Freitag, 23. Oktober 2015

Alltag, Amerikaner und Adolf

7 Uhr – Ich verlasse meine Wohnung und begebe mich zum Institut. Es ist angenehm frisch draußen, keineswegs so kalt, wie es für die Jahreszeit hier üblich ist – so erzählen es mir meine Kollegen am Lehrstuhl. Beschwingten Schrittes lege ich eine knappe Viertelstunde durch die sich langsam lichtende Dämmerung zurück. Im Zentrum, kurz vor dem riesenhaften Leninkopf, komme ich an der „BaikalBank“ vorbei und lese ein neues Plakat, mit dem die Bank um Kunden wirbt: „Die Kraft westlicher Technologien, der Schutz des russischen Helden, die Weisheit des östlichen Volkes“ – aufschlussreich, welche Werte es sind, auf die gebaut wird. Ich bin der erste, der das Institutsgebäude betritt. Der Wachmann ist soeben gerade aufgestanden und kocht sich einen Tee. Ich lasse mir den Schlüssel für meinen Unterrichtsraum geben und steige in den zweiten Stock des vorrevolutionären, ehrwürdigen alten Gebäudes.
8 Uhr – Von 9 Studenten, die auf der Liste stehen, sind zum Unterrichtsbeginn nur Sascha und Katja anwesend. Fünf Minuten später kommt Svetlana hinzu. Ich beginne den Unterricht, ohne enttäuscht zu sein: Gearbeitet wird mit den Leuten, die da sind. Die russische Wirklichkeit hält tausend mir nicht bekannte Gründe bereit, warum ein Student nicht zum Kurs erscheinen kann. Um 8:20 Uhr kommen Natalja und Dascha dazu. Der Kurs macht mir Spaß, die Studentinnen stellen interessierte Fragen. Ich gebe ihnen den Ausdruck eines Bahnfahrplanes von Leipzig nach München und lasse sie herausfinden: Wie oft muss man umsteigen? Wie lange dauert die Fahrt? Sie sehen so etwas zu ersten Mal, es geht mühsam voran.
9:40 Uhr – Zehn Minuten Pause zwischen zwei Doppelstunden sind viel zu wenig, wer sich nur diese Unterrichtszeiten ausgedacht hat? Zu Beginn des nächsten Kurses sitzen auch wieder nur zwei von acht Studentinnen da. Um 9:50 Uhr fange ich mit drei Leuten an. Ksenia, Waleria und die Chinesin Dulugma haben immerhin tatsächlich die Hausaufgabe gemacht, nämlich Stefan Zweigs Novelle „Die unsichtbare Sammlung“ gelesen, in der von mir ausgewählten vereinfachten Fassung. Ich stelle ein paar Fragen dazu, lasse sie ein Stück aus dem Deutschen ins Russische übersetzen. In zwei Wochen sehen wir uns wieder, bis dahin soll die nächste Erzählung gelesen werden.
12 Uhr – Diesmal esse ich nicht wie sonst in der Mensa oder dem Mensa-Café „Masleniza“, sondern zuhause (Buchweizen und Ei), spiele eine Runde Cello und überlege mir, was ich heute Abend mit meinen Masterstudenten mache, mit denen ich zwei Doppelstunden habe. Ich entscheide mich dafür, am Anfang der ersten Doppelstunde kurz das Thema „Flüchtlinge in Deutschland“ anzusprechen.
16:40 Uhr – Die Masterstudentinnen sind überwiegend anwesend, sie sprechen gut Deutsch und man kann sich über interessante Themen mit ihnen unterhalten. Auf das Thema „Flüchtlinge“ springen sie sofort an, wir sprechen über das Thema nicht fünf Minuten, sondern fast neunzig. An der Tafel entwerfe ich eine Tabelle: Soll Europa seine Grenzen öffnen, pro und contra. Ich sammle die Argumente der Studentinnen. „Kulturelle Vielfalt bereichert“, steht auf der Pro-Seite. „Aber die reinrassigen Deutschen sterben doch aus“, soll ich auf die Contra-Seite schreiben. Ich erkläre, dass man von „reinen Deutschen“ eigentlich nicht spricht. Ihr Burjaten mischt euch doch auch mit den Russen, was ist daran so schlimm? „Kulturelle Eigenheiten Deutschlands gehen verloren“, das klingt schon akzeptabler, ich schreibe es an. Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel, Kriminalität, Toleranz, historische Schuld, ich staune über die Diskussionsfreudigkeit der Damen, die Stunde ist schnell herum.
