachler tauchen nur selten hier auf. Als ich vor einer Weile eine französische Couchsurferin ans Institut mitbrachte, war das ein großes Ereignis.

Anfang der Woche habe ich mir in einem Musikgeschäft unweit des Opernhauses eine Stimmgabel gekauft, das einzige vorhandene Modell made in Germany. Am Dienstag kam die Stimmgabel erstmalig zum Einsatz bei der ersten Probe des Deutschen Chores, den ich am Institut gegründet habe und mit wöchentlichen Proben leiten möchte.
Ich bin kein Chorprofi, aber ich kann einen Takt schlagen, Einsätze geben und sauber singen, das genügt. Wir sangen im Kanon „Heut kommt der Hans nachhaus“, „Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehen“ und „Hejo, spann den Wagen an“, den 15 Studenten (und zwei Lehrerinnen) hat es wohl genauso viel Spaß gemacht wie mir und ich hoffe, dass nächste Woche zur zweiten Probe alle wiederkommen. Das Projekt „Chor“ liegt mir besonders am Herzen. Ein klein wenig verwirklicht sich für mich auf diese Weise mein Jugendtraum, Dirigent zu werden.