Russland ist für mich nicht nur der Inbegriff
großartiger Literatur und Musik, das Land von Anna Karenina und der 11.
Sinfonie Schostakowitschs, sondern auch ein Ort fantastischer Landschaften, von
Kaukasus, Altai- und Sajan-Gebirge. Auf dem Flug von Ulan-Ude nach Moskau,
wohin mich meine zweite (und für dieses Jahr letzte) Dienstreise führte, hatte
ich Gelegenheit, Sibirien einige Stunden lang von oben zu betrachten.
Der Flughafen von Ulan-Ude ist nicht groß, am
Tag meiner Reise fanden fünf Abfluege statt. Auf dem bewachten Parkplatz vor
dem Gebäude gingen seelenruhig drei Kuehe spazieren. Für meine Moskauer Freunde
kaufte ich zwei geräucherte Omul-Fische, “das beste Souvenir vom Baikalsee”,
wie die Aufschrift auf dem Stand in der Abflughalle versprach. Mein Abflug war
am frühen Vormittag, das Wetter war glasklar und sonnig, die grün gestrichene
S7-Maschine auf der Rollbahn leuchtete in schöner Harmonie zu den braunen Hügeln
der Steppe dahinter. Ich hatte mir wie üblich einen Fensterplatz geben lassen
und erwartete mit Spannung den Start, mit dem Fotoapparat in der Hand in die
aufgehende Sonne blickend.
Als die Maschine nach Nordosten abdrehte,
breiteten sich unter mir wie eine Märchenlandschaft die sanft geschwungenen
Gebirgsrücken hinter Ulan-Ude aus, dunkelgruen-orange glänzende Taiga-Wälder und
schneebedeckte Bergkuppen. Wenig später ueberflogen wir die in der Morgensonne
leuchtende, spiegelglatte Flaeche des Baikals. Deutlich war der Ausfluss der
Angara zu erkennen, des einzigen Flusses, der vom Baikalsee abfließt. Am
anderen Ufer begann die Kette des Oestlichen Saian-Gebirges, an der wir in
einiger Entfernung noerdlich entlangflogen, ein hunderte Kilometer langer
Bergrücken, die meisten Gipfel weder benannt noch jemals von einem Menschen
bestiegen.
Mit einem Gefühl von Grossartigkeit und
Erhabenheit schaute ich abwechseln aus dem Fenster und auf meine geografische
Russlandkarte und versuchte, einige markante Stellen in der endlosen Weite
Sibiriens zu identifizieren, das sich in zunehmend nebliger werdendem Graugruen
unter mir verlor. Den in breiten Seen verlaufenden Jennisej bei Krasnojarsk
konnte ich erkennen, eine halbe Stunde später das sich mäandrierend dahinschlängelnde
Band des Ob. Dann verschwand die westsibirische Tiefebene unter einer zunehmend
dichter werdenden Wolkendecke, und ich vertiefte mich in die letzten Seiten von
Colin Thubrons Sibirien-Reisebericht.
Von hinten sprach mich ein junger Mann an, der
das deutschsprachige Buch gesehen hatte. Aus Deutschland? Und jetzt in
Ulan-Ude? Ich lud ihn ein, auf den freien Platz neben mir zu kommen. Michail,
Student des Fernmeldewesens, unterwegs nach Dublin zu einem Englischkurs. Warum
Irland und nicht England? Es ist viel leichter, dorthin ein Visum zu bekommen –
man schickt seinen Pass einfach ans Konsulat. Die Engländer verlangen persönliches
Erscheinen im Novosibirsker Visa-Zentrum mit Abgabe eines Fingerabdruckes.
Meine erste Reise ins Ausland, sagte Michail. Ich gratulierte ihm. Das würde
ich allen empfehlen, sagte ich: mal raus aus Burjatien, eine Weile westeuropäische
Luft schnuppern.
Der Flug dauerte insgesamt sechs Stunden – noch
nie hatte ich so lange in einem Flugzeug gesessen. Zwei Stunden vor Moskau
ueberflogen wir den Ural, von dessen Hügeln aber durch die Wolkendecke nichts
zu sehen war. Die Sonne unterdessen hatte sich nur ganz unwesentlich am Himmel
emporgeschoben – wir flogen geradlinig von ihr weg, und deshalb blieb die Zeit,
an der Sonne gemessen, fast stehen. Eine interessante Feststellung: wenn man
sich in Ost-West-Richtung bewegt, sind tausend Kilometer eine Flugstunde oder
ein Tag im Zug und eine Zeitzone. Der Zug ist eigentlich etwas schneller, aber
sonst trifft die Gleichung für Russland recht genau zu.
Nach der Landung in Domodedovo, einem der drei
gigantischen Moskauer Flughaefen, düste ich mit dem Aeroexpress-Zug in 45
Minuten ins Zentrum, wo mich meine Bekannte Mascha erwartete, der ich die Hälfte
meines Kofferinhaltes übergab: Maschas Mutter hatte mir in Ulan-Ude die
Wintergarderobe für ihre in Moskau wohnende Tochter mitgegeben.
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Tradition und Moderne: Kühe vor dem Flughafen in Ulan-Ude |
Nach dem Start: Hügellandschaft bei Ulan-Ude |
Erster Schnee auf dem Chamar-Daban-Gebirge |
Der Ausfluss der Angara aus dem Baikal, im Hintergrund das Sajan-Gebirge |