Mittwoch, 4. November 2015

Lenin und Buddha



Heute ist in Russland ein Feiertag, der „Tag der Einheit des Volkes“. Was wird eigentlich gefeiert? Viele Russen wissen es wohl selbst nicht genau. Nach dem Wegfall des 7. Novembers, des Jahrestages der Kommunistischen Revolution, musste ein neues Fest her, und so hat man ein lange zurückliegendes historisches Ereignis ausgegraben: die Vertreibung der Polen aus Moskau am 4. November des Jahres 1612.

Gestern war an unserem Institut „Tag der offenen Tür“: ungefähr 80 Schüler kamen, um sich die Räume von innen anzuschauen und für ein künftiges Studium hier begeistert zu werden. Ein Höhepunkt war natürlich die Begegnung mit den ausländischen Muttersprachlern: auf dem Programm standen Auftritte von Carolyn und von mir. Ihr kennt doch sicher deutsche Autos, fragte ich, und ein einstimmiges „Ja!“ scholl mir aus allen Kehlen entgegen. Leute, die solche tollen Autos bauen, sprechen auch eine tolle Sprache, und stellt euch vor, ihr lernt sie! Allgemeines Gelächter. Warum lohnt es sich sonst noch, Deutsch zu lernen? Deutsch ist, gemessen an der Anzahl der Muttersprachler, die verbreitetste Sprache in Europa, erzählte ich. Es ist toll, in Deutschland zu studieren und zu reisen – nicht nur in Burjatien gibt es schöne Natur. Wisst ihr, wie die Berge bei uns heißen, und die Meere im Norden? Und deutsche Literatur im Original lesen können, welch Genuss! Thomas Mann – ein Satz, eine Seite… Lachen und Grinsen im Publikum. Ich habe vor 10 Jahren angefangen, Russisch zu lernen, weil ich „Anna Karenina“ im Original verstehen wollte. Und die deutsche Aussprache: mehr oder weniger so, wie man schreibt, nicht so unklar wie Englisch oder Französisch. Wie spricht man das „o“ mit den lustigen zwei Punkten darüber aus? „jo---je---“, na, nicht ganz. Und wie heißt die Stadt „Gamburg“ eigentlich auf Deutsch? Hamburg, richtig. „H“ im Anlaut ist gar nicht so einfach für Russen. „Das Weinfass, das Frau Weber leerte, verheerte ihre Leberwerte“, alle mal nachsprechen! Zungenbrecher sind immer ein lustiger Zugang zur Sprache. Und erst das Donaudampfschifffahrtskapitänsgesellschaftsversammlungsprotokoll – so lange Wörter wie im Deutschen gibts sonst nirgends. - Der Erfolg der Veranstaltung wird sich im September an der Anzahl der neu eingeschriebenen Studenten zeigen.
Enttäuscht war ich, dass zur zweiten Probe des von mir mit viel Schwung gegründeten „Deutschen Chores“ nur 10 Leute kamen. Spaß und Energie in so einem Laienchor entstehen mit der Anzahl der Teilnehmer. Wir sangen trotzdem: „Und Ehr und Treu ist besser wie Geld“, heißt es im „Feinsliebchen“. Die – erfreulicherweise – mitsingende Deutschlehrerin Svetlana runzelte die Stirn. „Was zog er aus seiner Tasche fein, mein Herz, von Gold ein Ringelein!“ Svetlana sah wieder etwas unglücklich aus. Ich konnte sie verstehen und bat die Studenten, die alte deutsche Sprache des Textes zu berichtigen: „besser als Geld“ und „aus Gold ein Ringelein“. Svetlana atmete erleichtert auf. Es wäre doch schade, wenn ausgerechnet der deutsche Chor bei den Studenten Fehler festigt. Dann nahm ich das nächste Lied: „C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich schwach und krank, sei doch kein Muselmann, der das nicht lassen kann“, so der Originaltext des Kinderliedes. „Türkentrank“ und „Muselmann“, in Russland darf man so etwas singen, der Zwang zur politischen Korrektheit ist hier noch nicht angekommen, dachte ich – doch der wieder etwas verwunderte Blick von Svetlana hat bewirkt, dass ich zum nächsten Mal den Text in „schwarzer Trank“ ändern werde, wie man „Muselmann“ am geschicktesten ersetzt, weiß ich noch nicht.

