Mittwoch, 14. Oktober 2015

Sibirien von oben



Russland ist für mich nicht nur der Inbegriff großartiger Literatur und Musik, das Land von Anna Karenina und der 11. Sinfonie Schostakowitschs, sondern auch ein Ort fantastischer Landschaften, von Kaukasus, Altai- und Sajan-Gebirge. Auf dem Flug von Ulan-Ude nach Moskau, wohin mich meine zweite (und für dieses Jahr letzte) Dienstreise führte, hatte ich Gelegenheit, Sibirien einige Stunden lang von oben zu betrachten.
Der Flughafen von Ulan-Ude ist nicht groß, am Tag meiner Reise fanden fünf Abfluege statt. Auf dem bewachten Parkplatz vor dem Gebäude gingen seelenruhig drei Kuehe spazieren. Für meine Moskauer Freunde kaufte ich zwei geräucherte Omul-Fische, “das beste Souvenir vom Baikalsee”, wie die Aufschrift auf dem Stand in der Abflughalle versprach. Mein Abflug war am frühen Vormittag, das Wetter war glasklar und sonnig, die grün gestrichene S7-Maschine auf der Rollbahn leuchtete in schöner Harmonie zu den braunen Hügeln der Steppe dahinter. Ich hatte mir wie üblich einen Fensterplatz geben lassen und erwartete mit Spannung den Start, mit dem Fotoapparat in der Hand in die aufgehende Sonne blickend.
Als die Maschine nach Nordosten abdrehte, breiteten sich unter mir wie eine Märchenlandschaft die sanft geschwungenen Gebirgsrücken hinter Ulan-Ude aus, dunkelgruen-orange glänzende Taiga-Wälder und schneebedeckte Bergkuppen. Wenig später ueberflogen wir die in der Morgensonne leuchtende, spiegelglatte Flaeche des Baikals. Deutlich war der Ausfluss der Angara zu erkennen, des einzigen Flusses, der vom Baikalsee abfließt. Am anderen Ufer begann die Kette des Oestlichen Saian-Gebirges, an der wir in einiger Entfernung noerdlich entlangflogen, ein hunderte Kilometer langer Bergrücken, die meisten Gipfel weder benannt noch jemals von einem Menschen bestiegen.
Mit einem Gefühl von Grossartigkeit und Erhabenheit schaute ich abwechseln aus dem Fenster und auf meine geografische Russlandkarte und versuchte, einige markante Stellen in der endlosen Weite Sibiriens zu identifizieren, das sich in zunehmend nebliger werdendem Graugruen unter mir verlor. Den in breiten Seen verlaufenden Jennisej bei Krasnojarsk konnte ich erkennen, eine halbe Stunde später das sich mäandrierend dahinschlängelnde Band des Ob. Dann verschwand die westsibirische Tiefebene unter einer zunehmend dichter werdenden Wolkendecke, und ich vertiefte mich in die letzten Seiten von Colin Thubrons Sibirien-Reisebericht.
Von hinten sprach mich ein junger Mann an, der das deutschsprachige Buch gesehen hatte. Aus Deutschland? Und jetzt in Ulan-Ude? Ich lud ihn ein, auf den freien Platz neben mir zu kommen. Michail, Student des Fernmeldewesens, unterwegs nach Dublin zu einem Englischkurs. Warum Irland und nicht England? Es ist viel leichter, dorthin ein Visum zu bekommen – man schickt seinen Pass einfach ans Konsulat. Die Engländer verlangen persönliches Erscheinen im Novosibirsker Visa-Zentrum mit Abgabe eines Fingerabdruckes. Meine erste Reise ins Ausland, sagte Michail. Ich gratulierte ihm. Das würde ich allen empfehlen, sagte ich: mal raus aus Burjatien, eine Weile westeuropäische Luft schnuppern.
Der Flug dauerte insgesamt sechs Stunden – noch nie hatte ich so lange in einem Flugzeug gesessen. Zwei Stunden vor Moskau ueberflogen wir den Ural, von dessen Hügeln aber durch die Wolkendecke nichts zu sehen war. Die Sonne unterdessen hatte sich nur ganz unwesentlich am Himmel emporgeschoben – wir flogen geradlinig von ihr weg, und deshalb blieb die Zeit, an der Sonne gemessen, fast stehen. Eine interessante Feststellung: wenn man sich in Ost-West-Richtung bewegt, sind tausend Kilometer eine Flugstunde oder ein Tag im Zug und eine Zeitzone. Der Zug ist eigentlich etwas schneller, aber sonst trifft die Gleichung für Russland recht genau zu.
Nach der Landung in Domodedovo, einem der drei gigantischen Moskauer Flughaefen, düste ich mit dem Aeroexpress-Zug in 45 Minuten ins Zentrum, wo mich meine Bekannte Mascha erwartete, der ich die Hälfte meines Kofferinhaltes übergab: Maschas Mutter hatte mir in Ulan-Ude die Wintergarderobe für ihre in Moskau wohnende Tochter mitgegeben.
Tradition und Moderne: Kühe vor dem Flughafen in Ulan-Ude
Nach dem Start: Hügellandschaft bei Ulan-Ude
Erster Schnee auf dem Chamar-Daban-Gebirge
Der Ausfluss der Angara aus dem Baikal, im Hintergrund das Sajan-Gebirge