18:00 Uhr – Geplant war das Thema „Dialekte in Deutschland“: Ich wollte Hörbeispiele aus verschiedenen Regionen Deutschlands vorspielen, die Studenten überlegen lassen, woher die Sprecher kommen und Eigenheiten der Dialekte besprechen: viertel vor Sieben oder dreiviertel Sieben, Grüß Gott oder Moin Moin, Semmel, Schrippe oder Brötchen. Leider funktioniert mein Player auf dem Notebook nicht. Deshalb verschiebe ich das Thema auf nächste Woche, greife auf den „Reservestoff“ zurück und diktiere bestimmte, typische deutsche Phrasen, die sich nicht wörtlich übersetzen lassen. Wie umschreibt man auf Russisch „sich einer Herausforderung stellen“, „eigene Vorstellungen hinterfragen“, „ein nachhaltiges Netzwerk aufbauen“, „sich fortbilden“, „studienbegleitend“, „Schlüsselqualifikation“, „Kultur vermitteln“? Es fängt ja schon damit an, dass es im Russischen eigentlich kein wörtliches Äquivalent gibt zu „Termin“ und „sich bewerben“. Wir vergleichen die Übersetzungsvorschläge der Studentinnen mit den Sätzen, die in einer zweisprachigen Broschüre des Goethe-Instituts abgedruckt sind und in denen genau solche Formulierungen vorkommen. – Am Ende des Kurses laden mich die Damen für nächste Woche zum Bowling ein, ich freue mich und sage zu.
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An meinem "Institut für Philologie und Massenkommunikation" bin ich nicht der einzige Ausländer. Eine US-Amerikanerin arbeitet auch noch bei uns. Sie heißt Carloyn Kremers, kommt aus Alaska und unterrichtet Literatur. Am letzten Wochenende war ich bei ihr zu Gast: eine interessante, kultivierte, sensible ältere Dame, mit der gemeinsam ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Alaska-Karte aus der Nähe studierte, wo sie mir ihren Wohnort Fairbanks zeigte und das Inuit-Dorf, in dem sie lebte und über das sie ein Buch schrieb. Ihr nächstes Buch plant sie über Burjatien. Wir gingen eine Runde in der frischen Abendluft spazieren bis zum Gedenkstein an die Gründung der russischen Kosakenfestung 1666, aus der später die Stadt Ulan-Ude erwuchs. Wenn Carolyn über die anderen Staaten der USA spricht, dann sagt sie, wie es in Alaska üblich ist, the lower fortyeight, „die unteren 48“.
Noch anderen Amerikanern bin ich kürzlich begegnet: zwei Mormonen, höfliche, angenehme junge Leute, wie üblich schick gekleidet mit Krawatte, schwarzem Anzug und dem Buch Mormon unter dem Arm. Der eine von beiden konnte richtig gut Russisch, wie ich es noch nie von einem Ami gehört hatte. Sie luden mich zur Versammlung ihrer Gemeinde ein. Es ist bestimmt ein schwieriges Arbeitsumfeld hier für sie, die russisch-orthodoxe Kirche betreibt eine sehr unversöhnliche Politik in Glaubensfragen und klassifiziert fast alle anderen christlichen Richtungen kompromisslos als gefährliche Sekten.
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Heute war Maxim bei mir zum Tee zu Gast. Genauso, wie ich die Melancholie und Wärme russischer Volkslieder mag, „Abende um Moskau“ und „Schwarze Augen“, begeistert sich Maxim für deutsche Märsche. Er spielte mir auf seinem Handy Schnulzen von Max Rabe und Heino vor, dann „Sieg Heil, Viktoria“ und „Es schlägt Generalmarsch die Trommel, vorwärts mit unserem Rommel, wir sind das deutsche Afrikakorps…“ Mir wurde etwas mulmig zumute. Dann plötzlich ein Stück aus einer Wagner-Oper: „Das hier, Thomas, war die Lieblingsmelodie von Adolf Hitler!“ Ich reagierte etwas verstört. „Naja, ich verehre ihn natürlich nicht, aber es ist doch interessant, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen!“ Finde ich auch, trotzdem bin ich bisher noch nicht auf die Idee gekommen, mir Nazilieder anzuhören. Jeder hat so seine eigenen Zugänge zur Geschichte.

Bankwerbung: "Die Kraft westlicher Technologien, der Schutz des russischen Helden, die Weisheit des östlichen Volkes"
Gedenkstein an die Stadtgründung 1666
 Opernsänger und Freund deutscher Märsche: Maxim zu Gast bei mir zuhause