Gestern und vorgestern hatte ich
keine Zeit zum Mittagessen. Nach dem Ende meines Unterrichts um ein Uhr kamen
ununterbrochen Studenten in mein Büro, um sich von mir ihre
Bewerbungsunterlagen durchsehen zu lassen. Am Montag endet die Frist für das
Abschicken der Bewerbung für den Besuch eines zweiwöchigen Sommerkurses an
einer deutschen Uni im nächsten Jahr. Die Studenten müssen die Papiere nach
Moskau schicken, wo ausgewählt wird. Und natürlich möchte ich, dass möglichst
viele Studenten aus Ulan-Ude dabei sind.
Also kaufte ich mir im Foyer des
Institutes nur ein paar süße Gebäckstücke, die ich notgedrungen und ganz
russisch-untypisch nebenbei kaute,
während ich mir Lebensläufe und Motivationsschreiben zeigen ließ.
„supermegastar@mail.ru“, Sie sollten sich für offizielle Anliegen eine andere
Mailadresse zulegen. Ein charmantes Foto mit halbnacktem Oberkörper, sieht gut
aus, aber geht es auch etwas neutraler? Ich möchte gern den Sommerkurs an der
Uni Leipzig machen, weil auch Angela Merkel dort studiert hat – das klingt gut,
etwas Originalität schadet nicht. Ich habe mich für Berlin entscheiden um damit
die Erfahrung zu sammeln bekommen hatte große Aufdrang in Geschichte zu machen
– das versteht kein Mensch, den Satz bitte neu schreiben. Ich möchte die
Sommerschule SansSouci 2016 in Potsdam besuchen, denn ich interessiere mich für
preußische Geschichte und finde die Nähe zur deutschen Hauptstadt sehr
attraktiv – genau die gleiche Formulierung habe ich heute schon einmal gelesen,
könnten Sie sich bitte etwas Eigenes ausdenken? Das könnte auffallen. In
Deutschland ist es üblich, rechts und links nicht nur ein Drittelzentimeter
Rand zu lassen, sondern zwei oder drei Zentimeter, bitte neu formatieren. Und
auf dem Foto sehen Sie aus wie soeben verhaftet, ein bisschen lächeln könnten
Sie schon. Ob es noch Fehler in Ihrem Motivationsschreiben gibt? Ja, gibt es,
aber wenn Sie die nicht selber finden, dann lassen wir sie stehen – wenn der
Text zu perfekt ist, sieht man sofort, dass nicht Sie ihn geschrieben haben.
Und so weiter – drei Stunden
lang.
Die Studentinnen kommen selten
einzeln, sondern meist in Kleingruppen von zwei bis vier Personen. Man kann
deutlich spüren, wie sie im Kollektiv denken und handeln. Bei vielen irritiert
mich ihre unterwürfige Bravheit, ihr fast eingeschüchtertes Auftreten, ganz
anders als deutsche Studierende. Ich bin eine Autorität, und Autoritäten
gegenüber verhält man sich so, „hierarchisches Denken“ nennt man das. Im
Unterricht nervt mich mitunter die daraus resultierende Passivität. Die Damen
tuscheln sich unglaublich leise und schnell untereinander etwas zu, aber jeden
lauten deutschen Satz sollte ich ihnen förmlich aus der Nase ziehen. Es fehlt
an Selbständigkeit und Selbstvertrauen, und weil niemand ihnen Selbständigkeit
zutraut und man sie behandelt wie Kinder, werden sie auch nicht selbständig.
Ein Aufenthalt an einer deutschen Uni könnte eine heilsame Schocktherapie sein.
Sich selbst zurechtfinden müssen, die richtigen Ansprechpartner suchen, den
Mund aufmachen, nicht darauf warten, dass einem jemand hinterherrennt – wer das
durchsteht, kommt (hoffentlich) als anderer Mensch zurück.
Etwas weiter sind da schon meine
Masterstudenten, mit denen ich im Kurs deutsch-russische Kulturunterschiede und
Stereotypen der gegenseitigen Wahrnehmung bespreche. Was hat – aus Sicht der
Deutschen – die russische Kultur geprägt? Zum einen der Einfluss Asiens mit dem
daraus resultierenden Hang zum Totalitarismus, der Abwesenheit demokratischer
Traditionen, der Verehrung von Autoritäten, der großen Geduld. Zum anderen die
gigantische Größe und die Ressourcen des Landes und daraus folgend der
nachlässige Umgang mit Energie (Regulierung der Zimmertemperatur durch Öffnen
des Fensters) und – ein interessanter Zusammenhang – der sich daraus ergebenden
Gastfreundschaft: wenn Besuch kommt, dann ist er in vielen Fällen weit gereist,
durchfroren und ausgehungert, also muss man sich gut um ihn kümmern. Und –
nicht zuletzt – die Prägung durch die russisch-orthodoxe Kirche:
Unterwürfigkeit unter das Schicksal, Erdulden von Ungerechtigkeiten,
Zweitrangigkeit materieller Werte. Während im Westen die „protestantische
Arbeitsmoral“ das Anpacken im Diesseits postuliert, ist in der russischen
Tradition Arbeit weniger ein „Wert an sich“: letztlich ist ohnehin alles
vergänglich, auf den Seelenzustand kommt es an. Viele weitere spannende Punkte
wären zu besprechen – die Gefühlsbetontheit, die Neigung zu Extremen
(angespanntes Arbeiten vs. ausgiebige Pausen, passives Erdulden vs. emotionales
Explodieren), das Zusammenfließen von persönlicher und beruflicher Sphäre: für
Russen ist es merkwürdig, dass „sachlich sein“ (wie übersetzt man das
eigentlich?), die Trennung von Kollegium und Freundeskreis in Deutschland eine
Tugend ist. Wie kann eine Sache wichtiger sein als ein Mensch? Kollegen sind
oft Freunde und umgekehrt, wichtig ist nicht Expertentum, sondern Loyalität und
Vertrauen.
Der Lehrstuhl, an dem ich
arbeite, heißt „Lehrstuhl für deutsche und französische Sprache“. Die Studenten,
die Französisch studieren, sind nicht zu beneiden: ihr Land ist noch weiter weg
als Deutschland, dorthin zu kommen ist noch teurer, und es gibt viel weniger
Kontakte und Austauschprogramme mit Frankreich als mit Deutschland.
Französisch-Muttersprachler tauchen nur selten hier auf. Als ich vor einer
Weile eine französische Couchsurferin ans Institut mitbrachte, war das ein
großes Ereignis.
Anfang der Woche habe ich mir in
einem Musikgeschäft unweit des Opernhauses eine Stimmgabel gekauft, das einzige
vorhandene Modell made in Germany. Am
Dienstag kam die Stimmgabel erstmalig zum Einsatz bei der ersten Probe des
Deutschen Chores, den ich am Institut gegründet habe und mit wöchentlichen
Proben leiten möchte.
Ich bin kein Chorprofi, aber ich
kann einen Takt schlagen, Einsätze geben und sauber singen, das genügt. Wir
sangen im Kanon „Heut kommt der Hans nachhaus“, „Feinsliebchen, du sollst mir nicht
barfuß gehen“ und „Hejo, spann den Wagen an“, den 15 Studenten (und zwei Lehrerinnen) hat es wohl
genauso viel Spaß gemacht wie mir und ich hoffe, dass nächste Woche zur zweiten
Probe alle wiederkommen. Das Projekt „Chor“ liegt mir besonders am Herzen. Ein
klein wenig verwirklicht sich für mich auf diese Weise mein Jugendtraum,
Dirigent zu werden.