Am Wochenende bei klarem, frischem Winterwetter unternahm ich einen Ausflug durch die Stadt mit dem Ring-Kleinbus. Genauso wie es in Moskau eine Ring-U-Bahn gibt, in die man sich einfach hineinsetzen und dann endlos im Kreis fahren kann, gibt es in Ulan-Ude eine koltsevaja marshrutka.
Als erstes stieg ich unterhalb der Stelle aus, wo Lenin von einer Anhöhe über die Stadt thront. Wladimir Iljitsch ist hier nicht nur in Gestalt eines gigantomanischen Kopfes vertreten, sondern auch in vollständiger Gestalt. Eine majestätische, breite Treppe führt vom „Platz der Ehre“ aus zu ihm empor, verfallen und mit abbröckelnden Stufen, unterwegs kommt man an Resten eines ehemaligen Springbrunnens vorbei. Hinter Lenin dann ein ruinöser Säulengang an einem ehemaligen Industriegebäude, ein toller Blick über die Stadt und die dahinter liegenden Berge. Ich muss gestehen, dass diese abbröckelnde Sowjet-Gigantomanie auf mich durchaus einen Reiz ausübt. Russland ist nahezu unendlich groß, und überall sieht man die Spuren großer Pläne, weit ausgreifender baulicher Anlagen, in eine bessere Zukunft abzielende Umgestaltungsversuche – doch irgendwie bleibt alles auf halbem Wege stecken, kaum etwas ist wirklich zu Ende ausgeführt oder wurde richtig ergriffen und durchgestaltet. Es gibt viel zu wenige Menschen, die dieses Land richtig prägen und kultivieren könnten: 50mal so groß wie Deutschland, und nicht einmal das Doppelte an Bevölkerung! Und so kommt es zu dieser einzigartigen russischen Mischung aus fantastischer unberührter Natur, verfallenden Dörfern, eng aneinandergedrängtem Wohnraum trotz endlosem Platz daneben, zugemüllten Stadträndern, großartig-repräsentativen Zentren und aus besseren Sowjetzeiten herübergrüßende morbide Industrieromantik.

Die zweite Station meines Ausfluges war ein Dazan, eine buddhistische religiöse Stätte, von denen es hier nicht wenige gibt. Das geschwungene Pagodendach leuchtet weit sichtbar hervor, und mit etwas Herzklopfen betrat ich zum ersten Mal den von zwei Löwen flankierten Eingang. Wie man sich in einem Dazan verhält, weiß ich nicht so genau – das Wichtigste ist wohl, im Uhrzeigersinn zu gehen und den heiligen Statuen nicht den Rücken zuzudrehen. Vom Band wird meditative Musik gespielt, vorn in der Mitte des Raumes thront ein dicker goldener Buddha, vor dem sich die Burjaten verneigen, die zusammengelegten Handflächen an Stirn, Mund und Brust vorbeiführend. An kleinen Tischen werden Geldstücke und Speisen dargebracht, und an den Seiten sitzen Mönche in orange-roten Gewändern. Im Vorbeigehen drehen die Leute an Gebetsrollen aller Größen, die auch im Gelände um den Tempel herum aufgestellt sind. Frauen in Hosen müssen sich am Eingang einen Rock umlegen. Während ich in der russisch-orthodoxen Kirche einen geheimnisvollen, etwas düsteren Ernst erlebe, erscheint mir die Stimmung im Dazan eher leicht, licht und schwebend.

Am Sonntag fand in den Räumen der kleinen Musikschule „Sila musyki“ (Kraft der Musik) zum dritten Mal der „Deutsche Abend“ statt, den ich zusammen mit der jungen Deutschlehrerin Nastja organisiere. Eingeladen sind alle, die Deutsch lernen und sich für Deutschland interessieren, vor allem soll es auch Nicht-Studenten ansprechen. Bisher kamen jedes Mal etwa 10 Leute. Wir spielten „Tabu“, es gab ein Geographie-Quiz mit einer stummen Deutschlandkarte und schauten deutsche Kurzfilme mit russischen Untertiteln. Es soll kein Unterricht sein und irgendwie „locker“, aber ein ganz unstrukturiertes „schön, dass ihr da seid, und jetzt sprechen wir mal alle Deutsch“ funktioniert auch nicht – ein gewisser Balanceakt also.
Die zu Lenin hinaufführende Allee
Mit generöser Geste thront er über der Stadt
Ein Dazan
Bei Maxim auf der Datsche - nach Abschluss der zweiten Entmüllungsaktion